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Die Tage meines Aufenthaltes in Depoltewitz waren aber schon gezählt. Lehrer und Geistliche suchten meinen Vater zu bestimmen, alle ungewissen Versuche mit mir aufzugeben und mir jene Vorbereitung angedeihen zu lassen, die zu höhern Studien, zum Gymnasium und zur Universität führen. Pater Steinbach, der schon erwähnte Katechet unserer Dorfschule, erbot sich, mir unentgeltlich jenen Unterricht zu erteilen, der zum Eintritt ins Gymnasium fähig macht. Ein wohlhabender Mann des Nachbardorfes schien sogar werktätige Nachhilfe in Aussicht zu stellen, wenn es meinem Vater einmal an den nötigen Mitteln fehlen sollte. So wurde denn nicht mehr gezögert; ich wurde aus Depoltewitz heimgeholt, nach Rotenbaum, unserm damaligen Pfarrdorf, gebracht, zum Wirt des nur wenige Häuser zählenden Orts in Kost und Wohnung gegeben und der Fürsorge und Belehrung des Pater Steinbach dankbar anvertraut. Das geschah zu Anfang des Herbstes 1829; den Winter über, das nächste Frühjahr bis zur Sommerhälfte sollte die Vorbereitung dauern, im August dann die Prüfung der Reife für den Eintritt ins Gymnasium abgelegt werden und das wirkliche Studium im Herbst 1830 in Klattau beginnen. Das feste Programm für meine nächste Zukunft wirkte kräftigend auf Geist und Herz; Eltern und Geschwister nahmen lebhaft Teil an dieser Wendung; ich glaubte durch Fleiß eine Ehrenprobe vor den Augen der ganzen Heimat ablegen zu müssen und war mit Eifer hinter den Aufgaben her, die mir der Unterricht auferlegte. Nach einigen Missverständnissen beim Erlernen der lateinischen Sprache fasste ich bald die Regeln derselben klar auf und vollzog meine Übungen zur vollen Zufriedenheit des geistlichen Lehrers. Die gleichzeitige Ausbildung in der deutschen Sprachlehre ging befriedigend nebenher und das Memorieren der Lehren der Religion ward eifrig betrieben. Ein Umstand kam mir dabei zustatten, dass ich auch in andern Schulgegenständen, im Rechnen, Schreiben, Lesen in Übung blieb, die der geistliche Herr weniger für seine Aufgabe hielt. Die Pfarrschule stand unter der Leitung jenes Lehrers Johann Klima, dem ich in Hirschau den ersten Schulunterricht verdankte. Er gestattete auf Wunsch des Geistlichen mit Vergnügen, dass ich als Hospitant seinen Lehrstunden beiwohne und die vorkommenden Übungen mitmache. Ihm verdankte ich auch einige Anleitung zum Gesang und Aufmunterung zur Fortsetzung der Übungen auf der Violine, da er meine Mitwirkung bei musikalischen Aufführungen in der Kirche verwenden konnte. Zu Letzteren war ich an großen Feiertagen gerne bereit und suchte meinen Part (Violine II) immer vorher fleißig einzuüben, was in der an Schulhaus und Garten stoßenden Scheune geschah. An gewöhnlichen Sonntagen, wo nur Kirchenlieder zur Orgel gesungen wurden, zog ich es vor, als einer der Ministranten am Hochaltare zu fungieren, was mich ganz glücklich machte. Aber der Lehrer verfügte nur über wenige Gesangsstimmen und wollte meine Mitwirkung nicht vermissen, weshalb er mich öfter, wenn ich bereits im vollen Ministrantenhabit steckte, dringend aus der Sakristei holen ließ und bat, auf dem Emporium auszuhelfen. An Wochentagen bei stillen Messen mochte ich dann nach Herzenslust am Altare Dienste leisten, mit dem Priester Responsorien wechseln, die Knie beugen, hier und dort hinknien, das Glöcklein läuten, Wasser und Wein einschenken und am Schluss der Messe vor dem Priester her in die Sakristei zurückkehren. In großer Glückseligkeit fungierte ich zu Ostern als einer der Engel, die am Eingang in das