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Mitte Juli 1849 kam ich aus dem Schwarzwalde nach Stuttgart zurück, wo ich erfuhr, dass Uhland sich wiederholt nach mir erkundigt und für den Fall meiner Rückkehr die Einladung hinterlassen habe, ihn in Tübingen zu besuchen und längere Zeit sein Gast zu sein.
Natürlich beeilte ich mich, für diese Aufmerksamkeit meinen Dank zu melden und anzuzeigen, dass ich nächster Tage der freundlichen Einladung folgen würde; und dies geschah denn auch. Nach manchem Regentage stand die Sonne wieder klar am Himmel, die Lerchen sangen, und die Wachteln schlugen, als ich, mein Ränzlein umgehangen, den schönen Berghang südlich von Stuttgart hinaufstieg, um nach Tübingen zu pilgern. Nach einer Wanderung von fünf bis sechs Stunden erreichte ich, während es bereits dämmerte, den Saum eines Gehölzes und sah mein Ziel, Tübingen, vor mir liegen. In einem Wirtshause an der Straße wimmelte es von Studenten, ein Trupp derselben sang heimkehrend in die Dämmerung hinein, und erquickt von ihren vollen frischen Tönen betrat ich bald die Musenstätte selbst.
Ich wollte Uhland an demselben Abend nicht mehr stören, nahm ein Zimmer im Gasthofe und ließ erst am nächsten Morgen fragen, wann ich, ohne unbequem zu werden, kommen dürfe.
Statt eines Boten kam Uhland selbst und führte mich unter freundlichen Vorwürfen, dass ich nicht schon abends bei ihm vorgesprochen, in sein Haus.
Dieses steht am Ufer des Neckar; gerade davor führt die Brücke über den Fluss und aus den Fenstern des oberen Stockwerkes übersieht man ein reizendes Stück des Neckartales, umrahmt von waldigen Höhen und Bergen. Ein freundliches Zimmer im oberen Teile des Hauses wurde mir eingeräumt und schön wie die Aussicht auf das grüne Thal erschien mir die Aussicht auf so manche gute Stunde in dem teuren Hause. Und ich täuschte mich nicht. Das Behagen eines Elternhauses überkam mich, als ich die freundlichen Blicke meiner Wirte sah und die Sorgfalt gewahrte, meinen Wünschen zuvorzukommen. Am nächsten Morgen hatte ich mirs in meinem Zimmer kaum bequem gemacht, als Uhland mit seiner Gattin hereintrat und mir einen Teller Obst aus seinem Garten überbrachte. Die liebevolle Art, mit der dies geschah, machte mich um Worte des Dankes verlegen, doch wurde mir nicht Zeit gelassen, unnötige Umstände zu machen, Uhland forderte mich aus, seinen Garten zu besehen und bei der reinen Sommerluft die Fernsicht zu genießen. Wir gingen zur rückwärtigen Türe des Hauses, das mit dem Rücken an dem Gartenhügel lehnt, hinaus und stiegen einen Geländersteig empor bis zum Scheitel des ziemlich ansehnlichen Hügels, der, mit Gartenanlagen bedeckt, sich gegen Nordosten zieht. Die Aussicht in das Neckartal nach Süden und nach Südwesten ist wirklich reizend und weitet sich insbesondere nach letzterer Richtung aus. Uhland und seine Frau erklärten mir die auffallendsten Punkte der Fernsicht, zeigten mir die wichtigsten Stellen der Stadt und zuletzt die ganze Anlage des Gartens, wobei sich Uhland als tüchtiger Pomologe erwies und seine Befriedigung besonders darüber äußerte, dass er bei mancher Abteilung des Gartens Anordner und Pfleger gewesen.
Ich bat Uhland dringend, von seinen gewohnten Arbeiten sich nicht ableiten zu lassen und während meiner Anwesenheit in seinem Hause nur in freien Augenblicken von mir Notiz nehmen zu wollen; er bemerkte freundlich, dass die Verfügung über seine Zeit ihm jederzeit freistehe und etwas Abwechslung in seiner häuslichen Stille ihm willkommen sei, doch wünsche er, dass auch ich in seinem Hause meinen gewohnten Arbeiten nicht ganz entfremdet werde. Es wurde bestimmt, dass die Vormittage stets der Arbeit, die Nachmittage und Abende kleinen Vergnügungen gewidmet werden sollten. – Ich suchte am ersten Morgen noch den Jugendfreund Uhlands, den sinnigen Liederdichter Karl Mayer, auf, in dessen von munteren braven Töchtern belebtem Hause ich später manche angenehme Stunde verlebte.
Wenn ich sagen sollte, welcher Tag und welche Stunde mir bei diesem wie bei spätern Besuchen Uhlands besonders lieb geworden, so wäre mir die Antwort nicht so bald zur Hand, denn mit gleicher Freude gedenke ich gar vieler Tage, welche ich als Gast des teueren Meisters verlebt. So wird mir stets erinnerlich bleiben, wie heiter wir eines Tages in größerer Gesellschaft von dannen fuhren, um der »uralten Eiche« unsern Besuch abzustatten.
