Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XLIV

Der Morgen des Prozesses brach an, ein letzter Sommertag von schwüler Hitze. Saal und Tribüne waren überfüllt. Öffnete man die Fenster, so drang betäubender Straßenlärm herein, schloß man sie, bildete sich sofort aus Staub, Schweiß und schlechtem Atem eine dicke, dumpfe Atmosphäre. So wurde die Verhandlung immer wieder durch Erwägungen unterbrochen, ob man öffnen oder schließen solle.

Zwei Wachleute führten Ferdinand vor. Er trug einen grauen Anzug und sah, wie immer, etwas blaß, aber nicht besonders angegriffen aus. Seine Antworten wirkten sehr gesammelt und sicher.

Die mit gleichgültiger, näselnder Stimme vorgebrachte Anklage des Staatsanwaltes, eines kahlköpfigen, dünnen, schematischen Beamten, lautete auf Mordversuch aus politischen Motiven. Den augenblicklichen Anlaß zu der Tat habe jedoch der Umstand gegeben, daß der Angeklagte eines Nachts seine Braut im Zimmer des Bruders gefunden habe.

Der Angeklagte erklärte bei seiner ernsten Befragung diese Auffassung für falsch. Für Politik habe er sich niemals interessiert. Baronin von Kaden sei nicht seine Braut gewesen, und daß sie nachts in dem Zimmer seines Bruders geweilt, habe bestimmt ganz andere Gründe, als man vermute. Er selber könne darüber nichts sagen. Jedenfalls sei nie in Sensburg der geringste Anlaß gewesen, zwischen den beiden ein gegenseitiges, tieferes Interesse zu vermuten, eher das Gegenteil.

Hier unterbrach ihn der Vorsitzende, ein lebhafter Mann mit dunklem Knebelbart und ungeduldig hüpfenden Augen durch die spitze Frage, ob er wisse, daß die Kaden seit der Tat in dem Krankenhaus bei seinem Bruder weile und ihn pflege. Ja, er wisse es und es sei ihm sehr begreiflich.

Dann führte er tonlos und in trockener Weise aus, seit frühester Kindheit habe er seinen Bruder heimlich beneidet, ja zu hassen geglaubt und dies unter Freundlichkeit ihm gegenüber verborgen. Der Gedanke, ihn zu töten, habe ihn oft beschäftigt. Warum der Entschluß gerade in dieser Nacht reif geworden sei, vermöge er nicht zu sagen. Seit der Tat sähe er aber ein, wie Unrecht er gehabt. Er sei in dem Wahn befangen gewesen, daß sein Bruder ihn zu unterdrücken versuche. Das habe er sich eingebildet, um seine eigenen Mängel zu erklären und besser ertragen zu können. Er bereue seine Tat tief, habe nur den einen Wunsch, sich noch einmal mit dem Bruder aussprechen zu dürfen, um dann seine Strafe auf sich zu nehmen und das Verbrechen zu büßen.

Auf die Frage, wie denn diese plötzliche Wandlung über ihn gekommen sei, erklärte er kurz:

»Durch die Gespräche mit dem Anstaltsgeistlichen.«

Das Gericht steckte die Köpfe zusammen. Dann fragte der Vorsitzende:

»Sind Sie gläubiger Christ?«

Ferdinand antwortete mit derselben uninteressierten Ruhe wie bisher:

»Ich weiß es nicht.«

Es war klar, daß hier eine bestimmte Marschroute vorlag, die sich der Angeklagte gegeben hatte, deren Sinn dem Gericht freilich bis jetzt noch völlig undurchsichtig blieb. Auf die Versuche des Vorsitzenden und der Richter über Erich Holthoffs und Prinz Amadeus politische Pläne etwas zu erfahren, erklärte Ferdinand immer wieder, davon wisse er nichts, er sei ausschließlich Künstler und als solcher habe er den kunstliebenden Prinzen beherbergt.

»Und über Politik wurde nie gesprochen?« fragte der Vorsitzende lauernd.

