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17.
Der erste Schulbesuch.

Noch nicht fünf Jahre alt, verlangte ich mit Heftigkeit, den Besuch der Dorfschule beginnen zu dürfen. Zwei ältere Brüder, welche die Schule im nächsten Dorfe besuchten, mussten sich heimlich auf den Weg machen, wenn ich ihnen nicht schreiend und weinend folgen sollte. Begütigungen aller Art, kleine Geschenke, gute Bissen, die mir die Mutter zuschob, halfen zunächst meine Sehnsucht bekämpfen. Endlich, etwas vor dem schulpflichtigen Alter, beschloss man, dem Jammer ein Ende zu machen. Der Vater besprach sich mit dem Lehrer, der seine Zustimmung gab. Eines Tages zog mir die Mutter das Sonntagsjäckchen an, setzte mir die braune, mit roten Täubchen bedruckte Zipfelmütze auf, der Vater reichte mir ein neues A-B-C-Büchlein und sagte lächelnd: »Das Rechentäfelchen wird folgen.« Mit einer gewissen Feierlichkeit nahmen die Eltern Abschied: »Behüt' dich Gott und lern' was Rechts«, waren ihre geleitsamen Worte, ich wurde von den Brüdern in die Mitte genommen und folgte beklommen. Wo wir unterwegs mit andern Dorfschülern zusammentrafen, wurde ich verwundert gegrüßt, scherzweise angeredet und gelangte endlich, von einem Schwarm ausgelassener Schulgänger umringt, bis an den Eingang in die Schule. Hier nahm mich der ältere Bruder an der Hand und führte mich nach der Schulstube, wo der Lehrer bereits anwesend war. Er saß an einem Tische zwischen dem großen Schulofen und der linken Bankreihe und schnitt den größeren Schülern, die herumstanden, die damals ausschließlich verwendeten Schreibfedern aus Gänsekielen. Als mich die Brüder als neuen Schüler vorstellten – »Unsa Brüaderl«, sagten sie – sah der Lehrer lächelnd auf, strich mit flacher Hand über meinen Scheitel, wies mit der Feder, die er in der Hand hielt, nach der nächsten Bank, in der die jüngsten Knaben saßen und hieß mich dort Platz nehmen. Schüchtern und verlegen ließ ich mich nieder, hielt mein A-B-C-Büchlein zitternd vor mich hin und wartete ab, was kommen würde. Als ich zwischen Furcht und Erwartung so dasaß, fiel mein Blick durch ein Fenster auf die ersten Häuser unseres fernen Dorfes, und im Nu stand auch mein Elternhof vor mir, obwohl ich ihn nicht sehen konnte; ich sah die Tauben vom Dache fliegen, den Kropftauber voran, mit klatschendem Flügelschlag; ich sah sie im Hofe durcheinanderlaufen und Futter suchen, der Hahn und ein paar Hühner gesellten sich dazu, und der große Hofhund suchte schnusend ein sonniges Plätzchen am Federngewölb. Plötzlich sah ich mich vor dem großen Ofen in der Stube, die Mutter hebt eben eine Pfanne heraus und stellt sie auf die Ofenbank, um sie mit dem eisernen Wender umzurühren, ich roch den Mischling aus Kartoffelmus, Gerstenbrei und »Schoarenblattln«, – wie gut der Geruch mir in die Nase stieg! – Und die Mutter schien mir eben wie üblich ein Stück zum Kosten reichen zu wollen, – da plötzlich ein allgemeines Geräusch, der Lehrer ruft »zum Gebet«, die vollzählig erschienenen Schüler erheben sich, falten die Hände und beginnen ihr Schulgebet, das mir unbekannt war. Ich fühlte eine brennende Röte mein Gesicht überziehen, da ich auch aufgestanden war, aber nicht mittun konnte, erst als das Gebet mit einem »Vater unser« schloss, tat ich auch mit, was mich etwas beruhigte. Doch nahm der Unterricht seinen Fortgang nicht ohne mancherlei Erregungen. Der Lehrer hatte, ein Lineal in der Hand und damit zeitweise den Schenkel klopfend, mehrere Rundgänge durch die Schulstube gemacht und erst Lese- und dann Rechenübungen vornehmen lassen, als er plötzlich vor mir stehen blieb, mir den Kopf nach rückwärts bog und freundlich auf mich niederblickte. Dann nahm er mich an der Hand, führte mich an den großen Schultisch, an dem er sich niederließ und sagte lächelnd: »Nun lass hören, was du schon gelernt hast!