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26.
Auf Lehramtswegen. Geistersagen. Eine Flucht voll Schrecken, eine Aufklärung voll Segen.

Mein Vater, von Geschäften der Wirtschaft und des Handels überhäuft und über den großen Segen der sich stets vermehrenden Familie stutzig geworden, schien an das Wagnis, noch einen Sohn studieren zu lassen, nicht mehr zu denken; er schwieg Wochen und Monate lang – sogar ein Jahr lang und länger. Ich gewahrte nur zeitweise, dass er sich nach meinen Fortschritten in der Schule, namentlich nach jenen in der Musik erkundigte. Selbst in meinem achten Jahre schien der Vater noch zu schwanken bezüglich der Bestimmung, die er meiner Zukunft geben sollte. Endlich entschied er sich für das Lehramt. Ich sollte vor allem fleißig Musik (Violine und Klavier) betreiben, im Schreiben und Rechnen besondere Fertigkeit erreichen, weshalb ich kurze Zeit fast täglich nach Neumark zu dem damals angesehenen Lehrer Eisenhut mit Violine und Schreibheft wanderte, dann aber nach Depoltewitz bei Neuern zu einem verwandten Lehrer, Veit Rank, gebracht wurde, der mit einer förmlichen Vorbereitung für das Lehramt beginnen sollte. – Dahin wanderte ich mit einem Bruder meiner Mutter, Jakob Wittmann, Anfangs Mai. Mein Führer litt gerade an dem sogenannten Backenkrampf, er konnte den Mund nicht mehr schließen. Dagegen wollte er in Neuern, das wir passieren mussten, ärztliche Hilfe suchen. Es ist mir unvergesslich geblieben, wie der gute »Vetter«, wie ich ihn nannte, gleich nach unserer Ankunft in Neuern die ärztliche Hilfe auch wirklich fand. Der Arzt stand eben am Fenster, als wir vorüber kamen, und der Vetter nahm das Sacktuch von dem Munde, um bei seinem Eintritt dem Arzt sein Übel gleich sehen zu lassen; – allein der Arzt hatte bereits genug gesehen, und als wir eintraten, erhielt der Vetter sofort eine unsagbare Ohrfeige. Ich erstarrte vor Entsetzen; aber der Vetter war entzückt, denn die Mundsperre war beseitigt, er konnte reden, dankte tausendmal und bezahlte die ärztliche Hilfe. Die Erlösung machte den Vetter so glücklich, dass er auf dem ganzen Wege, den wir noch zurückzulegen hatten, zu reden fortfuhr und mein von beginnendem Heimweh umtrübtes Herz erleichterte und erhellte ... Von meinem Aufenthalt in Depoltewitz, der nicht lange dauerte, weiß ich nicht mehr zu erzählen, als dass ich vom Herrn Lehrer und dessen Frau sehr freundlich aufgenommen und gut gehalten wurde, fleißig Musik betrieb, auch im Chorgesang verwendet wurde, viel Geschriebenes auswendig lernte und an Heimweh ganz unsäglich litt. Beim Auswendiglernen saß ich gerne auf einer Feldmauer nicht weit von der Kirche und blickte nach der Straße, die ich mit dem »Vetter« gekommen war.