Es war an einem schönen Sonntagsmorgen, die gute Stimmung wurde bald in Liedern laut, wir kamen durch manches grüne Tal mit Scharen geputzter Schwabenmädchen am Wege, und fröhlich wurde endlich am Fuße des greisen Eichenstammes halt gemacht, geschmaust und gesungen bis zur Stunde der Heimkehr. Ich werde auch des schönen Ausflugs nach Sebastiansweiler stets gedenken, der manche historische Erinnerung weckte und in duftiger Ferne die malerische Veste Hohenzollern sehen ließ; auch eines Wintermarsches nach Reutlingen in Gesellschaft eines Landsmannes, und Vischers, des berühmten Ästhetikers, werde ich mit Freuden mich stets erinnern – wie wurde da wacker gestritten und gescherzt, barbarisch gefroren ohne Klage und zugeschritten ohne Murren! Mancher Lorbeerbaum würde jetzt die Straßenränder zieren, wenn die großen Namen und Theorien Wurzeln geschlagen hätten, welche den Weg entlang ins Erdreich fielen! Allein ein Tag wird denn doch den Vorrang haben in meinem Herzen, jene wundersame Wanderung mit Uhland allein nach dem berühmten »Lichtenstein« und der bekannten »Nebelhöhle!«
Wir waren frühmorgens mit der Post (ich glaube bis Pfullingen) gefahren, hatten uns hier mit einem Imbiss und einem Gläschen Wein gestärkt und traten nun wohlgemut – es war ein warmer Sommermorgen – den Weg nach unserm Ziele zu Fuß an. Wir schritten tüchtig aus, von manchem alten und neuen Leide des Vaterlandes redend und von den fehlgeschlagenen Versuchen, das schöne deutsche Reich zu erwünschter Einheit auszubauen; Uhland gestand mir jetzt, er habe zur Zeit, als die Dinge noch vielverheißend waren, ein Gedicht begonnen, des humoristischen Inhalts: »Alle die würdigen Herren und Meister des Reichstags – Minister, Präsidenten, Bischöfe, Barone und Gelehrten – möchten sich vorsehen und ja es an Strenge und Reinheit ihrer Absichten nicht fehlen lassen, da es leicht geschehen könnte, dass der Himmel, durch einen Vorfall verstimmt, alle ihre Bestrebungen zunichte mache. Denn in Schwaben habe eine Gemeinde, die stets für ihren Landtag in erster Reihe unsern lieben Gott als Deputierten gewählt, bei ihrer Parlamentswahl den höchsten Herrn vergessen und ein einfach Menschenkind nach Frankfurt am Main entsendet.« Motivierung und Pointe dieser Idee, in Uhland'scher Weise durchgeführt, hätten diesem Gedichte auch später noch eine Bedeutung verleihen müssen – aber eben weil die Dinge endlich gar so trüb und kümmerlich verliefen – »verließ mich die Neigung zur Arbeit,« sagte Uhland, »und ich halte es für gut, dass sie nicht vollendet und damals gleich veröffentlicht wurde.«
Inzwischen zeigte mein verehrter Führer nach mancher Höhe und nach manchem Grund am Wege, von denen eine Sage geht, und so kamen wir, die Gegenstände unserer Unterhaltung oftmals wechselnd, bergab und bergauf zum schönen Lichtenstein und von hier, nach kräftigem Mittagstisch und guter Rast, zur wunderlichen »Nebelhöhle«, die wir mit Fackeln bedächtig und lange durchschritten.
Ich hatte in der Stille Uhlands rüstigen Schritt bewundert und bemerkte jetzt noch, dass er nicht lässiger wurde, als wir nachmittags in scharfer Sonnenhitze unsern Rückweg begannen. Auch an Gesprächen mancher Art gebrach's noch immer nicht, und ohne Ahnung, was den Meister nach und nach bedrücken mochte, gab ich manchen heiteren Bericht aus dem Leben Wiens und meiner österreichischen Heimat zum Besten; einen solchen hatte ich, durch eine Zeitungsnotiz angeregt, eben wieder begonnen, als wir eine Ortschaft an der Straße erreichten und Uhland plötzlich stehen blieb, indem er sagte: »Ich spräche gern den Messner hier, wollen Sie warten, bis ich wieder komme?« Und nach diesen Worten ging er stille dem Gottesacker zu und verschwand hinter einer kleinen Mauertür. Ihn zurückerwartend, setzte ich mich vor ein Haus auf einen Stein und sah einem Mädchen zu, das – ein wahres Lorlegesichtchen – den Hühnern goldgelbe Körner vor die Türe streute. Etwa eine halbe Stunde mochte vergangen sein, als die Kirchhoftüre wieder aufging und Uhland in Begleitung eines alten Messners heraustrat. Er winkte diesem rasch zum Abschied und kam wieder auf mich zu. Ich merkte, dass er gerötete Augen habe, stand eilig auf und schloss mich ihm zum Weitermarsche an. Ohne zu wissen, was sein Herz beschwere, sah ich doch das Ringen eines tiefen Leides in seinen Mienen und gedachte am besten schweigend neben ihm weiterzugehen. Wir hatten so bereits den Ort und eine Strecke der freien Straße hinter uns, als Uhland selbst das Schweigen brach und sagte:
»Die Zeit der letzten politischen Aufregung hat manche Erscheinung zu Tage gefördert, die seltsam, unerklärlich ist. In dieser Gegend hat eine tiefe Schwermut und Todessehnsucht mehrere Menschen fast zu gleicher Zeit befallen – und einige legten, um sich von dem dunklen Leide zu befreien, Hand an sich. Darunter war auch ein geachteter Mann dieses Orts, der mir nahestand, ein ausgezeichneter Mensch und glücklicher Familienvater (er war protestantischer Geistlicher). Eines Morgens waltet er noch in aller Würde und Ruhe seines Amtes, wird hierauf von einer unwiderstehlichen Schwermut befallen – nach wenigen Stunden – ist er nicht mehr ... Wir tagten noch in Frankfurt, als dies geschah; – heute komme ich zum ersten Male wieder in diese Gegend und treffe den Grabhügel desselben Mannes, welchen ich einst so wohl und zufrieden verließ! ...
Der einzelne Fall führte uns dann auf allgemeine Bemerkungen über ähnliche Fälle; verschiedene Ansichten und Beispiele wurden aufgeführt und schienen Uhland dem frischen Leide ein wenig zu entrücken. So erreichten wir endlich die Station, wo uns die Post wieder aufnahm, und wohlbehalten kamen wir spät abends wieder nach Tübingen und an unsern häuslichen Herd zurück.
Am folgenden Morgen erfreute mich Frau Uhland mit einem Geschenke, das ich als teueres Angedenken aufbewahre; es bestand in einer Cotta'schen Prachtausgabe von Uhlands Gedichten, in welche Uhland eigenhändig einige Zeilen geschrieben hatte: »Zur freundlichen Erinnerung an unsere Wanderung nach Liechtenstein, zur uralten Eiche und in die Nebelhöhle.« Die Unterschrift Uhlands führt den 13. August als Datum.