« Er nahm mein Büchelchen, das ich noch immer fest in den Händen hielt, schlug es auf und deutete aus den ersten Buchstaben der obersten Zeile: »Hast du dir schon sagen lassen«, fragte er, »wie dieses Kerlchen da geheißen wird?« Ich sagte leise und verzagt: »A«. Der Lehrer belobte meine großen Kenntnisse und fragte, ob mir noch einige Nebenmänner des Anfangsbuchstabens bekannt seien? Ich nannte B und C, dann blieb ich stecken. »Ei gut – gut«, sagte der Lehrer und klopfte mir die Wange. »Das reicht schon für das erste Mal; geh' nun in der Sache weiter, lern' auch die nachfolgenden Kerlchen kennen, und du kannst's noch weit bringen in der Welt!« Er winkte einem größeren Knaben, befahl ihm, sich neben mir in der Bank niederzulassen und mich mit einer weiteren Reihe von Buchstaben bekannt zu machen, dann erhob er sich wieder und setzte seinen Rundgang fort, indem er die Rechenübungen auf der Großteil schwarzen Holztafel fortsetzen ließ. Indem er sich dort mit einzelnen Schülern beschäftigte, hatten die in der Schulstube sich unbeachtet glaubenden Schüler ein arg anwachsendes Geplauder begonnen. Der Lehrer schlug mit der flachen Seite des Lineals auf die erste Bank, wo die ältesten Mädchen saßen und rief donnernd: »Nicht schwätzen!« Ich verstand: »Nicht schwitzen!« fuhr erschrocken mit dem Ärmel über die feuchte Stirn und mit den Händen in die Taschen, doch sollte meine Furcht bald noch beängstigender werden, denn einer der älteren Schüler hatte den Ruf des Lehrers unbeachtet gelassen und schwätzte und lachte unentwegt weiter, was bei der plötzlich eingetretenen Stille umso mehr auffiel. Der Lehrer rief den ihm wohlbekannten Randalierer zu sich an die Rechentafel, griff nach der an der Ofenwand hängenden Birkenrute und maß dem Unglücklichen auf jede Handfläche zwei scharfe, sogenannte »Ferlen« auf, die der Trotzige schweigend quittierte und grimmig lächelnd nach seiner Bank trug. Dort zeigte er seinen Nebensitzenden die Striemen auf den Handflächen, streckte die Zunge nach der Rechentafel aus und weinte dann, indem er den Kopf auf die Vorderbank legte. Der Knabe ist mir unvergesslich geblieben, er war talentvoll, immer aufgeweckt, freilich auch immer unbändig. Er ist später Maler geworden und starb als viel beschäftigter Photograph in New-York. Aber mein erster Schulbesuch sollte mit diesem Ereignis seinen Abschluss noch nicht finden. Ein viel tiefer wirkender Vorfall schloss sich an den eben vollzogenen Strafakt. Eine Schwalbe war durch das offene Fenster in die Schulstube geflogen und wusste den Rückweg nicht mehr zu finden. Im Nu waren alle Kinder auf den Bänken und suchten die Schwalbe zu erhaschen, was nicht gelang, da sie an der Zimmerdecke furchtsam und vorsichtig hin und her flatterte und dem Lichte folgend, ab und zu an ein geschlossenes Fenster stieß. Der Herr Lehrer, der nach seiner Gewohnheit das Lineal wieder in der Hand trug, suchte ein paarmal