Eines Tages, als ich wieder auf dieser Mauer saß, kam ein Knabe aus dem nahen Wirtshaus und sagte: »Dein Vater ist da, du sollst kommen!« Mich erfasste eine solche Freude, gemischt mit Heimweh und Verwirrung, dass ich regungslos sitzen blieb und weder reden noch folgen konnte. Mein Vater musste selbst kommen und mich holen, was nicht ohne stürmischen Ausbruch von Weinen und Schluchzen geschah. Etwas getröstet wurde ich durch die vom Vater in Aussicht gestellte Erlaubnis, die kommenden Pfingstfeiertage im Elternhause verleben zu dürfen. In Erwartung dieses unbeschreiblichen Glücks verlebte ich die folgenden Wochen gefasster, dann, am Pfingstsamstag, ergriff ich einen selbstgeschnitzten Wanderstab und eilte an Neuern vorbei der Heimat zu. Die Angel, von Gewitterregen angeschwollen, war weit und breit aus den Ufern getreten. Ich schauderte bei dem Anblick der tosenden Gewässer, die ich in solcher Masse und Wildheit nicht für möglich gehalten hatte. Endlich kam ich glücklich hinüber und eilte die Straße nach der Heimat weiter – doch nicht ohne noch vor der Ankunft daheim ein eigentümliches und bezeichnendes Abenteuer zu erleben ... Ich hatte den sogenannten Fuchsberger Wald betreten, der sich an beiden Seiten der Straße bis in die Nähe meiner Heimat hinzieht. Der Wald, ein Eigentum der Grafen Stadion, ist sehr ausgedehnt und erfreute sich damals eines dichten hohen Baumbestandes. Indem ich eine Weile im Schatten der hohen Tannen dahin schritt, überfielen mich leichte Schauer der Waldeseinsamkeit, und ich erinnerte mich der vielen Sagen und Geschichten, die von diesem Walde erzählt zu werden pflegten. In diesem Walde sollten sich Irrwurzeln befinden, die den Wanderer, der sie betritt, sinneswirr machen und ihn veranlassen, ohne es zu merken, den Weg wieder zurückzugehen, den er gekommen; in diesem Walde haben »Sterbevögel«, um Mitternacht, von Baum zu Baum neben dem Wanderer herfliegend, durch einen herzbeklemmenden Gesang den bald erfolgenden Tod eines Verwandten vorherverkündigt; in diesem Walde waren, wie man erzählte, abgeschiedene Seelen gegen Abendläuten ihren durchwandernden Verwandten erschienen und haben von ihren Leiden im Fegefeuer unsägliche Dinge erzählt; in diesem Walde waren Wilderer und Förster erschossen worden, deren Seelen jetzt noch nächtlicher Weile umgingen und den Frieden suchten, oft auch knapp am Ohre des Wanderers einen solchen Schrei ausstießen, dass derselbe vor Entsetzen ohnmächtig zu Boden fiel; in diesem Walde sollten oft Nachts um die zwölfte Stunde einzelne Bäume von den Wurzeln bis zum Wipfel in hellem Brand aufflammen und ganze Waldstrecken entzünden, die andern Tages wieder unverletzt aufgefunden werden; in diesem Walde war der Wilderer erschossen worden, den ich vor einigen Tagen unter einem Baume, bedeckt voll Tannenzweigen, liegen gesehen, er sollte in Gestalt eines Wildschweines gerne denen erscheinen, die ihn an seinem Todestag am Ende des Waldes gesehen haben. Die Schauer dieser Geschichten und die merklich wachsende Abenddämmerung umdüsterten und beängstigten mein Herz immer schwerer; ich begann schneller zu gehen, ja zu sausen, um den sagenhaften Bedrängnissen dieses Waldes zu entfliehen, aber die allerärgste Bedrängnis sollte noch kommen. Ich hatte die Stelle erreicht, wo ein großes, schon etwas windschiefes Kruzifix stand. Von diesem Kruzifix waren schöne Wundersagen in Umlauf, aber auch die Geschichte eines Vorfalls, die im Gedächtnis