Die vertraulichen Verkehrsstunden im Hause Uhlands wurden entweder auf seiner Studierstube genossen, wo ich mit Uhland gewöhnlich allein war, oder sie verflossen in bester Geselligkeit beim Frühstück, Mittags- und Abendtisch; Frau Uhland, deren Adoptivsohn und ein studierender Verwandter bildeten hier unsere angenehme Gesellschaft. Auf Uhlands Studierstube wurden ausschließlich wissenschaftliche oder literarische Gegenstände besprochen. Unter diesen hatte mancher für uns ein naheliegendes Interesse und beschäftigte uns auch oft genug, besonders ältere oder neuere Volksliteratur, Sitten, Gebräuche, Volkslieder, desgleichen Dialektforschung. Welch ein weites Feld an Kenntnissen Uhland hier beherrschte, ist bekannt; ich verdanke ihm auch viele wertvolle Andeutungen und habe aus der Benützung seiner reichhaltigen Bibliothek seltene Vorteile gezogen.
Uhlands meisterhafte Abhandlung über die Mythe des Gottes »Thor«, welche ich erst im Hause des Verfassers kennen gelernt hatte, gab uns einige Tage reichen Stoff zu Unterredungen, wobei ich einmal die Bemerkung fallen ließ, dass ich eben im Begriffe stehe, ein kleines Idiotikon aus dem Dialekte meiner Heimat zusammenzustellen; dasselbe habe nur den Zweck, germanisch-mythologische Überbleibsel und Anklänge im Volksdialekte anzudeuten. Der Gegenstand interessierte Uhland, und ich hatte öfter Gelegenheit, seine reichen Kenntnisse in dieser Richtung zu Rate zu ziehen; er bat mich, aus seiner Bibliothek alles nötige Rüstzeug zu meiner Arbeit auf mein Zimmer zu nehmen, belud sich selbst mit dem, was ihm brauchbar schien, und schichtete Folianten um Folianten auf den Tisch meines Zimmers.
Eines Morgens wollte ich Uhland eine Freude dadurch bereiten, dass ich ihm einen sehr schönen Kupferstich zeigte, welcher eine Szene aus einer seiner historischen Balladen darstellte, und zwar meines Erachtens in recht gelungener Weise. Uhland warf aber nur einen flüchtigen Blick auf das Bild, legte dasselbe etwas verstimmt beiseite und sagte nach einer Pause:
»Ich liebe solche Bilder nicht. Die Maler sollten derlei Gegenstände nicht zum Vorwurfe ihrer Kunst machen. Entweder sollten sie wirkliche Geschichten darstellen oder nur Gedichte rein poetischen Inhalts illustrieren. Historische Stoffe, welche einmal den Weg durch Sage und dichterische Form hindurch gemacht, führen den Künstler auf einen Zwitterboden, der sehr bedenklich ist; denn indem auch der Maler dem fort und fort verwandelten Stoffe noch einmal in seiner Weise ein eigenes Gepräge gibt, geht zu leicht die historische Wahrheit, Ursprünglichkeit und Kraft verloren!«
Als wir eines Tages in längerer Unterredung über die lebenden österreichischen Poeten sprachen, deren ältere Gruppe: Grillparzer, Halm, Grün, Lenau, Bauernfeld, Castelli, Frankl, Ebert, Seidl, Vogl, die er mehr oder weniger kannte, deren jüngere Gruppe aber: Meißner, Betty Paoli, Hartmann, Beck usw. ihm nur ans Besprechungen bekannt waren, beklagte Uhland aufrichtig, dass kein Literaturblatt vorhanden sei, welches die neueste Literatur, in ihren wesentlichen Erscheinungen umfassend, unparteiisch, fern von Cliquenwesen und verhärteter Widerhaarigkeit des Urteils zur Kenntnis bringe; er gab den Wert mancher Mitteilungen und Urteile in den vorhandenen Literaturblättern zu, aber ein gedrängtes und richtiges Gesamtbild der literarischen Gegenwart aus den zahlreichen Blättern, die Kritik betreiben, sich zusammenzustellen, sei für den Mann der Wissenschaft oder eines Amtes gar nicht möglich, abgesehen davon, dass der Privatmann gar nicht in der Lage sei, diese Blätter alle für seinen Privatgebrauch anzuschaffen. Uhland hätte zu seiner Anregung und Orientierung gerne ein in jeder Weise genügendes Literaturblatt gewünscht; lobend erwähnte er die meist glücklich gewählten Auszüge ans guten Werken in den »Blättern für literarische Unterhaltung«. Bei dieser Gelegenheit kam die Sprache auch auf die überhandnehmende Wut, lyrische Gedichte aus gedruckten Werken zu sammeln und sie in sogenannten Albums zu veröffentlichen. Uhland sprach sich tadelnd darüber aus und zwar aus verschiedenen Gründen. Abgesehen von der unbescheidenen Art, mit welcher solches Ausbeuten oft betrieben wird, fördere das Zusammenwürfeln von Arbeiten mannigfaltiger Poesien die ohnehin so bedauerlich einreißende Zerstreuung der Menschen auch bei der Lektüre. Was der einzelne Poet sorgfältigst als ein charakteristisches Ganzes aus seinem Geistes- und Gemütsleben zusammenstellt und zu gegenseitiger Folie aufreiht, das werde meist mit unzarter Hand in unnatürliche Reihenfolge und Gemeinschaft zusammengezwungen. Jedes Poeten Werke seien ein harmonisches Ganze für sich, aber ein Album, wie die meisten eben sind, sei eine unheilige Ausstellung bunter Ware, die Geist und Sinne zerstreuen. Des Menschen Geist und Gemüt in einem guten Buche zu sammeln und so zu stärken, sei eine würdige Aufgabe, den Menschen durch bunt zusammengewürfelte Werke nach Geist und Gemüt zu zerstreuen, sei ein nicht zu billigendes Unternehmen. Sollte eine Sammlung von Gedichten verschiedener Autoren gut und zu billigen sein, so müsse die Auswahl nach einer würdigen Gesamt-Idee geschehen, die als alleiniger Ersatz für die fehlende Einheitlichkeit des Poetengemütes gelten möge. Das Schlimmste bei vielen dieser Sammlungen sei, dass dieselben nicht einmal aus den Originalwerken zusammengestellt, sondern wieder nur aus andern Albums abgeschrieben sind, so dass die Poeten noch von Glück sagen können, wenn sie nicht überdies noch ein Schock Druckfehler in den Kauf nehmen müssen!«
Bei dem Worte »Druckfehler« fiel mir das in seiner Art einzige Missgeschick ein, welches Uhland bei der ersten Ausgabe seiner Gedichte zugestoßen sein soll. Denn als ein Teil der Ausgabe bereits versendet war, entdeckte man, dass die zwei ersten Verse des köstlichen Vorworts, anstatt zu lauten:
Lieder sind wir, unser Vater
Schickt uns in die offne Welt –
lauteten:
Leder sind wir, unser Vater
Schickt uns in die weite Welt!