den Flug des armen Vogels nach dem offenen Fenster zu lenken. Da ihm dies nicht gelang und die lärmende Aufregung der Kinder allmählich lästig wurde, holte er plötzlich aus und führte mit seinem Lineale einen so geschickten tödlichen Streich nach dem Tierchen, dass es lautlos, ohne zu zucken, zu Boden fiel und zwischen meiner Bank und dem Schultisch mit weit von sich gestreckten Flügelchen tot liegen blieb. Die Wirkung war eine betäubende. Alle Schüler drängten sich um die arme Schwalbenleiche, Schauder und Mitleid prägten sich auf jedem Gesichte aus, nach dem Volksglauben war es eine arge Sünde, eine Schwalbe zu töten, die, wie ein heiliger Vogel gehalten, in jedem Hause des Dorfes gastlich ihr Nest erbauen und unbehelligt leben durfte. Meine Bewegung war groß und wurde plötzlich durch den Gedanken wehvoller, dass die verunglückte Schwalbe eine von denen sein könnte, die an unserm Hause und im Stalle ihre Wohnungen aufgeschlagen hatten. Als daher der Lehrer, um dem Durcheinander ein Ende zu machen, den Unterricht schloss, der ohnedies schon die übliche Zeit überdauert hatte, lief ich mit den Brüdern spornstreichs nach unserm Dorfe und spähte nach den Nestern unterm First und im Stalle, wo ich entzückt entdeckte, dass kein teures Haupt unserer Schwalben fehle; die Alten und die Jungen saßen, Mittagsruhe haltend, stillgereiht in ihren Nestern und streckten die schwarzen Köpfchen und weißen Brüstchen über die Brüstungen ihrer Nester ... Natürlich musste den Eltern von dem außerordentlichen Ereignis auch berichtet werden, und ich tat es ohne Verzug mit oftmals stockendem Atem. »Kommen die Schwalben auch in den Himmel?« fragte ich am Ende. Der Vater lächelte und sagte: »Sicherlich, der himmlische Vater hat die schönsten Schwalbennester über seinem Fenster, dahin versetzt er die frisch ankommenden Schwalbenseelen, und die haben es gut für und für!« Ich war damit zufrieden gestellt, fragte aber auch noch: »Und der Lehrer?« Der Vater erwiderte: »Ihm ist gewiss leid, dass sein Lineal so schwer getroffen hat, aber der himmlische Vater ist den Lehrern hold und hört gerne ihre Bitten. Euer Lehrer wird gewiss auch ein gutes Wort für das ewige Seelenheil der armen, verunglückten Schwalbe einlegen«. Jetzt war ich ganz beruhigt und berichtete, schon beim Mittagessen sitzend, über die weiteren Denkwürdigkeiten des ersten Schulbesuchs. »Man darf in der Schule nicht schwitzen!« war die nächste Merkwürdigkeit, die ich nun zum Besten gab. Große Heiterkeit am Mittagstische. Man fragte: Wieso? Aber die mit in der Schule gewesenen Brüder lösten endlich das Missverständnis, und damit war der Rest von Beklemmung beseitigt, den ich aus der Schule mit heimgebracht hatte. – Die Mittagsglocke, die eben zum Gebet aufrief, aber zugleich an die Fortsetzung des Schulbesuches erinnerte, fand mich rasch und wohlgemut wieder an der Seite der Brüder auf dem Wege nach der Schule, der mir während der nun folgenden Tage und Jahre fast ebenso merkwürdig wurde als die Schule selbst …