»Ich habe nie etwas gehört. Außerdem hätte es mich nicht interessiert.« Als erste Zeugin wurde eine schwarz gekleidete Dame mit erdfahlem Gesicht hereingeführt. Es war Melusine von Kaden. Ferdinand wußte von seinem Anwalt, daß sie gestern angekommen war und sich dem Gericht als Zeugin zur Verfügung gestellt hatte. Was sie aber vorbringen würde, habe sie nicht vorher sagen wollen. Obwohl er auf ihr Erscheinen vorbereitet war, überkam Ferdinand bei ihrem Anblick ein solches Zittern, daß er nicht aufrecht stehen konnte. Die Wachleute mußten ihn halten, während er seinen Sitz einnehmen wollte. Dies entging natürlich niemand in dem Saal.

Auch Melusine wurde, als sie ihn auf der Anklagebank sah, von einer heftigen Erregung ergriffen. Sie erzählte unter gewaltsamer Selbstbeherrschung, wie sie nach Sensburg gekommen war. Das Verhältnis zwischen den Brüdern sei vorbildlich gewesen. Nach einiger Zeit habe sie eine unüberwindliche Antipathie gegen Erich Holthoff gefaßt und versucht, sie auf Ferdinand zu übertragen, darum sei sie an allem folgenden Schuld. Sie konnte vor Schluchzen nicht weiter sprechen.

»Sie waren mit dem Angeklagten verlobt?« fragte der Richter plötzlich.

Keine Antwort. Der Richter drängte.

»So gut wie verlobt...« flüsterte Melusine, »er mußte es wenigstens glauben ... ich bin an allem Schuld.«

»Der Bruder des Angeklagten versuchte, Sie zu sich herüber zu ziehen, nicht wahr?«

»Niemals hat er das versucht!« rief Melusine empört.

»Aber Sie sind doch nicht ohne Verabredung nachts in sein Zimmer gekommen?«

»Ganz und gar ohne Verabredung ... ich wollte ihn töten.« Dieses Wort wirkte in dem unruhigen Saal wie ein plötzlicher dröhnender Donnerschlag, den kein Blitz vorbereitet hatte. Erst entrang sich der Zuhörerschaft ein seufzerähnliches Atmen, dann lähmte sie ein gespanntes Schweigen. Richter und Vorsitzender schauten sich mit geheimem Einverständnis an. Sobelsohn legte seinen knochigen Zeigefinger an die Schläfe und dachte nach. Ferdinand war durch dieses Geständnis wie zerschmettert.

Der Vorsitzende fragte weiter:

»Hatten Sie denn eine Waffe bei sich?«

»Ja, meinen Revolver ... aber unterwegs hat mir die Kraft versagt... ich warf den Revolver fort und stürmte zu ihm hinein, um ihn um Verzeihung zu bitten.«

»Um Verzeihung für was?« fragte der Vorsitzende, »Sie hatten ja nichts getan.«

Unter den Zuschauern entstand eine merkliche Lösung der Spannung und Neigung, unernst zu werden.

Der Vorsitzende machte die Zeugin darauf aufmerksam, daß sie zwar das Recht habe, ein Zeugnis zu verweigern, das für sie selbst nachteilig sein könnte, aber die Unwahrheit dürfte sie nicht sagen, zumal sie nachher vereidigt werde.

»Ich habe nichts zu verschweigen,« erklärte Melusine fest. »Kurz nach mir ging Herr Ferdinand Holthoff über den Gang. Daß er meine Stimme in dem Zimmer hörte, mußte ihn natürlich furchtbar erregen. Unglückseliger Weise lag mein Revolver vor seinen Füßen – es ist derselbe, den ich dort auf dem Tisch sehe – er hob ihn auf, kam in das Zimmer, und so ist die unglückselige Tat geschehen.«

»... weil er ja nicht wissen konnte, daß Sie nur hineingegangen waren, um drinnen um Verzeihung zu bitten,« sagte der Vorsitzende triumphierend, ... »und obendrein hatten Sie noch diese unüberwindliche Antipathie.«

Im Auditorium brach man in Lachen aus, so daß der Vorsitzende heftig die Glocke läuten mußte. Alle weiteren Fragen lehnte Melusine mit der hartnäckigen Erklärung ab, sonst habe sie nichts zu sagen. Sie sei überhaupt nur gekommen, um mitzuteilen, daß Herr Ferdinand Holthoff sich ihres Revolvers bedient hätte, der scheinbar durch Zufall in dem entscheidenden Augenblick vor seinen Füßen lag.

