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Der junge Graf Herbert Waldegg, der Sohn Espérancens, der das letzte Jahr im Ausland gelebt, hatte dort erfahren, daß seine Mutter verhaftet worden war und in stündlicher Gefahr schwebte, erschossen zu werden. Ohne Zögern eilte er nach Rolfsburg.
Er war ein junger, eleganter Mensch von biegsamer Gestalt, glattem, rosigem Gesicht ohne irgend welche Besonderheit des Ausdrucks, aber mit festblickenden blauen Augen. Vom Bahnhof begab er sich sofort nach dem Ministerium des Äußeren, in dessen Kellern noch immer die Todtmooser am meisten interessierenden Gefangenen schmachteten, die er sich täglich zum Verhör vorführen ließ. Waldegg war bereit, sich wenn nötig mit dem Revolver den Weg zur Mutter zu bahnen, fand jedoch eine auffällige, ihn zynisch anmutende Bereitwilligkeit der die Gefangenen bewachenden Soldaten. Im Augenblick werde die Frau Gräfin zwar wieder oben von den Herrn verhört. Später aber könne er wiederkommen, da sie heute noch mit den andern Teilnehmern an der Verschwörung »drankäme«, nämlich erschossen zu werden.
Herbert sprach kein Wort. Er ging vor dem Gebäude auf und ab. Dort standen eine Menge Leute, teils Neugierige, die auf die Urteile warteten, die heute gefällt werden sollten, teils Angehörige und Freunde von Verhafteten. Er erfuhr, daß das Auto Todtmoosers nach dem Verhör aus dem Torweg kommen müsse; einige wollten versuchen, seine Gnade zu erflehen. Waldegg hielt sich nun etwas abseits, und, als das Auto mit dem Diktator herauskam, gab er einen Schuß auf ihn ab.
Die Menge stürzte sich wie auf ein gegebenes Kommando über den Blutenden. Von den Zuschauern konnte später niemand sagen, wie es begonnen hatte, aber plötzlich sah man, wie der Leib Todtmoosers aus dem Auto gezerrt, hin und her gerissen und schließlich auf dem Pflaster buchstäblich zertrampelt wurde. Indessen zog ein Trupp Soldaten heran. Kaum hatten diese das Geschehene begriffen, als sie in Hurrarufe ausbrachen und sich selber die roten Kokarden der sozialen Republik herabrissen. Waldegg trat auf sie zu und fragte sie, ob sie bereit seien, ihm, dem früheren Offizier des Leibregiments, zu folgen und die unschuldig Verhafteten zu befreien. Jubelnd bejahten sie. Drinnen stieß man auf keine Schwierigkeiten. Die Wärter öffneten jede Tür. Eben hatten sie Espérance, des Todes gewärtig, in eine Zelle gebracht. Sie war in diesen Tagen alt und grau geworden, mechanisch blätterten ihre Hände in einem Gebetbuch. In ihrem dunkeln Kleid und mit dem schlecht frisierten Haar, sah sie aus wie eine Frau, die zeitlebens nichts als Kummer gekannt, aber alles Unglück mit Würde getragen hat. Beim Öffnen der Tür schrak sie zusammen. Sie konnte nichts anderes, als ihre Abholung auf den Hof zur Vollstreckung des Urteils erwarten. Da stürzte der Sohn, den sie ferne wähnte, in ihre Arme.
In den Kellern nebenan befanden sich Offiziere, Journalisten, Sekretärinnen und andere Personen, die in den letzten Tagen vor dem geplanten Einzug des Prinzen Amadeus in das Geheimnis gezogen und dann verdächtigt worden waren. Unter ihnen standen sich, aus ihren Einzelzellen befreit, plötzlich Ferdinand und Melusine gegenüber. Erst allmählich begriffen die Befreiten, was vorging. Als Waldegg seine Mutter aus der Zelle führte und beide diese überrascht begrüßten, war sie kaum eines Wortes fähig. Auf Herbert deutend schluchzte sie nur: »Mein Sohn!« Er aber sagte ihnen schnell, sie sollten den augenblicklichen Zustand des Durcheinanders zu schleuniger Flucht benützen, denn niemand könne wissen, was noch geschehen werde. Er selbst, den niemand kannte, brachte die entkräftete Espérance in ein Auto und fuhr mit ihr nach dem Bahnhof. Sein Ziel war Floridsburg, dessen Abgelegenheit zwischen ländlicher Bevölkerung zunächst noch Sicherheit bot. Dort packten sie schnell ihre Koffer und reisten dann über die österreichische Grenze in den Süden.
Ferdinand und Melusine hegten beide den Wunsch, noch heute an Erichs Lager zu eilen. Melusine hatte genug Geld bei sich, so daß sie zusammen den Abendzug nehmen konnten. Sie saßen sich in der Bahn lange allein und schweigend gegenüber. Hinter Rolfsburg war die Sonne versunken, über Österreich lag am östlichen Himmel blaßpurpurne Gegendämmerung. Trauriges Licht fiel über die abgeernteten Felder. Melusine begann plötzlich zu schluchzen und erklärte sich schuldig an allem. was geschehen war. Ferdinand fand keine Worte der Erwiderung.
»Ferdinand, vielleicht ist der Augenblick gekommen, wo wir alles wieder gut machen können. Er wird sich erholen; noch ist er zu schwach, um selbst handeln zu können, aber er hat ja uns beide, und wir können vielleicht die zerrissenen Fäden wieder anknüpfen, bis er sie von neuem in die Hand nehmen kann.«
Ferdinands Augen leuchteten auf. Er drückte ihr die Hand und erklärte, das sei ein Hoffnungsstrahl, er wünsche sich nichts besseres, als für das von ihm gestörte Werk des Bruders sein Leben zu opfern.
Nach der Tat des jungen Waldegg hielt sich die erschrockene Gefolgschaft Todtmoosers zunächst ratlos in dem Raum, wo sie noch eben mit zynischen Witzen dem Verhör Espérancens beigewohnt hatte. Man erwartete zitternd den sofortigen Ausbruch der Gegenrevolution, aber da der Urheber der Tat nur die Mutter hatte retten wollen und gleich mit ihr verschwunden war, regte sich nichts in der Stadt. Der Fernsprecher funktionierte, und es gelang, Morgenthau zu erreichen, der noch nichts von dem Geschehenen wußte. Er erklärte sich bereit, die Regierung wieder zu übernehmen. Von seinen alten Getreuen umgeben und mit militärischer Bedeckung zog er gegen Abend in dem Ministerium ein. Ein sofort verbreiteter Erlaß versprach Schutz für jeden, der sich in diesen schweren Tagen ruhig hielt. Die Bevölkerung atmete auf. Verglichen mit Todtmooser bedeutete Morgenthau die Rückkehr der Ordnung.