Denn schon am nächsten Tage überraschte mich ein Erlebnis, das an ein Wunder grenzte. Ich hatte mir unterwegs eine Feldrübe ausgezogen, sie geschält und begann davon ein Stück zu genießen, als die Mittagsglocke anschlug und zur Eile mahnte. Ich legte die Rübe unter einen Stein und eilte nach der Schule. Von derselben heimkehrend, suchte ich die Rübe wieder unter dem Stein und sah zu meinem höchsten Erstaunen an Stelle derselben drei hübsche, braungelbe Leimtafeln liegen. Die Tafeln hervorholend und hoch haltend, lief ich, gefolgt von den Brüdern und Mitschülern, spornstreichs nach Hanse, um wie gewöhnlich, dem Vater die überraschende Neuigkeit zuerst zu berichten. »Was wird aus einer Rübe, die man unter einen Stein legt?« rief ich, in die große Stube stürmend und die Leimtafeln sorgfältig unterm Jäckchen bergend. »Doch kein kalbsledernes Paar Stiefel?« sagte Maxenz zum großen Ergötzen aller, die zu Tische saßen. Der Vater sagte lächelnd: »Nun, Beberl, Rübe bleibt sonst gern Rübe! Was ist sie bei dir geworden?« Ich hielt die Leimtafeln triumphierend empor und erzählte, wie aus meiner Rübe Leim geworden sei. Verwundert und lachend ließ man die Tafeln von Hand zu Hand wandern, und der Vater wollte eben das Wunder auf natürliche Weise erklären, als die Türe aufging und der Dorftischler hereintrat. Lächelnd erklärte er, wie er bei einem Gang nach dem Schuldorf die Leimtafeln bis zur Rückkehr unter einen Stein legte, dort eine ganz frisch geschälte Rübe fand, sie mitnahm und verzehrte – bei seiner Rückkehr aber die Leimtafeln nicht mehr fand; ein Schulknabe habe ihm verraten, dass der Beberl die Tafeln gefunden und heimgetragen habe. ... Das Wunder war erklärt, die Tafeln wurden ausgeliefert, und das Ereignis trug mir noch viele heitere Anspielungen ein. So sagte Maxenz, nach Tisch an mir vorübergehend: »Na, Beberl, wie ist einem, wenn er aus den Wolken fällt?« und am ändern Morgen, als ich nach der Schule ging, rief er mir nach: »Beberl – derleb' nicht wieder so viel, man muss sich ja schämen, wenn du allein alles derlebst – sind wir nicht doch auch wer?« ...

Wirklich schienen die großen Ereignisse nur heute einem wohltuenden Stillstande zuzuneigen, der Schulgang wurde ohne Zwischenfall zurückgelegt, in der Schule hatte alles in der gewohnten Ordnung begonnen. Der Lehrer saß am großen Tisch und schnitt die Federn – als plötzlich eine feierliche Aufregung durch die Schulstube ging, ältere Schüler zeigten nach dem Fenster, durch das die Schwalbe vor zwei Tagen in die Stube geflogen war, der Lehrer blickte nach derselben Richtung und erhob sich schnell. Er winkte einem älteren Knaben und gab das Zeichen des Glockenläutens – dann verschwand er einen Augenblick aus dem Zimmer und erschien in einem bessern Rocke wieder. »Schön brav sein, schön Ordnung halten!« sagte er, »der Herr Katechet kommt!« Und wirklich kam ein geistlicher Herr die Plesser Höhe herunter, begrüßt von einer hastig anschlagenden Glocke, die zugleich anzukündigen hatte, dass in der Dorfkapelle einmal wieder Messe gelesen würde, ein seltenes und großes Ereignis. Indem wir uns auf unsern Plätzen stramm aufrichteten und nach der Weisung des Lehrers die Hände vor uns auf die Bänke legten, erwarteten wir den geistlichen Herrn, der, wie uns flüchtige Blicke durch die Fenster zeigten, seit seinem Eintritt in das Dorf vor jedem Hause ehrfurchtsvoll begrüßt wurde. Insbesondere Mütter, häufig Kinder mit sich führend, eilten vor die Häuser und küssten dem Pater die Hand, der Herr Lehrer trat vor die Schultüre, um den hochwürdigen Herrn zu erwarten und zu empfangen, und als dieser endlich in dem Schulzimmer selbst erschien, erhoben sich alle Schüler, um hell und kräftig den üblichen Begrüßungsspruch