Sobelsohn fühlte eine ritterliche Regung. Leidenden Frauen gegenüber, auch wenn sie der verhaßten Oberschicht angehörten, war er weich. Überhaupt die Frauen, die standen außerhalb der Stände. So nahm er nun endlich seinen Zeigefinger von der Schläfe, protestierte energisch gegen die Aufgeräumtheit der Hörer und sagte mit scharfem Blick auf den Vorsitzenden:

»Es ist für den Lauf der Untersuchung in der Tat völlig gleichgültig, welcher private Grund die Zeugin zu ihrem Besuch in dem Zimmer veranlaßt hat. Von Bedeutung ist nur, – und das hat die Zeugin selbst in anerkennenswerter Weise ausgesprochen – wie erregend dieser Besuch in solcher Stunde auf ihren Bräutigam wirken mußte.« Melusine nickte in heftigem Einverständnis.

Der Vorsitzende befand sich indessen auf einer anderen Fährte, die Melusinens nächtlichen Besuch erklären konnte; er teilte im Flüsterton dem Staatsanwalt etwas mit. Dieser preßte die dünnen Lippen zusammen und blickte fest auf Melusinen. Auch Ferdinand starrte sie an, erschüttert über das, was sie von dem Revolver gesagt, und zugleich völlig verwirrt, weil er sich in diesen langen einsamen Wochen, zwangsläufig in seine eigenen Ideen verstrickt, nicht ein einziges Mal gefragt hatte, wie eigentlich der Revolver an die Stelle gekommen war, wo er ihn im Augenblick fand. Die Anwälte, denen er ja alle nähere Auskunft verweigerte, hatten als selbstverständlich angenommen, er habe ihn aus seinem Zimmer mitgebracht. Er war vielleicht der einzige, völlig Überzeugte, daß Melusine die Wahrheit sprach.

Nachdem ihr Verhör beendigt war und der Gerichtsdiener sie wieder hinausführen wollte, erhob sich plötzlich der Staatsanwalt und erklärte sie als der Teilnahme an der monarchistischen Verschwörung verdächtig und ließ sie verhaften. Sie hörte diese Worte in völliger Erstarrung an und ließ sich von einem Wachmann abführen, während Ferdinand einen halb unterdrückten Aufschrei hören ließ. Rechtsanwalt Sobelsohn geriet in höchste Erregung, aber schnell sah er darin einen geeigneten Angriffspunkt für seine Verteidigung. Wehmütig blickte er der den Saal verlassenden blonden Frau nach.

Darauf wurde der aus Österreich eingelaufene Akt über die sofort nach der Tat vorgenommene kommissarische Vernehmung Erich Holthoffs verlesen. Er hatte erklärt, zwischen ihm und Fräulein von Kaden sei eine persönliche Spannung gewesen infolge eines am Tag stattgehabten Gesprächs. Beide hätten indessen den Wunsch gehegt, durch eine Aussprache die Lage zu klären. Dabei sei es wünschenswert gewesen, die Angelegenheit ohne Wissen seines Bruders, dem jene Spannung nicht bekannt war, zu erledigen. Sein Zimmer habe sich durch Abgelegenheit besser dazu geeignet, als das Zimmer des Fräuleins von Kaden. Der Bruder, der in diesen Tagen das Jawort zur Heirat erwartete, hätte naturgemäß diesem Besuch ein ganz anderen Sinn unterlegen müssen und in begreiflicher Erregung so gehandelt, wie wohl mancher andere Mann an seiner Stelle getan haben würde.

Die Protokolle über die Verhöre des Prinzen, des Sensburger Dienstpersonals, des Bezirksarztes, des Primararztes im Krankenhaus und jenes Nervenspezialisten, der, wenn man ihn nur früher angerufen hätte, durch die rechtzeitige Anwendung von Himbeersaft den Dingen gewiß eine gänzlich andere Wendung gegeben hätte, brachten nichts Neues. Der Chauffeur Wildgruber, der seit der Tat von Österreich nicht zurückgekehrt war, hatte der Vorladung nicht Folge geleistet.