Natürlich hütete ich mich, dieses Missgeschickes zu erwähnen, da es denn doch der größten Objektivität eines Poeten nicht gegeben sein kann, angesichts eines solchen Druckfehlers die Fassung zu bewahren; übrigens war und bin ich auch jetzt noch nicht gewiss, ob die ganze Überlieferung nicht überhaupt nur eine anekdotenhafte Erfindung ist ...
Bei Tische ging es immer einfach häuslich und gemütlich her. Uhland erschien gewöhnlich sehr ernst und schweigend bei Tische. Sein Geist schien noch am Studiertisch seiner Gelehrtenklause zu weilen. Das hinderte aber nicht, dass wir uns scheinbar gar nicht daran kehrten. Der Adoptivsohn, von seinen zweiten Eltern einfach »Karl« genannt (ein trefflicher, munterer studiosus medicinae mit rundem Gesichte und schönen braunen Augen) – »Karl« also und ich suchten womöglich durch heitere Mitteilungen irgendein Gespräch in Gang zu bringen; Frau Uhland stimmte, wenn wir's nicht etwa ein wenig zu toll trieben, ein und der verwandte Studiosus blieb auch nicht zurück. Während wir also ganz unter uns, als wäre Uhland gar nicht zugegen, unsern munteren Gesprächen nachhingen, heiterte sich Uhlands Antlitz nach und nach auf – und unversehens war auch er Teilnehmer an der Unterhaltung und mitunter nicht der wenigst heitere. – Einmal erschien Uhlands Karl etwas zu spät bei Tische, und indem er sein langes Wegbleiben entschuldigte, glänzte sein hübsches, gutes Schwarzwäldergesicht von Freude und Aufregung. Zwei »Albinos« waren in Tübingen angekommen; diese hatte der lebhafte Studiosus im ersten Eifer der Neugierde gesehen und schilderte jetzt, da er wegen des Mittagstisches nach Hause gestürmt war, seine Beobachtungen mit so atemloser Hast und einer Art bestürzter Verwunderung, dass die Schilderung mitsamt dem Schilderer unwillkürlich ins Ergötzliche umschlug. »Alles ist weiß an ihnen – die Haare, die Augenbrauen, die Lippen« – hieß es in atemloser Hast. »Auch die Stimme?« sagte ich, da Uhland, den Schilderer unverwandt ansehend, zu lächeln begann. » Ja«, fiel Uhland ein, »weiß ist auch das Schwarze im Auge und weiß sogar einer der roten Augäpfel!« Ein lautes Gelächter war die Folge, in welches Freund Karl natürlich selbst einstimmte.
Um die Mittagsstunde versammelten wir uns eines Tages im Speisezimmer und warteten auf das Erscheinen Uhlands. So pünktlich er sonst zu kommen pflegte, heute kam und kam er nicht. Das Dienstmädchen, welches zuerst geschickt worden war, um Uhland zu Tische zu bitten, kehrte, ohne ihn gesehen zu haben, mit der Nachricht zurück, dass ein Herr bei ihm sei, welcher in einem fort und sehr laut spreche. Frau Uhland ließ nun mit dem Aufträgen der Suppe noch eine Weile warten und gestattete vorläufig nicht, dass ihr Mann in seiner Kontroverse mit dem Fremden gestört werde; als aber eine gute Viertelstunde abermals unter vergeblichem Warten dahingegangen war, schickte sie ihren Karl hinab, um nachzusehen, was es denn mit dem Fremden für eine Bewandtnis habe. Karl kam mit der Nachricht zurück, dass der Fremde mit Uhland eigentlich nicht spreche, sondern dass er ihm vorlese. Frau Uhland fasste jetzt den für eine Hausfrau immer heroischen Entschluss, die bereits aufgetragene Suppe wieder vom Tische entfernen zu lassen und um des Fremden willen das Äußerste an Geduld zu erschöpfen; allein es verstrich wieder Viertelstunde um Viertelstunde – der Fremde las noch immer fort und Uhland horchte »unentwegt«. Wir glaubten schon, einer der ersten lebenden Dichter sei zu Uhland gekommen, um ihm ein epochemachendes Werk in erster Autorenfreude vorzulegen, allein selbst dieser Umstand würde die Frage offen gelassen haben, ob es zweckmäßig sei, die Lektüre so ungebührlich in die Zeit des Mittagstisches auszudehnen. Endlich, da alle menschliche Geduld der trefflichen Hausfrau erschöpft war – der Fremde noch immer las und las – schickte Frau Uhland das Mädchen nach der Studierstube, um so gelinde als möglich anzufragen, ob Herr Uhland vielleicht Zeit habe, zu Tische zu kommen. Diese Frage schien den in sein poetisches Werk ganz und gar versunkenen Fremden wieder auf die Höhe des Lebens zu bugsieren – er war nur noch eine kurze Strecke von der Barriere eines Abschnittes entfernt, die er nun im Fluge zu erreichen strebte und an der er endlich, wenn auch ungern, halt machte. Er verabschiedete sich hierauf, und Uhland kam, ernst wie gewöhnlich, und etwas abgespannt, zu Tische. Er würde höchst wahrscheinlich des Besuches gar nicht erwähnt haben, da er die vorgerückte Mittagszeit nicht so wie wir gewahr geworden, allein Frau Uhland wünschte doch, wie wir alle, zu erfahren, wer denn heute Uhlands Gesellschaft so andauernd in Anspruch genommen, und sie stellte demnach die Frage nach dem Fremden. Uhland erwiderte ernst lächelnd: »Ein junger Schweizer