Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XI

»Das muß auf jeden Fall mit größter Diplomatie angefangen werden,« sagte sich Ferdinand, während er mit dicken Stiefeln an einer Berglehne durch tauenden Schnee watete, und er lächelte befriedigt vor sich hin, denn er traute sich die notwendige Diplomatie zu, Frau Krümlich die Ankunft Melusinens annehmbar zu machen. Das ging natürlich nicht, daß er ihr einfach sagte, es würde ihn eine Dame besuchen. Wiederum lächelte Ferdinand, indem er an die Erfahrungen dachte, welche die Alte bei ihm in der Wohnung in Rolfsburg gelegentlich mit »Damen« gemacht, die in seine Häuslichkeit gedrungen waren und recht sehr gegen den Sinn der Wu-Wei alles Unterste zu oberst gekehrt hatten. Einmal war es so weit gekommen, daß Frau Krümlich davon ging, freilich ihre umgehende Rückkehr in Aussicht stellend, falls sie eine Gewisse – sie schrieb: eine Gewisse – nicht länger zu bedienen brauche. Das brauchte sie dann tatsächlich nicht mehr, und so war schnell wieder alles gut geworden. Wie aber sollte er ihr nun verständlich machen, daß es sich dieses Mal nicht »um eine Gewisse« handelte? Er hatte es bereits im Herbst verstanden, als er die Notiz über Melusine von Kaden in der Zeitung fand, das Mitleid der Alten zu erregen und ihr gesagt, daß er die Geigerin früher gekannt habe. Daraufhin war sie sofort selbst mit dem Vorschlag gekommen, Melusinen Lebensmittel in das ferne hungernde Berlin zu senden, was trotz den Zollschwierigkeiten bisweilen gelang.

Als er nun an seinem behaglichen Teetisch saß und sich Honig auf eine Buttersemmel strich, sagte er so nebenher zu der Alten:

»Frau Krümlich, Sie erinnern sich doch noch an diese arme Frau in Berlin, der wir damals Lebensmittel geschickt haben?«

Er sagte »Frau« und nicht »Dame«, damit Frau Krümlich gleich wußte, daß es sich dieses Mal nicht um eine Gewisse handelte, und ergötzte sich im Stillen an der erneuten Beobachtung, wie die Worte für Frauen und Liebe, neuerdings auch das Wort Dame, im Gebrauch immer schlechter werden. Frau Krümlich erinnerte sich wohl und zeigte sich sehr nach weiteren Mitteilungen begierig. Nun, diese Frau, brachte Ferdinand hastig, fast atemlos vor, damit er es schnell hinter sich habe, könnte in Berlin nicht genesen, brauchte unbedingt Landluft und nahrhafte Kost; so blieb wohl nichts anderes übrig, als sie in Sensburg aufzunehmen, und hier hatte er auch schon das Telegramm, das ihre Ankunft meldete. Die große Sorge war nur, daß Frau Krümlich nicht überlastet würde. Natürlich mußte sie sich gleich nach einem Mädchen umsehen, das man als Jungfer einstellen konnte.

Die Alte erstarrte vor Staunen, als sie mit dieser Fülle von Neuigkeiten auf einen Schlag überschüttet wurde und war nicht im Stand, das geringste Zeichen zu geben, wie sie diese Mitteilungen eigentlich aufnahm. Ferdinand glaubte einen Augenblick, ihr leerer auf ihn gerichteter Blick frage wie so oft, ob er etwa den Verstand verloren habe, und schon hielt er bänglich alles für mißlungen. Drei Mal hinter einander erschien das Nervenzucken um seine Lippen. Da brach Frau Betty plötzlich das Schweigen. Sie kenne eine namens Cilli, die beim Bezirkshauptmann, dem Baron Clessel, gedient habe, und die Frau Baronin sei recht zufrieden mit ihr gewesen.