Nach der kurzen Mittagspause begann die Rede des Staatsanwalts. Er leitete sie mit der überraschenden Erklärung ein, daß er die Anklage wegen politischen Mordes zurückziehe. Hier handle es sich nach seiner Überzeugung nur um eine schwere Körperverletzung, begangen im Zustand höchster eifersüchtiger Erregung. Die politischen Vorgänge seien etwas für sich und noch ungeklärt. Sie würden den Inhalt einer anderen Verhandlung bilden, und er, der Staatsanwalt, behalte sich in dieser Hinsicht weitere Schritte vor. Die Rede verlief naturgemaß ziemlich matt. Das war für die Zuhörer, die erwartet hatten, in Ferdinand den Retter der Revolution freigesprochen zu sehen, eine große Enttäuschung. Eine gewöhnliche schwere Körperverletzung? Die Aburteilung von derlei Kleinigkeiten konnte man täglich erleben. Der Staatsanwalt beantragte sechs Monate Gefängnis.

Da stand Rechtsanwalt Sobelsohn auf und fuhr sich mit der knochigen Hand nervös über die paar dunklen Haarbüschel. Nicht ohne Selbstgefälligkeit und mit Handbewegungen, die einen Gegenstand in den Raum zu stellen schienen, versprach er, einen Querschnitt durch die ganze Epoche ziehen zu wollen. Zwar sei durch die Erklärung des Herrn Staatsanwaltes heute das politische Motiv als solches aus der Anklage ausgeschaltet, um so freier fühle er sich daher, den Fall rein psychologisch zu betrachten. Der Künstler Ferdinand Holthoff, »unser Angeklagter«, sei von Kindheit an ein Leidender jener Zeit gewesen, der das Bürgertum den Stempel aufgedrückt habe, die nun Gott sei Dank vorüber wäre. Also gut, die Tat des Angeklagten habe mit seiner politischen Haltung, die heute nicht in Frage stehe, unmittelbar nichts zu tun. Wenn es aber ein historisches Schicksal gäbe, eine Frage, die natürlich im Augenblick nicht von den Herrn Geschworenen entschieden werden könne (lächelnde, aber unverstandene Verbeugung gegen diese), so habe es sich jedenfalls der Hand des Angeklagten bedient, und dieser Umstand genüge schon, um in dem Konflikt zwischen zwei Brüdern mehr als eine Privatangelegenheit zu sehen. Nun möge man ihm, der den Angeklagten aus gemeinsamen Jugendjahren kenne, erlauben, etwas über dessen Entwicklung mitzuteilen.

Er schilderte mit wirksamen Ausdrücken einen Künstlertypus mit seidezarten Nerven. Diesen Wehrlosen hatte ein paradox-grausames Geschick zum jüngeren Bruder eines Gewaltmenschen gemacht, der neben ihm üppig aufschoß wie ein Bovist, jener Pilz, der im Augenblick der Reife plötzlich platzt und die ganze Umgebung mit dem Giftstaub seines Samens erfüllt. Nun, über diesen Mann brauchte Sobelsohn an dieser Stelle wohl nicht viele Worte zu verlieren. Das Land hatte ja seinen Bedrücker Jahrzehnte lang in heute unbegreiflicher Ruhe ertragen, die letzte Stütze der schmählichsten Reaktion, mit deren Früchten er das Volk gerade von neuem beschenken wollte, wäre ihm nicht »unser Angeklagter« rechtzeitig in den Arm gefallen. Das könne nicht oft genug wiederholt werden. Se. Exzellenz der Herr Staatsminister Dr. jur. Erich Christoph Diego Holthoff! Ja, Diego, Sobelsohn hatte den Namen bei der Polizei gefunden. Gegen eine so großartige, die ganze zurückliegende Zeit in ihrer gewissenlosen Ausbeutungspolitik in schlau liberaler Bemäntelung darstellende Persönlichkeit konnte der jüngere Bruder natürlich nicht aufkommen, das begriffe wohl ein jeder auch ohne Psychologie. Von törichten, weltlichen Erfolg anbetenden Eltern mißachtet – Sobelsohn wollte nicht verschweigen, daß der Vater ein rheinischer Finanzmagnat war – sei der Knabe von früh auf in protzenhafter Umgebung seelisch mißhandelt, einem leeren Poseur, als dem Stolz der Familie untergeordnet worden. Ja, man wies ihn täglich hin auf dessen verabscheuungswürdiges Beispiel, wie man es in der Welt zu etwas bringt.