der Leute leider nicht erlöschen wollte. Vor diesem Kruzifix habe, so hieß es, vor grauen Jahren eines Tages ein zehnjähriges Mädchen seine kindliche Andacht verrichtet, als es von zwei Männern überfallen und fortgeschleppt wurde; man hatte lange Zeit keine Spur mehr von dem unglücklichen Kinde gefunden, bis eines Tages ein Schafhirt an dem Kreuze vorüberging und auf der Bank vor demselben eine Kindsgestalt sitzen sah, deren Hals halb durchschnitten war, so dass der Kopf fast ganz nach der Schulter niederhing; – leise weinend klagte der blutende Kopf, dass das verschwundene Kind von Juden entführt und geschlachtet worden sei – weil Juden zu ihrem Gottesdienst Christenblut brauchten. An diese damals noch viel verbreitete Sage mich erinnernd, blickte ich ängstlich nach dem Kruzifix, zog die Mütze, schlug ein Kreuz und lief, was ich konnte, da kam mir, aus derselben Seite des Waldes gehend, die Gestalt eines alten, schon etwas gebeugten Mannes entgegen, der einen langen, schneeweißen Vollbart trug, wie man damals fast ausschließlich nur bei alten Juden zu sehen gewohnt war. Meine Befangenheit war groß; meine Schritte wurden zögernd, bald blieb ich ganz stehen und starrte bebend nach dem Wanderer. Der alte Mann bemerkte mich jetzt, schien meinen Zustand zu erraten und fing an, mir Zeichen des Wohlwollens, der Beruhigung zu geben und wendete sich nach der anderen Seite des Waldes, um mir zu zeigen, dass er von mir ganz und gar nichts haben wolle, ja meiner Besorgnis wegen mir aus dem Wege gehe; – aber meine Sinne waren bereits so schreckenerfüllt, dass ich mit einem Angstruf rechtsum machte und schreiend den weiten Weg durch den Wald wieder zurücklief, bis nach dem Dorfe Chudiwa, wo eine Verwandte meines Vaters eine ansehnliche Mühle besaß ... Hier erzählte ich etwas verwirrt und von erwachendem Schamgefühle heimgesucht, was ich eben erlebt und gelitten hatte, und bat um einen Begleiter, der mich durch den unheimlichen Wald nach Hause führe. Sogleich war ein etwa fünfzehnjähriger Knabe der Müllerin bereit, sich mit mir auf den Weg zu machen. »Dem Geisterzeug wollen wir was aufspielen«, sagte er lachend und nahm ein Clarinet zu sich, das er, wie ich bald genug gewahrte, recht artig spielte. Nachdem die Müllerin, eine große, männlich-charaktervolle Frau, die wegen Prozesses mit einem erwachsenen Sohn schon oft bei meinem Vater um Rate erschienen war, mich durch Speise und Trank gestärkt und mir durch wackern Zuspruch Mut zugesprochen hatte, machte ich mich mit dem Begleiter, einem Musterjungen von Heiterkeit, Mut und keckem Selbstvertrauen auf den Weg, und wir erreichten bald den Wald, durch den ich so schreckerfüllt geflohen war. »Nun soll uns was kommen!« rief der Begleiter, lachend und frisch um sich blickend. »Jedem Nachtgoid (Gespenst) will ich aufspielen, dass er mit Irrwurzeln, brennenden Bäumen und alten Juden tanzen und springen soll!« Und er spielte die lustigsten Weisen auf, dass es weit und breit durch den Wald klang und vielfach als Echo wieder zurückkam. Ich selbst wurde frohgemut, alle Gespensterfurcht war verschwunden, und als der frische Junge am Ende des Waldes stehen blieb und sich zum Rückweg anschickte, schätzte ich mich glücklich, dass ich noch eine Strecke in der Dämmerung allein zu wandern hatte, um unser Dorf und das Vaterhaus zu erreichen. »Glaub' mir,« sagte der Prachtjunge, mir die Hand zum Abschied reichend, »'s ist nix mit dem Geisterzeug – Hasenscheuchen, hat mein Vater selig immer gesagt; glaub nit dran, das Beste ist, lustig, brav, tapfer sein – so braucht man nichts zu fürchten und kann auf gut christlich auch selig werden!