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14.
Im Heim der Großmutter. Die »Steere«.

Eines Septembertages hatte ich mir ein Stäbchen aus Erlenholz geschnitzt und ging, das Stäbchen im Munde und mit den Fingern wie auf einer Klarinette spielend, über die Bachbrücke gegen das Ausnahmehäuschen, als ich, an einen größeren Stein stoßend, vorwärts auf das Gesicht fiel und mir das Stäbchen durch den Mund in den Hals stieß. Die Großmutter, welche wie immer während des Tages am Fenster ihres Stübchens saß, bemerkte meinen Fall und hörte meinen Jammer, kam erschrocken und so eilig, als ihre alten Beine gestatteten, aus dem Häuschen, hob mich auf die Arme und trug mich beruhigend und tröstend nach ihrer Stube, ließ mich den blutenden Schlund mit Wasser ausspülen und trug dann alles herbei, was mich erfreuen und ergötzen konnte, selbst den köstlichen und sorgfältig verwahrten Vorrat von Honig. Als ich ruhig geworden und den nur flüchtigen Schmerz überstanden hatte, wurde meine Mutter von dem glücklich überwundenen Unglück benachrichtigt und gebeten, mich den Tag über im Häuschen bei der Großmutter zu lassen. Letzteres Ansuchen wurde erst bewilligt, nachdem die Mutter von meinem Wohlbefinden sich überzeugt hatte. Ich blieb also den Tag und auf besonderes Andringen der Großmutter auch die Nacht und den folgenden Tag im Ausnahmehäuschen, und da mir die große Liebenswürdigkeit und Pflege gar wohl bekam, so bat ich endlich selbst, noch länger bei der Großmutter bleiben zu dürfen. Die Mutter, die vom Hauswesen und von den vielen, zum Teil kleinen Geschwistern ohnehin übermäßig in Anspruch genommen war, gewährte mir die Bitte umso mehr, als sie mich besser versorgt und überwacht erachten durfte, als sie selbst zu tun in der Lage gewesen wäre. So erlebte ich eine Kinderepisode, die mir bis ins späte Alter unvergesslich geblieben ist. Vier Wochen blieb ich ganz bei der rastlos aufmerksamen und lieben Großmutter. Ich aß besser als im Elternhause, selbst das Bettchen kam mir weicher und wärmer vor; alles, was mich erfreuen und zerstreuen konnte, wurde mir gewährt. Das Stübchen der Großmutter war mir von früheren Besuchen her schon lieb, ich hatte stets in der Schublade des Ecktisches etwas gefunden, das mir überraschend war und blieb, z. B. alte Bilderbücher, von denen der verstorbene Großvater ein Verehrer war, darunter das damals berühmte und beliebte illustrierte Volksbuch: »Simon Strüff«. Das alles gehörte nun sozusagen mir allein und wurde täglich durchsucht und durchgenossen. Eines Tages fand ich unter viel älteren Gerimms auch ein kleines Sträußchen aus Kunstblumen von dem Begräbnistage des »Engelchens im Abendstern« her. Als ich's der Großmutter zeigte, blieb sie stumm und sehr ernst, ihre im Häuschen lebende, noch unverheiratete Tochter aber nahm mir das Sträußchen lebhaft aus der Hand und sagte weinend, das wolle sie behalten. Ich verstand das alles nicht. Natürlich musste zur Beschäftigung und Zerstreuung immer wieder was Neues herbeigeschafft werden, und so nahm die Großmutter endlich auch zu einer besonderen Gunst ihre Zuflucht, sie ließ mich in ihr vergoldetes Heiligtum, ihr Hauptgebet- und Erbauungsbuch, den »Himmelsschlüssel« Einsicht nehmen. Sie erreichte dadurch den Zweck, mich zu fesseln und stundenlang stille zu erhalten, ganz nach Wunsch. Lesen konnte ich noch nicht, aber die vielen Bilder, die in den Text gedruckt waren, grelle, auf die religiöse Stimmung heftig wirkende Szenen, lernte ich mit Hilfe der Erklärungen der Großmutter gar bald begreifen und konnte sie, wenn auch zum Teil mit grauenhaftem Erstaunen, nicht oft und lange genug betrachten. Wie die armen Seelen im Fegfeuer brennen, klägliche, jammernde Gestalten, die nur von der Brust an über die Flammen herausragen und flehend die Hände über die Köpfe heben, war nur mit warnendem Entsetzen zu sehen. Nicht minder erschütternd war der Sturz der gefallenen Engel abgebildet, herrliche Gestalten, solange sie am