an einem Seitenaltare errichtete Grab Christi zu knien hatten. Aber diese Vorliebe, am Altare zu dienen, hatte auch oft ihre leidenvolle Seite und bedurfte großer Selbstüberwindung. Der in Rotenbaum verlebte Winter war einer der härtesten des Jahrhunderts, häufig 29-30 Grad Kälte weisend. An so argen Morgen hatte ich um 6 Uhr im Pfarrhof auf dem Zimmer des Kaplans, meines Instruktors, zu erscheinen und vor allem an seinem großen Kachelofen mich erst recht durchzuwärmen; wenn wir dann beide, die Arme um den Ofen schlingend, genug Wärme aufgenommen zu haben glaubten, rissen wir uns plötzlich von dem Wärmespender los, verließen im Sturmschritt Zimmer und Haus und liefen förmlich nach der Kirche und Sakristei, wo wir uns bebend in die Kirchengewänder warfen und dann nach dem Altare begaben; kürzere Messen sind nie gelesen worden als damals; in den Kännchen, die Wein und Wasser für den Kelch des Priesters enthielten, fanden wir gewöhnlich starres Eis, und beim Betasten der Kännchen blieben Stücke meiner Fingerhaut am Metalle hängen. Natürlich war am Ende der Messe die Flucht aus der Kirche nach dem Zimmer des Kaplans ebenso schleunig als zuvor nach der Kirche. Doch war einmal die Teilnahme an einer heiligen Handlung noch viel leidenvoller und bedenklicher als das Dienen am Altare bei solcher Kälte. Der Kaplan war zu einer Sterbenden gerufen, um das Sakrament der letzten Ölung zu spenden. Der Tag war einer der kältesten des Winters, und der Weg führte nach einer einsamen Bauernhütte am Fuß des Berges, eine kleine Stunde weit entfernt. Da seit Kurzem wieder Schnee gefallen war und aus dem alten eine hohe Schichte bildete, war der Marsch zur Kranken ein ungemein beschwerlicher. Der Lehrer, der nach damaligen Verhältnissen verpflichtet war, den Geistlichen zu begleiten, fragte verlegen bei mir an, ob ich geneigt wäre, den Gang diesmal für ihn zu machen; ich sagte bereitwilligst: »Ja!« und eilte zu dem Priester. Dieser fragte verwundert: »Du willst mit?« Ich erwiderte ihm ganz munter ebenfalls »Ja«, und der Ausmarsch wurde angetreten. Die Nacht brach herein; die Kälte war markdurchdringend und die Wege über Feld fast ungangbar. Der Priester, dicht in einen Mantel gehüllt, das heilige Gefäß und eine Laterne tragend, ging voran, bei jedem Schritt bis ans Knie im Schnee einsinkend; ich, im einfachen Röllchen, (das ich auch im Sommer getragen), ein Chorhemd überm Arm und ein Glöcklein in der Hand, ging dem Priester mit gespreizten Beinen nach und versank oft bis zur Brust in jene Schneevertiefungen, die die Schritte des Priesters ausgeweitet hatten. Endlich, in Schweiß gebadet trotz der Kälte und todmüde, erreichten wir die Hütte, traten in die Stube – die einzige des Gehöfts – und fanden die Kranke in einem ärmlichen Bette an der Eckwand liegend, die Hände über der Decke gekreuzt, die Blicke aufwärts gerichtet, ein ergreifendes Bild frommer Verzückung. Der Priester sprach nun seine rituellen Texte, spendete die letzte Ölung, munterte die Kranke auf, zu hoffen und zu vertrauen; dann bot man uns eine kleine Stärkung an: Butterbrot mit etwas Honig, und während wir davon genossen, erhielt der Priester die übliche Geldspende und auch mir wurde eine kleine Silbermünze in die Hand gedrückt. Der Rückweg wurde bei völliger Nacht und unter noch größern Schwierigkeiten zurückgelegt, so dass wir erst spät und ganz erschöpft im Pfarrdorf ankamen; – aber wie selten ein Leid allein kommt, so brachte dieselbe Nacht noch eine Heimsuchung, die leicht meinem Leben ein frühes Ende hätte bereiten können. Um