« Er marschierte in den Wald zurück, und ich hörte, während ich heimwärts ging, das Clarinet im Walde wieder hellauf klingen ... Daheim angekommen und herzlich bewillkommt, war ich nicht sobald im Stande, von meinem Abenteuer im Walde zu erzählen; ein immer lebhafter werdendes Gefühl der Scham über meine Flucht ließ mich nicht zum Geständnis kommen. Erst als der Vater von Neumark, wo er tagsüber durch Geschäfte festgehalten war, nach Hause kam, gestand ich mein Entsetzen und meine Flucht im Walde. Der erste Eindruck, den meine Erzählung namentlich bei der Mutter hervorbrachte, war Teilnahme und Bedauern; dann begannen die ältern Brüder meine Leichtgläubigkeit und übertriebene Furcht zu tadeln. Der Vater schwieg, doch merkte ich wohl, dass er sich zu einer ernstern Bemerkung vorbereite. Als er endlich das Wort nahm, wies er zuerst auf seine oft wiederholten Erzählungen hin, wie er zu allen Stunden der Nacht durch den verrufenen Wald gewandert sei, ohne je das Geringste von Zauber- und Geisterspuk gehört oder gesehen zu haben. »War das alles umsonst geredet?« fuhr er, zu mir gewendet, ernst und nachdrücklich fort: »Beberl, das gefällt mir nicht. Und noch schlimmer ist, dass du vor dem Juden davongelaufen bist. Wer hat dir gesagt, dass es ein Jude gewesen? Tragen nicht andere Leute auch solche Bärte? Und wenn's ein Jude war – wer hat dir gesagt, dass er Christenkinder umbringen will? wer hat dir gesagt, dass überhaupt Christenkinder von Juden umgebracht werden? Beberl, das gefällt mir noch viel weniger. Du sollst studieren, hell im Kopfe werden; du sollst Lehrer oder Pfarrer werden und den Leuten einmal gut Beispiel geben. Wirst du so Höllenzeug glauben und lehren? Unser alter Pfarrherr ist gewiss ein frommer Mann, aber wie oft predigt er gegen solche Hexen- und Zaubergeschichten und nennt's einen Höllenfrevel, wenn die Leute von Christenblut reden, das die Juden suchen und brauchen! Führt unser Geschäft nicht auch Juden ins Haus? Sind's nicht ordentliche Leute? Führen sie mir nicht Käufer zu und kaufen selbst gar manches? Seht ihr nicht, wie sie eifrig sind und mäßig leben? Beberl – du machst mir doch sonst viel Freude – heute bin ich nicht mit dir zufrieden!« ... Die Mutter bat, die Sache für heute ruhen zu lassen, es sei schon spät, und ich würde Ruhe brauchen. Ruhe brauchte ich wirklich, aber ich hatte nicht bald eine schlimmere Nacht hingebracht als die folgende. Die Unzufriedenheit des Vaters peinigte mich entsetzlich. Der wackere Knabe der Müllerin stand mir als hell leuchtendes Beispiel der Tapferkeit vor Augen und beschämte meine Leichtgläubigkeit und meinen Kleinmut auf das Bitterste, ich rief mir zum Trost mein eigenes Beispiel von Tapferkeit ins Gedächtnis, da ich der Erscheinung des Schornsteinfegers einst so löblich widerstanden; aber ich haschte nur nach Strohhalmen von Trost, da immer wieder neue Anklagen und Beschämungen auftauchten. Die Hindeutung meines Vaters auf die Juden, die unser Haus so oft besuchten, erweckte mir neue Pein und Verlegenheit. Diese Männer hatten sich wirklich stets persönlich und geschäftlich gut benommen, und nicht selten war es geschehen, dass sie uns Kindern kleine Geschenke brachten oder uns durch hübsche Überraschungen erfreuten. Kartenkünste, physikalische