herzusagen. Ich konnte wieder nicht mittun, da ich den Spruch noch nicht kannte, stand daher nur hocherrötend unter den Nebenschülern und war in großer Sorge, dass der geistliche Herr mich fragen könnte, warum ich nicht auch mit den Übrigen ihn begrüßt habe. Doch der ehrwürdige Herr schien mich nicht zu bemerken, überflog nur leichthin die Bänke der Schule und nickte flüchtig mit dem Kopfe zum Zeichen, dass er für den Gruß schön danke; dann legte er den Hut auf einen Schrank neben dem Ofen und trat mit dem Lehrer an ein Fenster, vertraulich mitteilend, dass die Messe heute bereits gelesen sei und nur der Religionsunterricht stattfinden werde. Der Lehrer ließ das weitere Glockenläuten einstellen, und der Katechet näherte sich den Schulbänken. Knapp vor meinem Platze hielt er inne, holte eine schwarze runde Tabakdose aus der Rocktasche und schlürfte eine ausgiebige Prise, indem er nachdenklich über die Schüler hin nach einer Stelle der Zimmerdecke blickte. Er ordnete wahrscheinlich den Ideengang seines Vortrags, während ich über eine Entdeckung in ein wahrhaftes Entzücken geriet. Denn die rechte Seite des geschlossenen Rockes, den das vom Fenster her schief auffallende Licht streifte, erschien, statt bisher in Schwarz, in entzückend schönem Veilchenblau, was meine Ehrfurcht vor dem geistlichen Herrn noch wunderbar erhöhte. Als die Dose wieder sachte in die Rocktasche geleitet war, die Hände des Katecheten einige Augenblicke sich in- und auseinander gewickelt hatten, begannen der religiöse Vortrag und zugleich der Rundgang durch die Schulstube wieder. Der geistliche Herr – Pater Steinbach – sprach sehr schön, klar und bestimmt, kein Wort war gefehlt, und in der lautlosen Stille der Schule hörte man neben dem Vortrag nur das taktmäßige, kräftige Auftreten der Absätze der Röhrenstiefel, die damals bei Geistlichen üblich waren, über den Beinkleidern getragen wurden, bis an die Knie reichten und unterm Knie mit zwei kleinen Quasten geziert waren. Der Vortrag begann mit der Schilderung der Schöpfungsgeschichte und ging dann auf allerlei Kirchengebote und Gegenstände der Sittenlehre über. Zwischen dem Vortrag wies ab und zu der Katechet auf einen der größeren Schüler, um ihn einen angefangenen Satz vollenden zu lassen. Dabei fiel mir auf, dass der Katechet besonders oft nach dem kürzlich abgestraften Randalierer wies, der alle Fragen, besonders die der Sittenlehre, vorzüglich beantwortete, wie denn viele, sehr kirchlich Gesinnte alle Gebote der Religion und Kirche vortrefflich kennen, im Leben aber, in der Ausübung dieser Gebote oft gar schwerhörig an ihnen sich vorüberdrücken. Obwohl in unserem Elternhause frommer Sinn und religiöse Hinweisungen täglich in Übung waren, konnte ich doch aus dem Vortrag des Geistlichen nur wenig fassen, blieb an einzelnen Bemerkungen betroffen haften und überhörte sehr viel anderes. So machte mich gleich der erste Satz der Schöpfungsgeschichte: »Im Anfang war nichts als Gott allein«, ganz verwirrt; dass von der schönen Welt um mich einmal gar nichts vorhanden gewesen sein sollte – auch die Schule nicht, in der wir saßen, auch unser Dorf nicht, dessen erste Häuser ich in der Ferne sah, wollte mir durchaus nicht begreiflich erscheinen, so schön sich auch die Schöpfung aus der Schilderung des Katecheten allmählich entwickelte. Dass es licht wurde, dass Himmel und Erde entstanden, das Wasser sich von der Erde sonderte, das erschien mir ganz verständlich. Lebhafter nahm die Phantasie erst teil an der Schilderung, wie auf Gottes Befehl die Erde zu sprossen begann, Gräser und Bäume hervorbrachte, die Vöglein in der Luft, die Fischlein im Wasser entstanden, das mutete mich traulich an, aber besonders erfreut atmete ich auf, als es hieß: »Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Tier und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das aus Erden kriechet.