war hier. Er brachte ein größeres Epos mit und wünschte mir einen oder zwei Gesänge vorzulesen. Ich ersuchte ihn darum, und da mir aus dem Anfange wirklich Talent zu leuchten schien, so sagte ich ihm einige freundliche Worte. Diese schien er aber etwas misszuverstehen, denn er betrachtete sie als eine Aufforderung, im Vorlesen fortzufahren und ich – was sollte ich tun? – ließ ihn gewähren. Der junge Mann tat mir leid, da er bis aus der Schweiz eigens zu dem Zwecke zugereist war. Mir geht es aber mit größeren Dichtungen, die ich in einem Zuge genießen soll, wie mit langen Theater-Vorstellungen. Anfangs bin ich ohne Anstrengung dabei, später aber lässt meine Aufmerksamkeit nach, und ich verliere den Zusammenhang. So ging es mir eben auch mit der längeren Vorlesung. Um den jungen Poeten aber nicht mit einem unrichtigen oder bloß allgemeinen Urteile zu entlassen, habe ich ihn um sein Manuskript ersucht und werde ihm dasselbe mit einer schriftlichen Beurteilung später zusenden.«
Nach Tische hatten wir uns kaum erhoben, als durch die nach dem Neckar gerichteten offenen Fenster ein dumpfer vielstimmiger Trauergesang erscholl. Im ersten Augenblicke dachten wir nichts anderes, als dass ein Leichenzug vorüberkomme, aber an die Fenster tretend, wurden wir alsbald eines Besseren belehrt. Vor dem Hause Uhlands stand allerdings eine schwarze Kutsche mit schwarzen Pferden bespannt, die Kalesche war mit Trauerkränzen behängen, der Kutscher steckte im schwarzen Rocke und hatte eine schwarze Kokarde auf dem Hut. Indes der sonderbare Trauerwagen ruhig vor dem Hause hielt, kam der erbärmlich zu Herzen gehende Gesang von der sogenannten Eiferdei, dem Studenten-Belustigungsorte, näher, und bald erblickten wir einen jungen Theologen, ein schwarzes Tuch in die Augen drückend, feierlich und schmerzhaft daherschreiten und sich dem Wagen nähern. Hinter ihm folgten sechs Studenten, hemdärmlig und in schwarzen Beinkleidern, vier derselben trugen ein mit Trauerflor behangenes Bierfass, von welchem breite Blumenbänder herabhingen, deren Enden zwei Studenten feierlich in den Händen hielten. Der Sinn des ganzen Aufzuges war, dass der junge Theologe eben die Universität verlassen sollte, dem nun seine Kameraden bis an den Wagen das Trauergeleit gaben. Natürlich vor allem um den Durst des Abziehenden auf der Reise besorgt, sollte er ohne Begleitung eines Bierfasses die Musenstadt nicht verlassen. Das Fass wurde denn auch unter andauerndem Trauergesange neben dem Kutscher auf den Bock gebunden, dann stieg der schluchzende Theologe in den Wagen, die Pferde zogen an, und unter – »Gaudeamus igitur«, das die nachsehenden Studienbrüder plötzlich anstimmten, flog die Reisekutsche von dannen. Die ganze Szene war durch ihre scharfen Kontraste höchst ergötzlich, und Uhland teilte unsere Heiterkeit. »Was fängt aber der Theologe mit dem Bierfass unterwegs an?« fragte ich. »O, der wird nicht lange darüber Nachdenken dürfen«, sagte Freund Karl. »Vor einer der nächsten Kneipen der Landstraße lässt er seinen Wagen halten, das Fass abladen – und ehe das geschehen ist, haben ihn seine Kameraden zu Pferde eingeholt und helfen ihm mit dem edlen Nass schneller fertig werden, als man denkt!« ...
Vor denselben Fenstern ereigneten sich überhaupt während meiner wiederholten Anwesenheit in Uhlands Hause manche heitere Szenen. Einmal – es war im tiefen Winter – es hatte zwei Tage und zwei Nächte ununterbrochen geschneit und fuhr noch immer fort, die hochliegenden Schneemassen bedenklich zu vermehren – traten wir nach dem Frühstücke an die Fenster, um das Schneegefilde zu überblicken und zu prüfen, ob die Fülle des Firmaments noch immer nicht erschöpft sei, da hörten wir das Knallen einer Fuhrmannspeitsche von der Stadt her, zwischen den Torpfeilern in der Nähe erschien ein Paar Pferde und hinter diesem noch ein Paar; dieses vierhäuptige Gespann machte alle Anstrengungen, einen Wagen durch das verschneite Tor zu ziehen, aber vergebens; nur bis zum Fuhrmannssitze, aus welchem aber nur eine Gans in einem Korbe festgebunden saß, wurde das Gefährte sichtbar. Nun machte es einen wahrhaft komischen Eindruck, zu hören, wie die Peitsche des Kutschers fortwährend hinter der Mauer knallte, ohne dass der Fuhrmann zum Vorschein kam, wie die vier Pferde ununterbrochen ihr Bestes taten, ohne den Wagen von der Stelle zu bringen, und wie die Gans, mutterseelenallein auf dem Bocke, erschrocken-zierlich hin und wieder blickend, immer ängstlicher und doch mit Anstand nach den Ursachen des Unglücks oder noch größeren kommenden Übeln spähte, dazwischen aber auch manchmal wie verschämt einen Blick nach unsern Fenstern warf. Unwillkürlich fielen mir die Verse aus dem Kinderbuche ein, die ich laut hersagte:
Was hat die Laus auf ihrem Kragen?