Der Anwalt versuchte nun, die Gefühle auszumalen, die sich in dem Zurückgestoßenen aufhäufen mußten, und sprach zeitgemäß von Haßballungen. Schließlich klagte er, nicht die Feder eines Dostojewskij zu besitzen, um in die Untergründe eines solchen Leidens zu leuchten. Ihm fehle leider diese Fähigkeit, und darum müsse er sich damit begnügen, in schlichten Worten an die Herzen zu appellieren, und zwar an die revolutionären Herzen, die für jeden schlagen, der in dieser Welt zu den Geknechteten gehört. Der Angeklagte hätte, ohne feige Ausflüchte zu versuchen, Haß als den Grund seiner Tat hingestellt.

»Aber«, schrie Sobelsohn, seiner Gefühle nicht mehr mächtig, »ist denn dieser Haß nicht unser aller Haß, der Haß der Unterdrückten gegen die Ungerechtigkeit?«

Die ihm in der Revolution Ausdruck gaben durch die Tat, betrachte man heute mit Recht als Helden, nicht als Verbrecher. Nun, er, Sobelsohn, wage auszusprechen, daß zu ihnen, freilich unbewußt, auch sein Klient gehöre. Wer könne, solle ihm das Gegenteil beweisen.

Hier unterbrach tosender Beifall den Verteidiger. Mit halblauter Stimme begann er von neuem.

Auch dieser berechtigte Haß hätte indessen nicht genügt, einen so weichen Menschen wie den Angeklagten zu der Tat zu treiben, wenn nicht im letzten Augenblick noch ein besonders verabscheuungswüriges Verbrechen gegen ihn begangen worden wäre, ein Vertrauensbruch, den zu tragen nach Sobelsohns Überzeugung über Menschenkraft ging. Seit vielen Monaten hätte der Herr Minister mit seinem famosen Prinzen die Gastfreundschaft des allzu Gutmütigen ausgenützt, aber nicht genug, am Schlusse stahl er ihm noch die Braut unter seinem eigenen Dach. Was ihn persönlich betreffe, so falle es ihm nicht leicht, dergleichen private Dinge an die Öffentlichkeit zu ziehen, aber er müsse doch sagen, daß das hier ein besonderer Fall sei, in dem der Takt vor der Gerechtigkeit weichen müsse. Se. Exzellenz mußten doch in der ungewohnten Ruhe des Landlebens, das seinem unstillbaren Ehrgeiz und Machthunger nichts bot, wenigstens sein Pläsierchen haben. Ohne so etwas ging es doch nicht bei diesen großen Herrn einer Gott sei Dank für immer begrabenen Zeit. Da war so eine Künstlerin gerade das Rechte. Solche Frauen seien ja in den Augen dieser Menschen Freiwild. Auf die Gesinnung, weniger auf die Tatsache selbst, wolle er hier den Finger legen.

»Meine Herren!« schrie Sobelsohn mit scharfer dünner Stimme. »Fragen Sie sich ehrlich: Wer von Ihnen hätte in diesem Augenblick einer furchtbaren Entdeckung, wenn ihm der Zufall gar eine Waffe in die Hand spielte, nicht nach ihr gegriffen und sich selbst jenes natürliche Recht geholt, das in Ausnahmefällen, wie dieser einer ist, selbst das geschriebene Gesetz aller zivilisierten Staaten anerkannt?«

Darauf schilderte er Ferdinands Bedeutung als Künstler in Tönen, wie sie dieser noch nie über sein bescheidenes Schaffen vernommen hatte. Er stempelte dieses zu echt revolutionärer, neues Fühlen verbreitender Kunst, während der Bruder Titel und Orden gehäuft, in feiler Kriecherei die Gunst der Herrschenden gesucht, ihr frivoles Genußleben geteilt, ja nach dem Adelstitel geschielt, den sich sein Vater schon in Preußen vergeblich zu erschwänzeln versucht hätte.