« – Regenwürmer und Schnecken waren es voran, die ich vor mir sah und von unserm Garten aus kannte. Bei den Schlussworten der Schöpfung: »Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte – und siehe da, es war sehr gut«, – ließ der Geistliche eine Pause eintreten und hielt wieder an der Bank vor mir inne. Er zog die Dose aus der Tasche und nahm wieder eine Prise mit Behagen; dabei fiel ein Teil des Tabaks auf mein Büchlein. Ich betrachtete den Tabak erschrocken, mein Mitschüler nebenan tupfte ihn aber mit dem Zeigefinger auf und führte ihn mit großer Verwegenheit an seine Nase. Ein heftiger Nießer verriet seine Kühnheit, die vom Katecheten glücklicher Weise unbeachtet blieb, da er den Unterricht sogleich wieder fortsetzte. Es wurden nun die ersten Eltern erschaffen und nach Eden, ins Paradies, versetzt, wo sie nach kurzem, seligem Leben von Gott versucht wurden und leider schlecht bestanden. Bei der Schilderung des ersten Sündenfalles erinnerte ich mich lebhaft all das Adam- und Evaspiel im Elternhause, und ich konnte den Schluss des Unterrichts kaum erwarten, um nach Hause zu eilen und von den Wunderdingen des geistlichen Unterrichts zu erzählen. Als ich zu Hause zwischen den Mägden am Tische meinen Platz einnahm, mit langgestrecktem Arm nach der Suppenschüssel langte und mit großer Hast von den Merkwürdigkeiten des Unterrichts erzählte, namentlich mit Nachdruck die Versicherung des Geistlichen wiederholte: »Im Anfang war nichts da als Gott allein!« sagte Maxenz, wie erstaunt den Löffel aufstemmend: »Wär' nicht übel, wo wären denn wir inzwischen und die ganze Welt gewesen?« Diese Worte hörte ich noch ganz deutlich, dann wurde es dunkel um mich, ich streckte krampfhaft die Arme von mir, wurde blau im Gesicht und aus dem Halse pfiff der Atem des Erstickens; ein Brocken Brot, den ich mit der Suppe geholt, war mir in die Luftröhre geraten und stecken geblieben; nur einen Moment hörte ich noch ein grelles Aufschreien von Stimmen, eine Sekunde noch, und ich wäre verloren gewesen – da fiel wie eine Bombe eine Riesenfaust auf meinen Rücken und der Brocken fuhr aus der Luftröhre über den Tisch hin bis an ein Fenster. Maxenz hatte durch seinen Faustschlag mir wieder Luft gemacht und das Leben gerettet. Halb ohnmächtig trugen mich die Mägde der herbeigeeilten Mutter zu, und an ihrem Herzen weinte ich mich allmählich wieder in das Leben zurück. ... Von diesem Tage an beherrschte mich eine arge Beängstigung, an dem Tische so gedrängt sitzend und so weit ausholend mein Essen aus den Schüsseln holen zu müssen, auch wagte ich es nicht, während des Essens zu sprechen aus Besorgnis, es könnte mir wieder etwas »in den unrechten Hals« kommen. Daher deckte mir die Mutter für längere Zeit ein Ehrenplätzchen auf dem kleinen Tische, wo ich still allein aß und alle Berichte über merkwürdige Erlebnisse in der Schule sorgfältig vermied.