Was fehlt der Gans?
Den Fuhrmann mit dem Wagen
Hat die Gans auf ihrem Kragen,
Das fehlt der Gans!
Kliff, klaff! schnalzte die Fuhrmannspeitsche weiter, die Pferde zogen an, der Wagen aber rückte nicht vor und die Gans fuhr fort, verschämt und erschrocken zu uns aufzublicken – da las Freund Karl aus dem schnell geholten Buche:
Was hat die Gans auf ihrem Kopfe?
Was fehlt der Gans?
Den Kopf mitsamt dem Topfe
Hat die Gans auf ihrem Kopfe,
Das fehlt der Gans!
Kliff, klaff! schnalzte die Peitsche weiter, die Pferde zogen fruchtlos an, die Gans schielte ängstlicher und verschämter zu uns auf – wir zitierten die weitere Strophe:
Was hat die Gans auf ihrem Schnabel?
Was fehlt der Gans?
Den Ritter mit dem Sabel
Hat die Gans auf ihrem Schnabel,
Das fehlt der Gans!
Da druckte sich der Fuhrmann zwischen Torpfeiler und vorderem Rade zu den Pferden durch – und mit einem Male kam der Wagen vom Fleck mit der im Triumphe schnatternden Gans auf dem Bock. Die Szene hatte auf uns alle die ergötzlichste Wirkung getan ...
Die Sommernachmittage wurden, wie erwähnt, bei schönem Wetter zu Ausflügen benützt, bei welchen die befreundete Familie des Ober-Appellationsrates und Liederdichters Karl Mayer häufig erschien und nicht wenig zur Belebung beitrug; im Winter wurde für solche Vergnügen entsprechender Ersatz gefunden. Frau Uhland pflegte manchmal einen geselligen Kreis, meist von Damen, im Hause zu versammeln und Leseabende zu veranstalten. Zweimal in der Woche besuchte ich mit Uhland und Karl Mayer eine kleine Kneipe, in welcher sich der Theologe Professor Baur (Strauß' Lehrer), der Chemiker Gmelin und noch einige bedeutende Professoren einzufinden pflegten. Der Ästhetiker Vischer, damals gerade politisch verstimmt, zeigte sich wenig an öffentlichen Orten, ihn musste ich in seiner Klause aufsuchen, wenn ich seiner habhaft werden wollte.
Von den kleineren Ausflügen sei hier vorzugsweise eines Besuches gedacht, welchen wir einer seltenen poetischen Stelle in der Nähe von Tübingen gemacht; der Besuch galt jenem Hügel, auf dessen Scheitel sich die »Wurmlinger Kapelle« befindet. Nicht weniger als drei der ersten Dichter neuester Zeit haben diesen Hügel und diese Kapelle verherrlicht: Uhland, Lenau und Gustav Schwab – abgesehen von der Volkssage, welche Hügel und Kapelle ebenfalls zu Gegenständen ihrer Erfindungen gewählt. Uhland hat in seinem Gedichte die Stelle zwar nicht näher bezeichnet, aber ich weiß aus sicherm Munde, dass er den Hügel mit der Wurmlinger Kapelle vor Augen hatte, als er sein berühmtes Lied sang:
D'roben stehet die Kapelle
Schauet still ins Tal hinab,
D'runten singt bei Wies' und Quelle
Froh und hell der Hirtenknab'!
Lenau hat sein Gedicht: »Die Wurmlinger Kapelle« überschrieben. Karl Mayer erzählte mir, Lenau habe einst während seines Aufenthalts in Tübingen in Gesellschaft Uhlands, Mayers und einiger Frauen einen Ausflug nach dem erwähnten Hügel gemacht und im Augenblick der Rückkehr sich erbeten, allein bei der Kapelle zurückbleiben zu dürfen. Es war im Herbste. Tiefe Schwermut hatte Lenau wie so oft befallen. Man überließ ihn natürlich der gewünschten Einsamkeit, und jenes berühmte Gedicht, welches seine Stimmung nur zu deutlich ausdrückt, entstand an jener Stelle. Nun wird über die Entstehung der Wurmlinger Kapelle erzählt: Ein württembergischer Graf habe einst in seinem letzten Willen festgesetzt, dass sein Sarg auf einen Wagen gelegt und von einem Paar Ochsen ganz nach Belieben im Lande herum gezogen werde, dort, wo die Tiere stehen bleiben würden, sollte sein Grabmal errichtet und darüber eine Kapelle gebaut werden. Nun sei, so heißt es, das Gespann des Wagens auf eben jenem Hügel stehen geblieben, den jetzt die Wurmlinger Kapelle schmückt. Diese Sage ist es, welche Gustav Schwab unter dem Titel »Die Wurmlinger Kapelle« in schönen Versen wieder erzählt ...
Beim Abendessen ging es gewöhnlich etwas stiller und manchmal ernst und gemessen her. Als wir einmal über die Macht der Nachwirkung einer bereits überwundenen, und zwar unbewusst überwundenen Gefahr sprachen, freute sich Uhland, uns ein poetisches Meisterstück dieser Empfindung von seinem Freunde Gustav Schwab vorlesen zu können, ließ dessen Gedichte herbeiholen und trug die Sage: »Der Ritt über den Bodensee« wahrhaft vorzüglich und wirkungsvoll vor.