Da sei es denn in einer Herbstnacht geschehen, – Sobelsohn schien zu deklamieren – daß der verwöhnte Weltmann als Bittender an die bescheidene Tür des verachteten Bruders klopfte und Einlaß begehrte. Die Drachensaat der bürgerlichen Gesellschaft war aufgegangen. Sobelsohn hatte nicht nötig, jene großen Tage zu schildern, da das Volk an seinen Bedrückern Rache nahm. Nun, für den Herrn Minister waren das freilich keine großen Tage. In Nacht und Nebel feige fliehend, wie Catilina, erinnerte er sich des jüngeren Bruders, und jetzt war der immer noch gut genug, um ihn aufzunehmen. In seiner Gesellschaft befand sich einer seiner Spießgesellen, ein gewisser Dr. Schenk. In dem edlen Herzen dessen, der durch ein paradoxes Schicksal hier als Angeklagter sitze, obwohl ihm mehr geziemen möchte, als Ankläger dazustehen, war sofort aller Haß vergessen. Er sah nur noch Leid, Menschenleid, und so verschloß er seine Tür nicht den Fliehenden. Aber wer beschriebe wohl sein Erstaunen, als er in diesem Dr. Schenk niemand andern als einen gewissen Amadeus Rolfingen erkannte, den Prinzen üblen Angedenkens, den Beschützer angeblich schöner Künste, den ach! so wohl bekannten Damenfreund, unser so beliebtes, leutseliges Volksaussaugerchen, unser köstliches, kostspieliges nationales Kitschchen, mit Künstlerhütchen und flatternden Seidentüchelchen. Ach wie mußte diesem die Werkstatt eines echten Künstlers geeignet erscheinen, die Gutmütigkeit des Besitzers mißbrauchend, sich hier ein ästhetisches Eckchen einzurichten und ein glückliches Augenblickchen abzuwarten, bis man sein fades Süppchen noch einmal aufwärmen könnte. Das hohe Gericht würde nun vielleicht fragen, warum der Angeklagte die beiden Schurken nicht einfach hinausgeworfen hat? Sobelsohn mußte zugeben, daß sein Klient in diesem Punkte schuldig war. Wenn er aber durch allzu große Gutmütigkeit auch im Augenblick schwer gefehlt, dann habe er es nicht nur gesühnt, sondern später besseres getan, als sie hinauszuwerfen. Sobelsohn wolle zwar dem Herrn Staatsanwalt nicht widersprechen, wenn er erkläre, daß das politische Motiv allein nicht den Anlaß zu der Tat gegeben habe, vielmehr liege dieses in der berechtigten eifersüchtigen Erregung des Angeklagten, aber ... – hier erhob sich Sobelsohn zu höchstem Pathos:

»– dennoch hat ein geheimnisvolles Schicksal diese Tat zu einer historischen gemacht, durch sie hat Ferdinand Holthoff den schlimmsten Feind der Republik kalt gestellt. Ohne ihn wären wir heute wieder Rolfingische Knechte unter König Amadeus I. und seinem famosen Minister Erich Diego. Das Herz steht einem still, wenn man nur daran denkt. Darum, meine Herren, ehren Sie den Angeklagten durch Freispruch. Sie können, Sie dürfen, Sie müssen es tun.«

Den Beifall, der den Redner immer wieder unterbrochen hatte, glich einem Sturm, der sich nicht beruhigen konnte. Es war dem Vorsitzenden unmöglich, die Ruhe aufrecht zu erhalten. Sobelsohn schwamm in der Flut des höchsten Triumphes seines bisher obskuren Lebens.

Was auch Ferdinand in der letzten Zeit an inneren Erregungen durchgemacht, niemals hatte er solche Qualen erlitten, wie unter dem Zwang, bis zum Ende anhören zu müssen, wie hier die intimsten, seelischen Vorgänge verfälscht wurden und, der Welt zugekehrt, ein Bild entstand, in dem jedes Wort, jedes Gefühl, jede Triebfeder in ihr Gegenteil verwandelt erschien. Mehrmals wollte er aufspringen, aber die Wachleute an seinen Seiten hielten ihn zurück. Hie und da entrang sich ihm ein dumpfer Ton des Zorns oder Ekels, was anfangs alle Blicke auf ihn lenkte, dann aber immer mehr unbeachtet blieb, je stärker der Redner die Hörer hinriß. Als er aber die Forderung des Freispruchs vernahm, hielt es ihn nicht länger, und er schrie durch den Lärm seinem Verteidiger zu:

»Sie sind ein Lügner, ein Fälscher!«

Niemand hatte diesen Ausruf recht verstanden. Als ihm der Vorsitzende das Schlußwort erteilte, wendete sich Ferdinand mit tränenerstickter, fast jammernder Stimme an die Geschworenen, deren stumpfsinnige Gesichter über eine Holzschranke ragten. Es waren ausschließlich Soldaten, stellenlose Kellner, Bierwirte, Chauffeure, meist Anhänger Todtmoosers.

Während Ferdinand anfangs mühsam sprach, wurde er allmählich aus den Tiefen seines Wesens her von einer leidenschaftlichen Macht des Wortes ergriffen, die in ebensolchem Gegensatz stand zu seiner sonst sehr spärlichen Ausdrucksweise, als zu der schwungvollen Phrase seines Anwalts.

»Meine Herren, haben Sie Mitleid mit mir, einem armen, schuldigen Menschen, und verurteilen Sie mich nicht zur sofortigen Rückkehr in's Leben. Ich bin kein Redner wie der, welcher eben gesprochen hat. Ich muß meine ganze, letzte Kraft zusammennehmen, um mich Ihnen verständlich zu machen, Ihr Herz und Ihr Gewissen zu rühren. Hören Sie nun noch einmal von mir, was die reine Wahrheit ist: mein ganzes Leben war von einem verbrecherischen Wunsch unterwühlt gegen einen Unschuldigen, meinen Bruder. In meinem Wahn bildete ich mir schließlich auch noch ein, er habe mir die Braut abspenstig gemacht. Aber weder war sie meine Braut, noch hatte er die geringsten Versuche unternommen, sie mir zu entfremden. Ihr nächtlicher Besuch ist ganz gewiß harmloser Natur gewesen. Ich aber war verblendet. Nur zu gern habe ich es anders geglaubt, denn nun war ja der Anlaß da, die scheinbare Berechtigung, endlich das Verbrechen zu begehen. Nach der Tat fühlte ich erst eine Befriedigung in mir selbst. Nicht daß ich das Morden für erlaubt gehalten, nein, ich glaubte aber, ich hätte aus einem tiefen Drang meiner Natur so handeln müssen, und nun wollte ich dafür bezahlen. Bald indessen sah ich ein, wie unselig ich mich geirrt hatte. Wie Schuppen ist es mir von den Augen gefallen, daß mein Bruder nicht nur in diesem Augenblick unschuldig, sondern daß auch mein ganzer früherer Haß ein kindischer Unsinn, gänzlich grundlos, eine reine Ausgeburt meiner Schwäche und meines Neides gegenüber dem Besseren war. Wenn daran noch der kleinste Zweifel bestehen konnte, so mußte ihn heute das Zeugnis des Fräulein von Kaden lösen. Sie hat die Wahrheit gesagt, als sie von ihrer Antipathie, von unserem gemeinsamen Haß gegen meinen Bruder sprach. Nur ist sie rechtzeitig zur Besinnung gekommen, und statt ihn zu töten, hat sie ihn um Verzeihung gebeten. Seien Sie versichert, meine Herren, daß es so war, weil es gar nicht anders sein konnte. Ich aber bin nicht zur Besinnung gekommen und habe die letzten Folgen aus diesem Haß gezogen. Darum ist ihre Schuld verziehen, ich aber stehe hier als Verbrecher.