An einem lauen, windigen Apriltag, während das Land sanft ergrünte, ließ Ferdinand die zwei zierlichen Braunen einspannen, die der Schandlhuber kürzlich aus dem Pferdespital gekauft und schon wieder ganz gut auf die Beine gebracht hatte. Ferdinand kutschierte selbst nach dem Bahnhof, einen Knecht vom Schandlhuber neben sich, und als er heimkehrte, saß Melusine an seiner Seite, etwas blaß und angegriffen, aber sonst unverändert, während ein großer Koffer sich vor beider Knien erhob.

Mit einem Blick in Ferdinands große, verträumte Augen schien sie sich überzeugt zu haben, daß er so war, wie sie sich ihn vorgestellt hatte, und so gab sie sich rückhaltlos ihrer freudigen Rührung hin, endlich wieder einmal ein Heim betreten zu dürfen. Als sie vor dem Herrenhaus ankamen und Frau Betty mit frischer Halskrause neben der neu eingestellten Jungfer, einem heiteren willigen Mädchen, vor dem Tore stand, da war ihr nicht leicht, die Tränen zu unterdrücken. Das erinnerte zu sehr an die häufige Heimkehr aus der Welt ihrer Triumphe in die Stille des kurischen Gutes, wo unter dem Portal die alten, noch rüstigen Eltern die Tochter, seit langem ihren höchsten Stolz, zu empfangen pflegten. Die Begrüßung und das Aussteigen lenkte Melusinens Gedanken indessen ab, und, während sie in die kleine Halle trat, fesselte sie der Flug eines Schwalbenpaares, das alljährlich sein Nest über einem Vorsprung am Hallengewölbe zu beziehen pflegte und mit ihr durch die offene Haustür hereingekommen war.

In dem angenehm durchwärmten Fremdenzimmer im ersten Stock begrüßte sie ein breites Renaissancebett mit einem von vier Säulen getragenen Dach. Hinter dem kleinen Schreibtisch ragte ein Geigenpult hervor, in Vasen standen immergrünes Laub und Kätzchen umher. Während Cilli ihrer neuen Herrin die Stiefel aufknöpfte und das Gepäck öffnete, verflocht sie die Angekommene mit unaufdringlicher Geschicklichkeit in ein Gespräch, was diese anheimelte, während es der bescheidenen Fragerin die ersten Anhaltspunkte für das Wesen derer gab, von der künftig für sie Regen und Sonnenschein abhing. Die Fremde fragte beide Dienerinnen gleich nach ihren Namen, unterschied sofort, daß die Ältere Reichsdeutsche, Cilli aber ein Kind des Landes war, kurz, sie wußte, wie man einem Dienstverhältnis schnell einen menschlichen Ton gibt. Cilli war geradezu entzückt, Frau Bettys reiferer Verstand merkte schnell, daß es sich hier nicht um »eine Gewisse« handelte, sondern um eine Frau, welche aus Erfahrung wußte, welche Achtung einer treuen, zum Hause gehörigen Dienerin gebührte.

Als Abends Ferdinand bei Tisch seinem neuen Gast gegenüber saß, ergriff ihn bis zum Erschauern das Wunder, welches sich vollzogen hatte, indem diese Vertreterin einer ihm unnahbar gewesenen Welt, bewegt von dem Blutschlag des weiten Lebens und zugleich umschimmert von dem Zauber des Traumes, nun hier in seinen Mauern bei ihm hauste, in einer seit wenigen Jahren gleichfalls wie ein Wunder aus dem Boden geschossenen Wirklichkeit, die greifbar war und dennoch mehr einem Traum glich. Jetzt erst, versicherte er ihr, als sie im Salon beim Kamin Kaffee tranken, begreife er den Sinn alles dessen, was er hier in schlafwandlerischer Planmäßigkeit aufgebaut hatte, und auch sie kam nicht aus dem Staunen heraus, während um sie herum barocke Holzschnitzereien zwischen chinesischen Vasen und goldnen Buddhas standen.

