Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XXXV

Am Sonntag blieb Melusine zu Bett. Sie ließ niemand zu sich. Aus Wien war die telephonische Zusage gekommen, daß der Arzt am späten Nachmittag da sein würde. Inzwischen irrte Ferdinand ungeachtet des schlechten Wetters ruhelos umher, bald ins Haus zurückkehrend, bald draußen schweifend. Erich lag unbeweglich in einem Liegestuhl auf der Veranda und lauschte dem nun mächtig herabrauschenden Regen. Der Prinz wagte nicht, mit dem Ruhebedürftigen ein Gespräch zu beginnen, und ihm war zu Mut, als seien plötzlich alle Abmachungen für morgen höchst zweifelhaft geworden.

Bei Tisch kamen die drei Männer zusammen. Ferdinand, den Melusine inzwischen einen Augenblick hereingelassen hatte, berichtete, daß sie teilnahmlos auf der Ottomane liege. Fieber habe sie nicht, aber der Puls sei sehr unregelmäßig.

Gegen Abend erschien Professor Obertimpfler, der berühmte Nervenarzt, ein kleiner rundlicher Mann, gänzlich kahl auf dem Kopf und im Gesicht, mit einem etwas süffisanten Ausdruck um den dünnen beweglichen Mund und großen, kuhartigen Glotzaugen, deren zauberhaft beruhigenden Einfluß viele Patienten und besonders Patientinnen sehr priesen. Melusine ließ ihn nur ungern herein und stand ihm möglichst kurz Rede. Sein drittes Wort war: »nichts als«. Von Ferdinand erfuhr er dann unten im Salon einiges über Melusinens Schicksale. Sofort war ihm alles klar. Der Zustand war nichts als eine Hypothonie, eine Auslassung der normalen Spannung; da half nichts als ein langer Aufenthalt in einem erstklassigen Sanatorium. Inzwischen aber sollte die Patientin dreimal im Tag Insipidin nehmen, ein ganz neues in Höchst hergestelltes Alkaloid, vor allem aber Himbeersaft trinken. Davon hielt der Arzt besonders viel, und zwar wegen seines außerordentlichen Gehalts an irgend etwas Neuentdecktem, dessen Bedeutung für die Ernährung der Drüsen man bisher ganz übersehen habe. Also jeden Tag einen halben Liter, beliebig verdünnt. Das Zigarettenrauchen müsse natürlich unterbleiben, eine Zeit lang auch das Musizieren. Ferdinand fragte nach seiner Schuldigkeit. Die von dem Professor genannte Summe erschien ihm außerordentlich hoch, aber es stand ja eine Kapazität vor ihm, die ihren Sonntag geopfert hatte. Inzwischen schickte sich Frau Betty an, einige Flaschen von ihrem selbst eingekochten Himbeersaft herbeizuholen.

»Nun, ist der Esel fort?« fragte Melusine ganz aufgeräumt und eine Zigarette rauchend, als Ferdinand mit einer Flasche zu ihr hereintrat. Sie ergriff seine Hand und sagte:

»Es ist wirklich zu lieb von dem Brüderchen, daß es sich so um mich sorgt. Es hat sogar geholfen. Ihr Doktor hat mich derart belustigt, daß ich mich wieder ganz wohl fühle. Was bringen Sie mir denn da, oh, Himbeersaft. Was für gute Ideen Ihnen immer einfallen, darauf habe ich gerade Lust.«

Ferdinand zog vor, ihr nicht zu sagen, daß er auf ärztliche Verordnung handelte.

»Was macht denn die hohe Politik«, fragte sie mit listigem Ton, nachdem sie getrunken hatte.

»Es war nicht mehr davon die Rede«, erwiderte er, »alle sind nur besorgt um Sie«.

»Und geht es morgen also los?«

»Nun ich denke, es ist doch ausgemacht, es hat sich nichts geändert.«

»So«, sagte sie, »dann gehen Sie jetzt wieder zu ihren Gästen.«

»Aber Sie müssen heute Abend etwas essen.«

»Also dann schicken Sie mir etwas herauf. Ihnen zuliebe.«

Er setzte sich einen Augenblick zu ihr auf den Bettrand und sagte vor sich hin: »Tun, handeln, wirken ..., wie mir das zuwider ist, es kommt ja doch alles von selbst.« Melusine lachte und fuhr ihm durch das Haar.