Mitternacht, als im Hause, wo ich wohnte, alles bereits im tiefsten Schlafe lag, brach im rückwärtigen Teil des Gebäudes, wo ein alter Invalide der Grenzwache wohnte, infolge von Überheizung des Ofens Feuer aus und drohte von den brennenden Dippelbäumen aus die Bodenräume und das ganze Haus zu ergreifen. Grässlich lautende Feuerrufe weckten uns aus der kaum begonnenen Nachtruhe, und jedermann beeilte sich, bei der Hilfeleistung tätig einzugreifen. Auch ich erhob mich bebend vor Entsetzen und eilte im dürftigsten Nachtanzuge nach der Vorhalle, ergriff ein Wasserschaff, das ich am Brunnen füllte und nach der Brandstelle schleppte; der Weg war infolge der Kälte eine spiegelglatte Eiskruste, und ich war öfter in Gefahr mit meinem Wasserbehälter hinzustürzen, doch gelangte ich aufrecht bis zum Eingang in die Brandstätte; aber als ich die paar Stufen, die da hinaufführten, erkletterte, glitt ich oben aus, fiel rücklings die Stufen wieder hinunter und goss mir den vollen Wasserinhalt des Schaffes über Kopf und Leib. Ächzend strebte ich mich wieder aufzurichten und suchte Rettung vor der Eiseskälte, die mich rasch mit einer förmlichen Eiskruste überzog und floh nach der großen Wirtstube zurück, wo zum Glück mir auf dem Fuße die Nachricht eintraf, dass die ärgste Gefahr bereits beseitigt und dem Feuer der Weg nach dem Dachboden verlegt sei. Rasch die nasse, eisige Umhüllung mit einer trockenen wechselnd, fuhr ich unter die noch warme Decke des Bettes, die ich mir schützend über den Kopf schlug – ich genoss noch eines guten Schlafes und erwachte spät am Morgen ohne üble Folgen und wunderbar gestärkt; – ja, die Jugend verrichtet Wunder! ... Ihr und frühzeitiger Abhärtung verdanke ich's auch, dass ich trotz der grauenvollen Kälte bei meinen Märschen nach dem Elternheim ferner nicht Schaden litt. Jeden Sonnabend nach Vollendung meiner Aufgaben wurde der Heimmarsch angetreten. Schneewirbel, Schlossenstürme, Eiseskälte, die alles umher in Todesstarre versetzten, vermochten mich nicht von der Wanderung abzuschrecken. Einige Stunden im Elternhause, bei Vater, Mutter und Geschwistern zugebracht, machten alles überwunden und vergessen; im Frühjahr und Sommer erfolgte dann eine Entschädigung, die mir die Märsche nach dem Elternhause unvergesslich machte. Bei Wärme, Sonnenschein und Lerchenwirbel heimzuwandern, keine Sorge hinter mir, helles Entzücken vor mir – es war zum Seligwerden schon auf Erden! Freilich war der Ausmarsch am Montag früh nicht auch so fröhlich; das Heimweh saß mir unaustilgbar im Herzen, die Tränen, die es mir erpresste, sind nicht zu zählen, aber sie wurden vorsichtig geweint, wo sie niemand sehen konnte, meist unterweges nach dem Pfarrdorf. Vor dem Abschied saß ich gewöhnlich, stille mit mir kämpfend, auf der Ofenbank, jede Träne, die sich durch die Wimpern drängte und zu Boden fiel, wurde von den Sohlen schnell bedeckt und vertilgt und erst, wenn ich mich besonders standhaft fühlte, sprang ich auf, sagte allen schnell Lebewohl und eilte unaufhaltsam davon – dem Wege, auf dem mich niemand sah, mein Weh und meine Tränen vorbehaltend ... Weh und Tränen – wie hat sie die Zeit in herzerquickende Opfer der Heimatliebe verwandelt und der Erinnerung labend erhalten! Sie zählen jetzt zu den hellen Freuden, die mir aus jenen Knabentagen herüber leuchten in mein hohes Alter ... Die Vorbereitung zu den Studien wurde inzwischen fleißig fortgesetzt und nur selten für einige Tage unterbrochen; eine solche Unterbrechung ist mir als ein bezeichnender Umstand jener Tage besonders im Gedächtnis