Mit denen unterhielt er sich wohl, wenn er des Abends allein saß? Nun, er war gerade im Begriffe gewesen, dieser unheimlichen Versuchung zu verfallen, aber seit er in Briefwechsel mit ihr stand, hatte er vorgezogen, abends wieder Klavier zu spielen. Was spielte er wohl? Er hatte den Klavierpart mehrerer Violinsonaten von Beethoven in diesem Winter wieder durchgenommen. Allein? Ist denn das nicht langweilig? Aber er hatte doch viele davon einst von ihr gehört, und die Erinnerung mußte ihm ihr gegenwärtiges Spiel ersetzen. Natürlich würde er in Wirklichkeit nie wagen, ihr seine dilettantische Begleitung anzubieten.

Melusine versank in Sinnen. Schon in den nächsten Tagen sah Ferdinand sie in den Noten kramen, und Ende der Woche, während er sich nach dem Frühstück in der Bibliothek befand, hörte er aus Melusinens Zimmer das Stimmen einer Geige, dann ein kräftiges Üben von Akkorden, und eines Abends fragte sie ihn, ob er zu einer Beethoven'schen Sonate den Klavierpart übernehmen wolle. Ihr Spiel, das er nun für sich ganz allein hatte, überwältigte ihn; einmal während eines Adagios sanken ihm die Hände in den Schoß, er konnte nur noch lauschen. Sie aber ließ sich nicht unterbrechen, und so fand er bei der Wiederholung wieder in ihr Spiel hinein.

Melusine war bei ihrer Ankunft in Sensburg Ferdinand etwas müde erschienen. Ihre Lebenseinstellung war resigniert. Ohne es sich zuzugeben, war ihm das lieber, als wenn da die gewaltige Melusine seiner Träume in sein Haus getreten wäre, vor der ihm doch etwas gebangt hatte. Nun aber durfte er sie pflegen, schützen und beraten, ja sichtlich bedeutete er etwas für sie.

Vor dem Schlafengehen ergriff sie eines Abends seine beiden Hände und sagte:

»Wie haben Sie das nur angefangen? Sie brachten es fertig, daß ich seit meiner Flucht zum ersten Mal wieder zur Geige gegriffen habe. In Berlin war mir, als ob ich das nie wieder tun würde.«

Sie blühte von Woche zu Woche zusehends auf und veranlaßte Ferdinand zu weiten Wanderungen in der meist feuchten Sommergrüne der gebirgigen Umgebung. Schnell fand sie sich in die ihr ungewohnte Alpennatur hinein. Sie lockte die Vögel durch Pfeifen und stürzte sich auf jede ihr unbekannte Blume. Oft setzten die Fragen der Pflanzenkennerin Ferdinand in Erstaunen, der zwar die Natur nicht weniger genoß, aber nicht nach Name und Art fragte.

Etwas beunruhigt fühlte er sich, wenn sie bald darauf von einer Konzertreise im kommenden Winter sprach und von der Korrespondenz, die sie bereits mit ihren früheren Agenten eingeleitet habe. Das war doch entschieden verfrüht, ihrer vollen Erholung äußerst abträglich. Ihren Vorstellungen auf einem Spaziergang, doch nicht ewig sein Gast sein zu können, erwiderte er nur, ihre Hand ergreifend:

»Ewig, Melusine, ewig, warum nicht? Was suchen Sie denn noch in der Welt, wie sie heute geworden ist?«