Ich habe viel mehr, als die eine Tat zu büßen, ein ganzes Leben voll grundlosen Neides. Sie dürfen mich darum nicht um meine Strafe betrügen. Das Gesetz gibt dem Verbrecher ein Recht auf die Wohltat der Strafe, damit er Zeit hat, wieder zu sich selber zu kommen. Ich habe vierzig Jahre nicht bei mir selber, sondern in einem verbrecherischen Wahn gelebt. Für mich gibt es jetzt nur eine Zuflucht: die Strafe. Versagen Sie mir die einsame Zelle nicht, auf die ich einen Anspruch habe, als schuldiger Mensch, der mit seiner Schuld nicht unter Menschen leben kann. Aber vorher lassen Sie mich zu ihm, zu meinem Bruder. Er ist der großmütigste und beste Mensch, der lebt. Niemand kennt ihn wie ich. Ich weiß, er wird mir verzeihen, ja, ich bin gewiß, er hat mir schon verziehen, noch mehr, er wird mich sogar verstehen. Wäre er nur hier und könnte meine armen Worte unterstützen. Er würde Sie durch die unwiderstehliche Macht seines Wesens zwingen, mir die Strafe zu geben, um die ich Sie nur bitten, nur anflehen kann. Meine Herrn, hören Sie nicht auf diesen falschen Freund, der mich vor Ihnen verteidigen wollte. Er ist ja selber viel zu klein, um auch nur zu ahnen, an was für Dinge er hier gerührt hat. Er glaubt, mir zu helfen und will mich um das letzte, einzige bringen, was mir noch in der Welt bleibt, das Recht, meine Tat zu büßen. Gibt es etwas Grausameres? Auch ich rufe Sie jetzt an, meine Herren, wie er es getan hat. Dazu dürfen, dazu können Sie nicht Ihre Hilfe geben.«

In dem Saal herrschte ein Schweigen tiefer Ergriffenheit. Ferdinand hatte mit großer Eindringlichkeit wenn auch nicht sehr laut gesprochen. Man glaubte, er sei zu Ende, aber nun begann er noch einmal. Seine Kraft schien indessen nachzulassen. Die Stimme zitterte, der Ton klang weinerlich, und nur mühsam brachte er noch einige Schlußsätze hervor.

»Ich muß Ihnen noch einmal sagen, was für ein edler Mensch mein Bruder ist. Nichts, nicht ein Wort ist wahr, was dieser gewissenlose Fälscher behauptet hat ... niemals hat er mich unterdrückt ... großmütig hat er immer auf meine Fehler und Schwächen geblickt ... mir Vertrauen geschenkt, als sei ich der Bessere ... das habe ich nicht vertragen ... er war Abel ... ich wollte Kain sein ... niemand hat ein Recht, das zu verdrehen. Darum flehe ich noch einmal, verurteilen Sie mich, nur mit der einen Vergünstigung, daß ich noch einmal zu ihm darf, ehe ich aus der Welt verschwinde. Verurteilen Sie mich, meine Herrn, schnell, schnell, es ist ja doch alles so klar, ... was ist da noch viel zu überlegen ... und kommen Sie bald aus Ihrem Beratungszimmer zurück, ehe ich den Verstand verliere.«

Entkräftet sank Ferdinand auf die Holzbank. Ohne das Geringste von dem Gesagten zu begreifen, blickten sich die Geschworenen an. Einige schauten fragend auf Dr. Sobelsohn, dessen Mund während der Rede seines Angeklagten ein künstliches Lächeln der Ironie gekräuselt hatte. Er machte nun, nach der Geschworenenbank gerichtet, eine Gebärde gegen die Stirn, um auszudrücken, daß es im Kopf des Angeklagten nicht ganz richtig sei.

Während sich die Geschworenen zurückzogen, herrschte furchtbares Schweigen in dumpfer Schwüle. Der Nachmittagshimmel hatte sich grau überzogen, an allen Fenstern des Saales summten dichte Scharen schwarzer Fliegen. Sobelsohn war aufgestanden und trommelte nervös an den Scheiben. Die Geschworenen kamen sehr schnell zurück. Der Obmann sagte mit schlecht verständlicher, stark mundartlich gefärbter Sprache, daß die Schuldfrage einstimmig verneint worden sei.

Ferdinand stieß einen Schrei aus und sank zurück.

Nach der Verlesung des Urteils durch den Vorsitzenden erhob sich der Staatsanwalt und beantragte die Fortdauer der Haft Ferdinands wegen des dringenden Verdachtes, daß er an der monarchistischen Verschwörung seines Bruders beteiligt gewesen sei.

Die beiden Wachmänner brachten den Halbbewußtlosen in seine Zelle zurück, von wo er, ebenso wie Melusine, noch in der Nacht auf Todtmoosers Befehl zu den politischen Angeklagten in den Keller des Auswärtigen Amtes überführt wurde.


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