geblieben. Die Geistlichen und insbesondere die Kapläne auf dem Land waren damals so schlecht besoldet, dass sie kaum das Leben erhalten und sich kleiden konnten. Messegelder, Begräbnis- und Hochzeitsgebüren boten den Kaplänen nicht viel Nachhilfe, und so kam für sie eine Art Zehent in Übung. Die Kapläne gingen, wenn die Flachsbereitung bis zum Spinnen gediehen war, in den Dörfern, die zur Pfarre gehörten, von Haus zu Haus und sammelten Gaben dieses Gewächses, das sie später spinnen und zu Leinwand verarbeiten ließen. Ich begleitete meinen Lehrer, Pater Steinbach, durch mein Heimatsdorf und packte die Gaben in einen großen Handkorb, der, als wir kaum die Mitte des Ortes erreicht hatten, schon so überfüllt war, dass er nichts mehr fassen konnte. Ein Inwohner löste mich ab, der einen Schubkarren führte mit einem großen Heukorb, der die Sammlung weiter besorgte. Ich gestehe, dass mich eine Art Schamgefühl ergriff, sooft ich neben dem Priester in ein Haus trat, um die Zehentgabe abzunehmen. Es schien mir eine Entwürdigung des Geistlichen, so von Haus zu Haus Gaben sammeln zu müssen, und als wir in mein Elternhaus traten, glühte ich, wie mir der Maxenz später sagte, wie eine Illuminierlampe vor Verlegenheit. Die Leute aber und die Geistlichen selbst nahmen die Sache, weil sie herkömmlich war, nicht so empfindsam, und mein Lehrer wusste durchwegs eine Haltung zu behaupten, die seiner Würde nichts vergab. In vielen Häusern ward sein geistlicher Rat erbeten, und man reichte die Gabe so reichlich und gerne als wäre man froh, für den gewährten Rat sogleich ein ausgiebiges Geschenk darbieten zu können. Ein Wort des Ersuchens um die Flachsabgabe kam übrigens in keinem Hause über die Lippen des Priesters; man wusste bei seinem Eintritt bereits, um was es sich handle, die Gabe wurde rasch herbeigeschafft und dem Begleiter des Priesters überreicht, während dieser mit den Hofbesitzern über die nächsten Anliegen der Familie freundlich verkehrte. Dass die Flachsabgabe den Kaplänen einen namhaften Vorteil eintrug, erfuhr ich einige Monate später durch meinen geistlichen Lehrer selbst, der mich eines Tages vor den Schrank seines Zimmers führte, diesen öffnete und auf zwei Porzellanteller hinwies, die mit Silbermünzen beide hoch angefüllt waren. » Für Garn und Leinwand«, sagte er lächelnd. Es war kurz vor meiner Heimkehr von Rotenbaum und meiner Prüfung der Reife für den Eintritt ins Gymnasium. Die Prüfung wurde in Taus, in einem Kapuziner-Kloster abgehalten. Es war kurz nach der Mittagstafel; Reste von Speisen, Geschirre und steinerne Humpen standen noch auf dem langen Tische des Refektoriums; zwei junge Klosterbrüder saßen, vorgebeugt über die Tischplatte, und hielten ihr übliches Mittagsschläfchen. Da erschien ein alter, ehrwürdiger Mönch mit schneeweißem Vollbart und nahm in Begleitung eines zweiten, etwas jüngern Beisitzers, am untern Ende der Tafel Platz. Er ließ sich Proben meiner Handschrift vorlegen, diktierte mir ein Rechenexempel, legte Fragen über Satzlehren der deutschen und lateinischen Sprache vor und ließ mich einige leichte Sätze aus dem Deutschen ins Lateinische übertragen. Alles ging gut vonstatten. Bei der Prüfung aus der Religion lief es gar glatt ab, und indem ich der Mahnung des Lehrers gedachte, der mir vor der Prüfung gesagt hatte: »Nur frisch, laut, deutlich, ohne Furcht« – legte ich beinahe überlaut los und weckte dadurch die jungen Mönche, die sich erhoben und schlaftrunken von dannen schlichen. Mein Zeugnis fiel sehr gut aus – alle Klassen lauteten auf vorzüglich ...