Manchen Leser dürfte es überraschen, Uhland als fleißigen Kirchengänger erwähnen zu hören. Und in der Tat war er dieses im besten Sinne des Wortes. Jeden Sonntag ging er an der Seite seiner Frau nach der Kirche und hörte die Predigt von Anfang bis zu Ende aufmerksam an, doch ließ er sich nie (wenigstens in meiner Gegenwart nie) lobend oder tadelnd über den Inhalt eines Kanzelvortrages aus. Sein tief religiöses Gemüt, an welchem niemand zweifeln wird, der die Gedichte Uhlands nach dieser Richtung hin durchgeprüft hat, war, wie ich aus Uhlands Benehmen gegen mich selbst entnahm, zugleich von musterhaft zarter Rücksicht gegen Glauben und die Überzeugung anderer. Religion und Religiosität waren für ihn so seine weihevolle Gegenstände, dass er sie der zersetzenden Lust der Debatte, wie ich glaube, wo er nur konnte, entzog. Sooft ich Uhlands zarter, tiefer Gemütsart in religiösen wie poetischen Dingen gedenke, habe ich stets dessen ideal-schönes Porträt aus der Knabenzeit vor Augen. Es hing zur Zeit meiner Besuche im Wohnzimmer des ersten Stockes links gleich neben der Tür. Das blaue Auge des zarten sinnigen Knabengesichtes ist von rührender Klarheit und Milde. Der innere Uhland ist auch diesem Jugendbilde bis in sein Alter ähnlich geblieben. Wie eine symbolische Hinweisung auf den Umstand, dass Uhland seiner äußeren Erscheinung wegen so oft nicht als er selbst erkannt wurde, klang mir ein heiteres Erlebnis, welches mir Uhland, da ich ihn und seine Frau einmal auf einem Spaziergang begleitete, lächelnd erzählte. Auf der breiten Landstraße dahinwandernd, sah er einst mehrere Handwerksburschen auf ihn zukommen, welche, Arm in Arm marschierend und etwas angetrunken, Uhlands Ballade: »Ich hatt' einen Kameraden« sangen. Uhland wendete sich, um die wankende Kolonne nicht zu stören, nach der entgegengesetzten Seite der Straße und schritt hier weiter – als die Burschen, in seine Nähe gekommen, plötzlich eine Schwenkung machten, bei den Worten: »Als wär's ein Stück von mir« Uhland in ihre Kette einschlossen, ihn einen Augenblick bierselig anglotzten – die Kette wieder lösten und, das Gedicht weitersingend, ihres Weges gingen, ohne zu ahnen, dass sie den Verfasser des »Guten Kameraden« selbst mit ihrem Landstraßenhumor attackiert hatten ...
Ich habe schon oben erwähnt, dass neben Uhlands Hause die sogenannte »Eiferdei« sich befinde, eine vielbesuchte Studentenkneipe mit Garten. Da letzterer bis unmittelbar an die östliche Seite des Uhland'schen Hauses reicht und zur Sommerszeit von Studiosen fleißig besucht wird, so hatte Uhlands Nachtruhe eine sehr bedenkliche Nachbarschaft. Uhland hat aber trotz der zahlreichen nächtlichen Störungen nie eine Klage laut werden lassen; die Fröhlichkeit der akademischen Jugend, selbst wenn sie etwas überschäumte, besaß seine ganze Nachsicht und Neigung. Daher ließ er sich gerne auch die jüngsten Vorfälle des akademischen Lebens erzählen, insbesondere jene heiterer Art, wie folgende: Ein Studiosus kam um Mitternacht in sehr angeheitertem Zustande nach Hause, sein Quartier befand sich unter denen, die an die Fluten des Neckar grenzen, und da der Heimkehrende nicht im Stande war, Licht zu machen, so wollte er angekleidet in das Bett steigen – stieg zum Fenster hinaus und fiel in den Neckar. Auf seine Schmerzens- und Schreckensrufe stürmten seine anwohnenden Kameraden herbei, zogen den Unglücklichen, der sich wund gefallen hatte, aus dem Wasser und trugen ihn auf sein Zimmer. Während dieses Aktes gab er tiefe Stoßseufzer von Reue zum Besten, sagte, sich nie wieder betrinken zu wollen, und verstieg sich sogar zu guten Lehren für seine Kameraden. Als aber andern Tages der Arzt erschien und neue Verbände auflegte, sagte er seufzend: »Ich will doch ausziehen und weiter vom Neckar wegwohnen – denn man kann doch nicht wissen, was wieder einmal möglich wäre!
Gegen Ende November 1849 hatte ich Uhland brieflich angezeigt, dass ich seiner Einladungen gedenkend, von Stuttgart aus Anfangs Dezember nach Tübingen zu kommen vorhabe, worauf er mir folgende liebe Zeilen schrieb:
»Sie sind uns, lieber Rank, jederzeit schönstens willkommen, damit Ihnen aber der Aufenthalt bei uns behaglicher sein möge, schlage ich vor, ob Sie nicht, sofern es nicht Ihre Pläne kreuzt, statt in der ersten Woche Dezembers, sich zu Anfang der zweiten auf den Weg zu begeben vorziehen. Nehmen Sie dann eben mit unserm stillen, abgezogenen Leben vorlieb und trösten Sie sich damit, dass in dieser Stille Ihre Arbeit umso ungestörter vorrücken kann. Mayer grüßt Sie mit uns allen auf das Herzlichste.
Tübingen, 24. November 1849.