»Das ist wieder echt Ferdinand, das Brüderchen ... Wu-Wei ...«

»Und habe ich denn nicht recht?« fragte er glückselig unter ihrer Berührung.

»Nun ja ... natürlich ...« erwiderte sie nachdenklich.

Das Nachtmahl der Männer verlief einsilbig wie das Mittagessen. Nach Tisch erhob sich Erich und sagte:

»Ich muß Ew. Kgl. Hoheit wieder um Nachsicht bitten und mich zurückziehen. Ich bin noch immer sehr erschöpft. Um halb fünf Uhr morgen früh fahren wir also ab.«

Dann bat er Ferdinand, für ein nahrhaftes Frühstück und Brote zum Mitnehmen zu sorgen.

»Eigentlich brauchten Sie jetzt ein paar Ferienwochen, lieber Freund,« sagte der Prinz, Holthoff die Hand reichend.

»Eigentlich ja,« erwiderte dieser, »aber ich fühle, daß meine Kraft gerade noch so lange reicht, wie ich sie brauche. Sind erst einmal die neuen Dinge im Gang, dann will ich mich zurückziehen, vielleicht für immer.«

»Oh, sagen Sie das nicht, sagen Sie doch das nicht, die Welt erwartet noch viel von Ihnen.«

Der Prinz war aufgestanden, Tränen füllten ihm die Augen, und als sich Erich verbeugte, legte er einen Augenblick einen Arm um dessen Schultern. Dann ging Erich hinauf. Der Prinz wischte sich die Augen und sagte zu Ferdinand:

»Nun kenne ich ihn schon über zwei Jahrzehnte und habe ihn immer treu wie Gold gefunden, aber ganz klug aus ihm geworden bin ich nie.«

»Da geht es Ew. Kgl. Hoheit nicht anders wie mir«, erwiderte Ferdinand, »und ich kenne ihn nun doppelt so lang.«

Ehe sich Erich niederlegte, zog er einen kleinen Wecker auf und stellte ihn auf halb vier Uhr.

Es blieb nichts anderes mehr übrig, als sich von den selbst entbundenen Kräften weitertragen zu lassen. Seine Arbeit fühlte er beendigt, gut beendigt. Was nun geschah, hing von anderen Mächten ab, als seinem Wollen und Erkennen. O es tat wohl, nicht mehr frei und der Verantwortung des »soll ich oder soll ich nicht« ledig zu sein, so wie auf einer gefährlichen Reise, wenn einem das Ziel schon nahe, der Ausgangspunkt aber ferne hinter einem liegt. Nun ist man gewiß, nicht mehr umkehren zu können, sondern sein Schicksal zu erfüllen, mag es gut oder schlecht sein. Das allein gibt dem Müden noch einmal unerschöpfliche Kräfte, und wäre es hart am Rand eines Abgrunds in den vor dem Ziel noch hinabgestiegen werden muß. Erich wollte, konnte jetzt nicht länger wach sein, und so empfing er, gewärtig der Ereignisse, die morgen kommen sollten, den Schlummer, während sofort, nachdem er die Augen geschlossen, seinem inneren Blick, wie eine Wasserrose auf dunklem Grund, wieder das Bild Melusinens vor dem verwitterten Neptun auftauchte.

Es mochten Stunden, vielleicht auch nur Minuten vergangen sein, da vernahm er leise schlürfende Schritte auf dem Gang. Sie schienen das Dunkel zu durchtasten. Plötzlich hielten sie an, ein harter Gegenstand fiel auf den Boden. Wieder trat eine Pause ein, dann überstürzten sich die Schritte. Noch einmal zögerten sie vor der Tür. Erich war ohne Schrecken erwacht. »Das ist Melusine,« sagte er sich ruhig; ihm war als sei er nur leicht von einem Traum in den andern geglitten, ja als hätte er sie erwartet, und er wußte: »Nun beginnen die letzten großen Dinge«. Er fühlte sich bereit.

Es wurde auf die Klinke gedrückt: Melusine trat ein, von einem Strahl des eben aus den Wolken hervortretenden Mondes getroffen. Ihr unsteter Blick suchte in dem silberdämmerigen Raum. Dann stürzte sie plötzlich vor dem Bett Erichs auf die Knie, drückte das Antlitz auf die Decke und suchte schluchzend nach seiner Hand, die sie mit Tränen benetzte.

»Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie mir ...« stieß sie fast tonlos hervor, »und retten Sie mich.«

Er richtete sich auf, noch ungewiß, ob es nicht doch ein Traumbild sei. Als er aber ihren warmen Arm fühlte, suchte er sie aus der knieenden Stellung emporzuziehen; sie widersetzte sich.

»O Gott, o Gott«, stammelte sie, »helfen Sie mir!«

Ihre Tränen flossen wie ein Strom, der viele Jahre gehemmt gewesen war, unterirdisch gegrollt hatte und nun auf einmal einen breiten Weg ans Licht fand. Erich schwieg, seine Hände auf ihr Haar legend.

»Können Sie mir denn das verzeihen?« begann sie dann wieder und richtete ihr tränennasses Gesicht auf ihn.

»Ja was denn, Melusine, was habe ich Ihnen denn zu verzeihen?« fragte er zögernd.

Erst schwieg sie, sichtlich die Worte suchend, dann sagte sie.

»Ich weiß nicht, was mich im letzten Augenblick abgehalten hat ... Ich habe monatelang in einer entsetzlichen Spannung aller meiner Nerven gelebt ... und eben ... vor der Tür hat sie sich ganz plötzlich gelöst ... ich verstehe nichts davon ... vielleicht war alles umgekehrt ... nein, nein, der Revolver ist mir nicht von selbst aus der Hand gesunken, das war kein Zufall, sicher nicht, das müssen Sie mir glauben, wenn ich es Ihnen schwöre, ich habe ihn selbst weggeworfen aus besserem Wissen, das mich ganz plötzlich überkam; das war ich selbst, ich wollte ja nicht, und was vorher alle diese Wochen meine Nerven so gespannt hat, das verstehe ich nicht, das war ich nicht selbst.«

Erich fühlte einen Schauer über den Rücken gehen.

»Melusine ...« rief er, als erkenne er plötzlich ein tiefes Geheimnis, »Du ... das bist Du ...«, und ihm war, als ob ein Strom seine wohltätigen Wogen um ihn und sie schlang.

»Ich wollte ja immer nur hierher, zu Dir kommen ... und gerade deshalb haßte ich Dich ... da ergriff ich den Revolver ... ich habe es ja nicht einen Augenblick geglaubt, daß ich Dich töten wollte ... aber der Revolver machte mir Mut zu gehen ... als ich vor Deiner Tür stand, da warf ich ihn einfach weg ... und dann war es nur noch ein Schritt zu Dir ... und jetzt,« flüsterte sie, »will ich Ihre Magd, Ihre Sklavin sein fürs ganze Leben ...«

Er sank überwältigt in die Kissen zurück, ihm war als durchschaue er plötzlich eine tiefe Finsternis, durch die er gewandelt, an deren Ende ein Licht schimmerte; dann flüsterte er:

»Steh auf, Melusine ... Alles war recht so ...«

Ein Gefühl nie gekannten, seligen Innewerdens überkam ihn, und ihm schien, als töne seine eigene Stimme aus einer Ferne, weit weg von dem, was bisher sein Leben gewesen war.

»Wie?...«, fragte sie zweifelnd. »Recht so, sagst Du? Wie wäre denn das möglich?«

»Ja, recht so,« wiederholte er, sich wieder erhebend, »setz dich zu mir, meine liebe Seele.«

Sie hob das Antlitz zu ihm empor, und er saß da, aufrecht im Mondlicht, als schauten seine Augen in eine andere Welt, in der er sich selbst noch nicht zurecht fand. Sie stand auf und setzte sich auf den Bettrand. Wieder begannen ihre Tränen zu fließen, und dann sprach sie, erst unter Schluchzen nach Worten ringend und dann immer sicherer, als tauche auch ihr Blick jetzt hellsehend in Tiefen, von denen sie bisher nichts geahnt hatte.