Wolkenrand des Himmels stehen, nach und nach aber im Falle sich in Fratzen, Scheusale, Teufel verwandeln, die unten in der brennenden Hölle von wütenden Höllenbewohnern mit glühenden Heugabeln empfangen und aufgespießt werden. Das »Jüngste Gericht« und die »Auferstehung« konnten nur mit einem Gemisch von Staunen, Zerknirschung, Bewunderung, Erhebung betrachtet werden, die Erscheinung Christi an der Spitze der Heerscharen beim »Jüngsten Gericht« ist mir seiner Schönheit, Erhabenheit und Segen ausstrahlenden Göttlichkeit willen unvergesslich geblieben. Und doch wurde ich von andern Bildern, die Christus allein darstellten, noch inniger angezogen. Da war Christus, zwölf Jahre alt, im Tempel so schön und leuchtend dargestellt, dass ich nicht begreifen konnte, wie nicht schon damals ganz Jerusalem ihm glaubend und anbetend zufiel – schon die von seinem Haupte ausgehenden Heiligenstrahlen hätten, so glaubte ich, jeden, der ihn sah, überzeugen müssen, dass er der richtige Erlöser sei. Doch waren mir einige weitere Bildnisse Christi noch bedeutsamer. Eines stellte den Heiland dar, wie er empor zum Himmel blickt und zwei Finger der rechten Hand an sein auf der Brust sichtbares Herz legt, ein anderes lässt Christus sehen, wie er in verklärter Gestalt, ein Kindlein am Abgrunde hinführt und vor der Gefahr des Absturzes behütet. Doch übertraf an Wirkung ein drittes alle andern Christusbilder. Es war das Innere des menschlichen Herzens dargestellt, in welchem Christus, einen langstieligen Staubbesen in der Hand, beschäftigt ist, alle bösen Eigenheiten des Herzens in Gestalt von Ungeziefer, Würmern, Schlangen usw. zusammen- und hinauszukehren in ein draußen hellaufloderndes Feuer ... Bei Betrachtung des »Himmelschlüssels« blieb ich nur einige Tage allein. Nach und nach fand sich ein Brüderchen, dann auch ein Schwesterchen ein, mir Gesellschaft zu leisten, und als dabei bemerkt wurde, wie gut und lieb ich von der Großmutter verpflegt wurde, erschienen die jüngeren Geschwister immer zahlreicher – besonders zur Essenszeit – um auch etwas von den guten Sachen, die mir vorgesetzt wurden, für sich zu erobern. Die Großmutter lachte anfangs über die auffallende Vorliebe für ihr Ausnahmehäuschen, machte aber nach einigen Tagen doch wohlwollende Bemerkungen über die Unmöglichkeit der Bedienung so vieler lieber Gäste und würde vielleicht noch deutlicher zur Abwehr geredet haben, wenn nicht ein Ereignis beigetragen hätte, die Großmutter nicht nur von den Besuchen meiner kleinen Geschwister, sondern auch von mir, ihrem mehrwöchentlichen Hauptgaste, zu befreien. Die Zeit der sogenannten »Steere« war gekommen und machte das Elternhaus, das heißt die Elternstube, für längere Zeit außerordentlich anziehend. »Steer« nannte man das Arbeiten von Schustern und Schneidern in den Bauernhöfen, besonders vor dem Kirchweihfeste (Mitte Oktober). Zu diesem Feste wurde in den Familien Groß und Klein ganz oder zum Teil neu bekleidet. Die Schneider (Meister, Gesellen und Lehrjungen) pflegten zuerst anzurücken und um den großen Ecktisch Platz zu nehmen. Der Meister schnitt zu, die Gesellen nähten die feineren und schwierigeren Kleiderteile und wiesen den Lehrjungen untergeordnete Arbeiten zu. Diese Geschäftigkeit in der Nähe, im Elternhause, zu bewundern, Jacken, Hosen, Westen neu entstehen zu sehen, war nun erstaunlich interessant, und wenn es ein eigenes Kleidungsstück galt, unsäglich anziehend. Dazu kam, dass Meister und Gesellen gelegentlich solcher Hausarbeiten ihren besten Humor mitbrachten und während ihrer Arbeiten unerschöpflich waren an Geschichten, Schnacken und drastischen Einfällen, so dass der als Werkstatt benützte Ecktisch den ganzen Tag umringt war von neugierigen und belustigten Erwachsenen und Kindern. Nach den Schneidern erschienen die Schuster (wieder Meister, Gesellen und Lehrjungen). Ihnen wurde die Mitte der Stube eingeräumt, wo vor dem Stuhl des Meisters im Halbrund Gesellen und Lehrjungen ihre Stühle