Sie mußte sich und ihm zugeben, daß der heftige, begeisterte Drang in das Leben, den sie einst gespürt, nach den Ereignissen der letzten Zeit mit der wiederkehrenden Gesundheit und künstlerischen Meisterschaft nicht zurückgekommen war. Sie habe im letzten Jahr so viel Zeit gehabt über sich selbst nachzudenken, und dabei sei nichts gutes herausgekommen. Ihr Leben vor dem Kriege erschien ihr plötzlich furchtbar leer. Schon war sie der Flachheit der über Mittel verfügenden modernen Frau verfallen, welche die Orte der Welt in zwei Kategorien einteilt, die, wo man ein Zimmer mit Bad oder wenigstens fließendem Wasser haben kann, und die, wo es das nicht gibt. Auch diese Manie, sinnlose Dinge einzukaufen, die man nicht braucht, aber die gerade Mode sind, oder zu Veranstaltungen zu rennen, die einem gar nichts sagen, aber wo alle hinlaufen, hatte schon von ihr Besitz ergriffen. Ferdinand warf ein, daß ihr doch die Kunst sicher stets einen Rückhalt gegeben habe. Ach ja, ein gewisser Schutz, eine vollendete Gans zu werden, sei das schon, aber immerhin, wenn man einmal Jahre lang mit der Geige von Stadt zu Stadt gezogen sei und der Erfolg einem nicht mehr viel bedeute, dann müsse man sich doch fragen: Wozu das noch auf unbestimmte Zeit fortsetzen? Solange das einmal begonnene Leben sie von selber trug, war alles herrlich gegangen, aber jetzt, wo ihre alte Lebensspannung sie verlassen hatte und ihr obendrein die Wälder ihrer Kindheit versperrt waren, in denen sie einst »Melusine« gewesen und später immer wieder Erholung, ja Verjüngung gefunden, jetzt fühle sie sich wie ausgehöhlt, wenn sie mit sich allein war. Darum müsse sie sich zwingen, wieder hinaus zu gehen, sich betäuben, auch wenn es sinnlos war. Sie glaube nämlich an nichts, buchstäblich an gar nichts. Ferdinand meinte, er sei in demselben Fall, aber lebhaft wehrte Melusine ab:

»O nein, Sie sind ein religiöser Mensch, das habe ich längst gemerkt, Sie sind katholisch, und wer das von Kindheit an ist, der bleibt es, auch wenn er im Einzelnen an nichts mehr glaubt; aber wenn wir Protestanten den Glauben verloren haben, dann bleibt ein leerer Protest gegen alles übrig, und da bin ich heute.«

Ferdinand lächelte, sie vergesse ganz, daß sie vor allem selber noch da sei, ein Wesen, in dem durch Generationen vererbte Religion, Zucht, Sitte und Geschmack eine freie Individualität hatten entstehen lassen, die heute keine Dogmen mehr brauchte, sondern ihrem inneren Drange leben konnte. Diese Auffassung erscheine ihm übrigens eher protestantisch als katholisch.

»Nur muß man daran glauben können,« erwiderte Melusine und ihre dünnen Lippen lächelten entsagungsvoll, »uns Protestanten hat sich alles in Vernunft aufgelöst. Vom Standpunkt der Vernunft aus kann das, was Sie sagen, richtig aber ebenso gut falsch sein.«

Ferdinand staunte über diese Gedankenschärfe. Er sprach nun von dem Wu-Wei, jener stillen Schöpferkraft, der man sich ruhig und vertrauensvoll überlassen müsse.

»Nun,« rief Melusine aus, »wenn solches Vertrauen nicht katholisch ist ... aber erzählen Sie mehr davon, es heimelt mich an wie ein Märchen, auch wenn ich an seine Wunder nicht glaube.«

»Ja,« erwiderte Ferdinand, »das ist freilich die Ausflucht der Vernunft. Wenn sie etwas nicht glauben kann, was aber doch schön ist und das Herz ergreift, dann macht sie ein Märchen daraus. Was ich meine, ist aber kein Märchen, Melusine, sondern eine Wirklichkeit. Auch was Sie mir damals von der schönen Melusine geschrieben haben, ist kein Märchen.«

Sie sah ihn betroffen von der Seite an und fragte etwas scheu:

»Wie meinen Sie das?«

»Nun,« lächelte Ferdinand geheimnisvoll, »die Kadens waren doch nicht immer protestantische Vernunftmenschen. Zuerst sind sie doch nordische Heiden gewesen, die mit Nixen und Kobolden lebten. Nicht wahr?«

»Wissen Sie,« sagte Melusine erstaunt, »Sie können manchmal unheimlich wirken. Mir ist es eben schaurig über den Rücken gelaufen. Ja, mit Nixen und Kobolden ... auch ich habe einst mit ihnen gelebt ... lassen Sie mich jetzt allein ...« Ohne Abschied zu nehmen, lief sie davon, an einem Waldrand entlang. Ferdinand beobachtete, wie sie zwischen den Stämmen ohne Weg in das Dickicht einbog.


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