»Du bist zu gut und zu groß ... das habe ich nicht aushalten können ... ich habe mir einreden wollen, daß Du böse bist, ein Unhold, und ich habe Dich hassen wollen ... auch den armen Ferdinand habe ich anzustecken versucht mit meinem Haß, aber es ging nicht, auch er ist ein edler Mensch wie Du und weiß nichts von Gemeinheit ... nur ich bin gemein, nur ich ... ein Weib, das sagt ja schon alles ... Darum habe ich von Jugend an kein Weib sein wollen, weil das so gemein ist ... und darum bin ich nun heimlich erst recht gemein geworden ... Es ist furchtbar, Erich, kannst Du verstehen, wie ein Weib ist ... es haßt, weil es in seiner Kleinheit das Vollkommene nicht ertragen kann, es tut sich auf seine Reinheit etwas zu gut, weil es in Wirklichkeit nichts als Unreinheit ist. Oh, wie hast Du mich geschont, wenn ich Dich herausfordern wollte ... Und das habe ich erst recht nicht ertragen ... hättest Du doch Deine Verachtung gegen mich offen ausgesprochen ... vielleicht wäre ich erst wütend geworden, und dann hätte es mir wohlgetan, aber Du warst immer freundlich zu mir, nur freundlich, so viel überlegene Güte konnte ich nicht aushalten. Wenn Du doch nur einmal von Deiner Höhe herabgestiegen wärst und Dich mit mir gemein gemacht hättest! Oft habe ich absichtlich dummes Zeug geredet, um Deinen klaren Geist zu reizen, aber Du hast immer großmütig meinen Standpunkt gewürdigt. Begreifst Du denn nicht, was das für eine Beleidigung für mich war? Davon bin ich fast verrückt geworden, ich wünschte Deinem Unternehmen Unglück, aber ich spürte meine Ohnmacht, denn es muß ja gut ausgehen, weil alle guten Geister hinter Dir stehen, und dann ist mir vorhin – nein nicht erst vorhin, schon sehr, sehr oft – der Gedanke gekommen ... ich ergriff den Revolver ... aber vor Deiner Tür, da konnte ich auf einmal nicht mehr, da war es ganz plötzlich aus mit meinen gespannten Nerven ... oh, seit meiner Kindheit habe ich sie überspannt, als ich mich nicht mehr allein in die Wälder getraute, als ich mit der Geige in die Welt zog, als ich Dir trotzte ... alles derselbe Wahn ... ich habe nicht wie ein Weib lieben wollen ... aber was ich tun kann, ist dumm, denn wenn ich auch ein Ende mit Dir gemacht hätte, gerade das wäre ja ein echter Weiberstreich gewesen, und ich glaube, Dir wäre selbst der Tod gleich. Du gibst mir sogar jetzt noch ein Recht. Was liegt Dir an Deinem Leben? Du bist ja kein Mensch mehr, Du bist wie ein Gott, der unzählige Leben hat und ruhig eines verlieren kann. Oh, die Menschen müssen Dich hassen, so etwas ist hassenswert, und auch ich hätte Angst, Dich zu lieben, aber büßen will ich meinen Haß, indem ich Dir diene.«

Nie im Leben hatte die oft bis zur Hartnäckigkeit Verschwiegene so lange gesprochen, und nun legte sie erleichtert den Kopf auf die Decke neben ihn.

»Nein, Du wirst mir nicht dienen«, sagte er ruhig mit klarer Stimme, als verstünde er plötzlich die ganze Welt, »viel zu lange habe ich meine eigene Seele geknechtet. Das hast Du gefühlt, das hat Dich als Frau empört, darum mußtest Du mich hassen, Du warst im Recht, Du hast sie befreit, meine Seele... welch ein Glück!«

Verwundert schaute sie ihn an.

»Ein Glück ...?« hauchte sie.

»Ja, Du bist ein Weib, aber eines, das sich selbst aus seinen Banden erlöst hat«, sagte er, als rede er nicht zu ihr, sondern in sein eigenes Inneres zu seiner Seele, »darum bist Du nun frei, frei von allem Haß und aller Kleinheit.«

Sie schaute ihn fragend an. Wieder sank sie in die Knie. Er legte die Hand wie segnend auf ihren Scheitel, und nun sprach er zu ihr:

»Jetzt darfst Du nicht mehr knien, Melusine«.

»Erst verzeih mir, daß ich Dein Werk zerstören wollte, denn nun will ich, daß Du immer größer und größer wirst.«

»Ich will weder groß noch klein sein,« flüsterte er. »Steh auf, es ist nichts zu verzeihen, Du bist ohne Schuld.«

Sie erhob sich.

»Und morgen?« fragte sie.

»Ich gehe meinen Weg zu Ende.«

Sie wollte sich zur Tür wenden, aber in diesem Augenblick hörte man heftige Schritte auf dem Gang, die sich eilig dem Zimmer näherten.


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