Maxenz kam oft auf das Unglück am großen Ecktische zurück und entschuldigte sich immer wegen des groben Mittels, das er angewendet hatte, mich von dem Tode zu erretten. »Du musst mir das nicht übel nehmen«, sagte er am ersten Tage nach der Rettung, »ich hab' keinen kleineren Knittel gehabt als meinen Arm; und was willst auch von einem groben Bauernknecht? Das Beste ist doch, der Pfropfen hat sich aus dem Staub gemacht, du lebst; und weißt du was? Werde du später ein Engel, Beberl, und bleib' recht lange bei uns, froh können wir auch da unter uns bleiben!« Ich bezeugte ihm großen Dank, meine Anhänglichkeit wuchs mit jedem Tage, aber seinen Fragen nach neuen Erlebnissen in der Schule wich ich sorgfältig aus, da Maxenz diese Fragen immer mit einem freundlich-ironischen Lächeln stellte, so dass ich den Schelm dahinter merkte. Ich schwieg also bei solchen Fragen und lief entweder lachend davon oder sagte nur: »'s ist nix«. Und dennoch »war's manchmal was«, in- oder außerhalb der Schule und ich will versuchen, nach mehr als siebzig Jahren die Denkwürdigkeiten jener Knabenzeit knapp und so gut als möglich hier nachzutragen ... In der Schule hatte sich schon kurz nach meiner Lebensrettung eine große Denkwürdigkeit ereignet: es hatte sich ein Lehrerwechsel vollzogen, und zwar, da dies während der Sommerferien geschah, in aller Stille und ohne alle Feierlichkeiten. Der bisherige Lehrer Johann Klima hatte die Schule im Pfarrdorfe Rothenbaum übernommen, wo er sich im Laufe der Jahre als Schulleiter in jeder Weise hervortat, mit dem Namen eines Musterlehrers beehrt und vom Staate ausgezeichnet wurde. Sein Nachfolger in unserer Dorfschule (Hirschau) wurde dessen jüngerer Bruder Andreas, ein lieber, braver, rühriger Mann, unter dessen Leitung ich den ganzen Umfang der Dorfschulkenntnisse erwarb. Lesen, Schreiben, Rechnen – soweit diese Kenntnisse in den Rahmen der Dorfschule gehören – waren sein Werk; später unterwies er mich auch in den Anfangsgründen des Klavier- und Violinspiels. Als ich bereits das Gymnasium besuchte und mich während der Ferien im Elternhause aufhielt, erschien er eines Tages, um seinen einstigen Schüler wieder zu sehen. Wir brachten eine Stunde in gemütlicher Erinnerung dahin und am Schlusse bat er mich um einen neuen Text zu einem Begräbnislied. Ich erfüllte seinen Wunsch nach bestem Wissen und Gewissen und erinnere mich nur noch, dass der Text sehr herzbewegend war; – der gute Lehrer ist bald darauf nach einer Schule bei Bischofteinitz (Wassersuppe, wenn ich nicht irre) versetzt worden, wo er aber schon nach kurzem Wirken starb – und wohl unter den Klängen meines schmerzlichen Begräbnisliedes begraben wurde. – Über die Erfolge meines Schulbesuches geben wohl am besten Aufschluss die Plätze, welche ich nach und nach über Anordnung des Lehrers angewiesen erhielt. Von der ersten Bank linker Hand rückte ich im Laufe des ersten Jahres nach der dritten Bank aufwärts, in der ich etwa den Mittelsitz erhielt; im zweiten Jahre saß ich bereits in der obersten Bank der linken Bankreihe neben dem Fenster in der Mitte. Dort lernte ich durch Vermittlung eines Mitschülers den auf Löschpapier gedruckten »Robinson« kennen, dessen Erlebnisse mich unglaublich ergriffen. Eine weitere Ehrenstation eroberte ich in einer Mittelbank der rechten Seite der Schule, der dann ein Platz in der obersten Bank und zuletzt der Ehrensitz Nummer eins am Mittelfenster der Wand folgte. Hier fand ich in der Vorderbank ein säuberlich ausgeschnittenes Zellchen mit eingefügtem Glase, in welchem mein Vorgänger, der bereits ausgeschieden war, Fliegen einzusperren und zu füttern pflegte. Da mir bange wurde, dass ich bei einer späteren Entdeckung als stiller Werkmeister der Zelle verdächtigt werden könnte, machte ich gleich während der ersten Schulstunde den Lehrer aufmerksam, der sofort das Fliegengefängnis beseitigen und die Bankdecke ausbessern ließ.


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