und Werkzeuge ausstellten und vom Meister ihre Arbeiten zugeteilt erhielten. Die Geschäftigkeit der Schuster, Lederzuschneiden, Klopfen, Nähen mit Ahle und gewichsten Hanfschnüren bot nun wieder ein ganz anderes und merkwürdiges Bild, das sich mit Leder- und Pechgeruch dem Gedächtnis und den Geruchsnerven tief einprägte. Schustermeister und Gesellen waren mit Humor, Geschichten und Einfällen nicht weniger ausgestattet als die Schneider und wussten ihren zahlreichen Zuhörern ebenfalls an Belustigung Unerschöpfliches zu bieten. Für uns Kinder kam aber der Hauptmoment der Unterhaltung, wenn das Mittagessen aufgetragen wurde und die Schuster sich mit Knechten, Mägden und älteren Geschwistern um den großen Ecktisch niederließen. Das war der Moment, wo wir jubelnd nach den leer stehenden Schusterstühlen stürmten, um alle Arten von Arbeiten, Lederschneiden, Klopfen, Nähen mit ernsten Mienen und Gebärden nachzuahmen, wobei das Erste und Nächste immer war, dass wir mitsamt den Stühlen hinfielen zum großen Ergötzen der Tischgesellschaft; denn die Schusterstühle haben nur drei Füße und verlieren bei der geringsten Wendung das Gleichgewicht ... Während dieser Zeit der »Steere« kam ich kaum dazu, die Großmutter zu besuchen, die Arbeiten und Belustigungen in der Elternstube waren zu wichtig und anziehend. Erst als aus den Händen der Schneider eine neue Weste und neue Hose hervorgingen, sprang ich mit diesen nach dem Ausnahmehäuschen, um die Herrlichkeit der Großmutter zu zeigen. Da wurde ich aber für einige Tage wieder abgefangen und bei der Großmutter festgehalten. Sie hatte ein Kästchen mit Wasserfarben und Pinsel entdeckt und überließ es mir zu beliebiger Benützung. Das war der Anlass zu einer merkwürdigen Periode der Malerkunst. Was an Bildern nur farbenbedürftig war, erhielt an Rot und Blau und Grün sein reichlich Maß von Verherrlichung: die Bilder im »Simon Strüff« und in den Kalendern prangten bald in allen Farben, insbesondere wurde die Mutter Christi, die die Großmutter eigens von der Wand und aus dem Rahmen nahm, mit den schönsten Farben bedacht, das frei niederwallende Kleid leuchtete bald im hellsten Himmelblau ... Aber die »Steere« der Schuster entzog mich schon am dritten Tage wieder dem stillen Heim der Großmutter und hielt mich fest bis zum Abzug der Meister und Gesellen. – Auch später schlich ich nur ab und zu einmal nach dem Ausnahmestübchen, im Elternhause bot das Leben und Treiben doch mehr Anregung und Zerstreuung ... Für diese scheinbare Vernachlässigung erhielt indessen die Großmutter im nächsten Frühjahre einen Beweis der Anhänglichkeit, der sie ihr Leben lang erfreute und ergötzte. Vor Pfingsten ist es üblich, in dem Dorfe so laut und anhaltend als möglich mit den Peitschen zu knallen. Dies Knallen ist gegen die Hexen gerichtet, und es konnte nicht fehlen, dass vor manchem Hause, in welchem ein missliebiges altes Weib wohnte, von Groß und Klein heftig geknallt wurde. Nun wurde meine Großmutter zu diesen missliebigen Weibern durchaus nicht gerechnet, aber ein boshafter, vielleicht heimlich dazu angeleiteter Knabe erfrechte sich doch, gegen Abend vor dem Ausnahmehäuschen Stellung zu nehmen und anhaltend gegen dasselbe hinzuknallen. Die am Fenster sitzende Großmutter protestierte heftig gegen die freche Beleidigung, ohne etwas auszurichten. Erst als ich aus den Fenstern des Elternhauses das Treiben des tollen Knaben sah und ein paar ältere Brüder aufrief, mir bei der Vertreibung des Verbrechers beizuspringen, da wurde rasch und gründlich abgeholfen. Der Knabe wurde während des heftigsten Knallens rückwärts angefallen, zu Boden geworfen und durchgehauen, dann wieder aufgehoben und davon gestäupt. Der Großmutter gefiel diese Ehrenrettung ganz ausnehmend, besonders mein oft wiederholter Ruf: » Ma Na'l is koa Höx!« (Meine Großmutter ist keine Hex!) Schwere Butterschnitten mit Honig waren unsere nächste Belohnung. ...


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