Der Ihrige
Ludwig Uhland.«
Ich kam also 8 Tage später – zum Weihnachtsfeste nach Tübingen, sah tapfer zu, wie die schmackhaften schwäbischen National-Springerle verfertigt werden, und wurde zum Dank für diese ökonomische Aufmerksamkeit am Weihnachtsabend vom Christkind mehr als reichlich beschenkt; am folgenden Sylvesterabend sollte ich auch dadurch beehrt werden, dass man eine größere Gesellschaft einlud, um meinem heimlichen Ehrgeiz als Violinspieler Raum und Publikum zu schaffen. Nach mancher Übungsstunde bei Freund Mayer kam denn auch der schöne Abend endlich heran, eine zahlreiche Gesellschaft war geladen, und bald stand nicht nur der brodelnde Tee auf dem Tische, sondern auch das Klavier wurde feierlich aufgetan und die Noten wurden zurechtgelegt; da trat Uhland in einer fröhlichen Stimmung, wie ich selten gesehen, zu mir und feuerte mich an, die Schlacht der Töne zu eröffnen; ich holte mir also das zärtliche Instrument, die Geige (vom Wiener Volke die Winsel genannt), prüfte die Stimmung derselben, verneigte mich gegen das im Halbkreise versammelte Publikum, blickte es mit wohlwollender Protektions-Miene an (ganz wie man es in Konzerten sehen kann) und begann sodann so schmelzend als möglich die damals unvermeidliche »Elegie« von Ernst zu spielen. Die Geige war glücklicher Weise von keiner Erkältung heiser und außerdem bei so guter Neujahrsnachtslaune, dass sie selbst, wenn ich etwas daneben griff, aus purer Artigkeit einen erträglichen Ton hergab. Und so darf es denn nicht wundern, wenn die liebliche Komposition (deren Doppelläufe ich übrigens, mit Demut seis gestanden, einfach spiele) ohne wesentlichen Unfall ausgeführt wurde. Ein Beifallsturm (man entschuldige, dass ichs selber sage) erhob sich, und ich bedauerte nur, dass kein Abgang nach einem Nebenzimmer vorgesehen war, um schnell zu verschwinden und infolge eines Hervorrufs gleich wieder zu erscheinen; in Ermanglung dessen blieb ich also ruhig stehen und verneigte mich so dankbar, als es die Umstände geboten; da erhob sich Meister Uhland und durch ernste Mienen die bewegte Versammlung zur Ruhe verweisend, begann er nach kurzer Pause etwa so: »Meine Herren und Damen! Wir haben einen Mann vor uns, dessen bescheidene Weise keine Ahnung zu haben scheint von dem, was in ihm von angeborenen Talenten lebt und webt! Noch voll der Bewunderung einer Leistung, die wir eben genossen haben, halte ich es für meine ernste Pflicht, den jungen Mann aufzuklären über seine Bedeutung an sich und für die löbliche Versammlung hier!« Und nun wurde mir ein Ehrenkranz gewunden aus so zahlreichen Zeitungsphrasen als nur je die unverfrorenste Reklame für einen Konzert-Virtuosen aufgetrieben. Gebeugt von der Überlast von Schmeicheleien aus so ehrwürdigem Munde, stemmte ich die Geige in die Seite und streckte meinen Bogen salutierend zur Erde; erst als der Redner geendet, ein wiederholter Beifall erklungen war, erhob ich mich feierlich wieder, um meinen Dank – in einer zweiten Partie meiner Kunst: in Lanners lieblichen »Steirern » auszudrücken. Ein noch wärmerer Beifall – und ein höchst belebter, heiterer Abend folgte dieser kleinen Narretei und noch spät nach Mitternacht erklang das Tafelzimmer von Liedern und Sprüchen, die wir dem neuen Jahre darbrachten ...
Da hier einmal von meiner armen unschuldigen Geige die Rede ging, so muss ich doch von dem Abenteuer sprechen, zu dem sie früher, bei meinem zweiten Besuche in Tübingen, Anlass gegeben. Es gedenkt mir noch wie heute. Uhland hatte gehört, ich spiele etwas Violine, und ersuchte mich, wenn ich wieder einmal käme, meine Geige nicht daheim zu lassen. Ich hatte zugesagt und brachte das Instrument, nur flüchtig in ein Schnupftuch gewickelt, wirklich mit; Kolophonium und Bogen hatte ich, in Erwartung, dass es an derlei Schießbedarf in Tübingen nicht fehlen werde, in Stuttgart zurückgelassen. Nun sollte nach meiner Ankunft alsbald die erste Probe meiner Kunst abgelegt werden – und dies war umso bedeutsamer, als mir Uhland ein Zimmer neben seinem Arbeitskabinet angewiesen – »weil ihn Musik in seinen Arbeiten eher fördere als störe.« Ich gestand nun den Mangel all Kolophonium und Bogen, woraus sofort einige Boten nach der Stadt gesendet wurden, um das Fehlende zu holen; aber sie kamen unverrichteter Sache zurück. Wer im Besitze jener Dinge war, brauchte sie selbst, und wer sie nicht besaß, konnte sie natürlich auch nicht leihen. »Was hilfts?« sagte Uhland nach einigem Bedenken, »unter solchen Umständen hilft ein rechter Mann sich selbst!« Und so machten wir uns auf, durchschritten ernst die Musenstadt nach rechts und nach links, klopften an manche Türe und an manches Fenster; es wurde uns auch aufgetan, aber was wir suchten, wurde nicht gefunden. Da blieb Uhland lächelnd stehen und sagte die bedeutungsvollen Worte: »Ich habe einen hochwertigen Freund, der in schwierigen Lagen der Töne viel vermag, er wird auch uns aus unserer Lage reißen! Kommen Sie!« Und voran schritt er – dem hohen Stadtturm zu. Denn droben auf der hohen Warte der Turmstube – befand sich jener erhabene Freund, der uns aus der bedrängten Lage retten sollte. Zu ihm auch, mit bebenden Knieen und beschleunigtem Atem, traten wir endlich ein. Der Stadttürmer sah kaum, welch' ein ruhmreicher Gast in Uhland seine Schwelle überschreite, als er erschrocken und erfreut nach dem Belieben fragte – und als er dies erfuhr, ausrief, dass er sich glücklich schätze, unsern Wunsch erfüllen zu können! Denn wirklich holte er sofort einen Violinkasten hervor, schloss ihn auf und bat, aus seinen Vorräten von drei Bogen und einigen Stücken Pech meinen Schießbedarf zu wählen. Ich tat's und dankte im Voraus, dann ging es wieder abwärts, Treppe um Treppe, dem Hause Uhlands zu, wo ich trotz natürlicher Aufregung und Sorge meine erste Kunstprobe bestand und später, durch diesen Erfolg kühn geworden, oft genug das sonst so stille Haus mit meinen brotlosen Vorträgen erfüllte und unsicher machte ...