Zauberstücke spielten eine große Rolle; ein ergötzliches Zauberstück blieb mir besonders unvergesslich: in einem Glas Wasser lag eine Silbermünze, und wenn der Wundermann einen seltsamen Spruch murmelte, sprang die Münze aus dem Wasser und kollerte auf dem Tisch herum. Der Künstler konnte auch geheimnisvolle Musik aufspielen lassen, wenn er in seinen Hut einen summenden Spruch hinein murmelte. Den Namen des Wundermannes weiß ich nicht mehr, aber der Mann war in Deschenitz bei Neuern zu Hause. Wie sollte ich diesen Männern gegenüber treten, seit ich vor einem alten Juden geflohen war, in dem Glauben, er bringe Christenkinder um und wolle mir selbst ans Leben? Besonders an den reichen, gewaltigen Juden aus Tutschab (den Federnlieferanten meines Vaters) dachte ich mit Bangen in jener Nacht; von ihm bezog der Vater den ganzen Vorrat von Federn zum weiteren Vertrieb. Er war ein großer, schöner Mann, in der Haltung sehr würdevoll und gemessen, im Benehmen freundlich und gesprächig. Er kam alle zwei Jahre einmal auf Besuch, bewohnte dann unser Familienstübchen und hielt dort täglich stundenlange, geheime Konferenzen mit meinem Vater. In der großen Familienstube erschien er gerne, wenn die Familie mit Knechten und Mägden bei Tische saß. Da stellte er sich in langem pelzverbrämtem, dunkelgrünem Schlafrock, und aus einer langrohrigen Pfeife baffend, vor dem Tische auf, sah alle nach der Reihe freundlich an, stellte kleine Fragen, die er meist selbst beantwortete, und schritt dann eine Weile behaglich auf und ab; eine kleine Schwäche, die dabei zum Vorschein kam, wurde hinterrücks viel belächelt, in seiner Gegenwart aber – dafür sorgte der strenge Auftrag meines Vaters – scheinbar nicht beachtet. Trotz alles Baffens kam nie ein Wölkchen Rauch aus dem Munde des Rauchers oder durch den Deckel der Pfeife; und alle paar Minuten wurde Feuer gemacht, der Pfeifendeckel aufgeschnellt, glühender Schwamm eingelegt, dann wieder Deckel zu, biffbaff – und kein Rauch! ... Der nächste und nächstnächste Tag (die Pfingstfeiertage) brachten kein Nachspiel des bitterlichen Abenteuers; wir besuchten vormittags den Gottesdienst, Montag nachmittags das beliebte Pfingstwettrennen, dann einige Stunden den Volkstanz und schienen an alles eher als an meine Flucht im Walde zu denken. Der Vater war freundlich, erleichterte mir den bevorstehenden Abschied durch die Mitteilung, dass er mich zum verwandten Lehrer selbst zurückführen wolle, und wir waren am dritten Morgen unterwegs, durchwanderten den verhängnisvollen Wald und kamen Neuern nahe, ohne dass der Vater des kürzlichen Ereignisses mit einem Worte gedachte. Er war überhaupt weniger gesprächig, schien über allerlei nachzudenken, ein leichter, geheimnisvoller Zug lag auf seinem freundlichen Gesichte. Als wir in Neuern über die Angelbrücke schritten, sagte der Vater, er habe in einem Hause mit jemand zu sprechen, es werde gleich geschehen sein, ich möge mitkommen und nicht im Freien warten. Gleich darauf, nicht weit vom Hauptplatze des Städtchens, traten wir in ein Haus und wurden von einem jungen Manne in blauer Bluse, die voller Farbenflecke war, auf das Freundlichste empfangen. Der junge Mann war Kalligraph, und wie man an der Ausstattung des Zimmers mit Bildern und einer Staffelei bemerken konnte, auch Maler. Ich betrachtete mit Entzücken das große Blatt auf dem Tische, das der kunstfertige Mann eben verlassen hatte: eine Art Diplom, mit Figuren, Wappen und prachtvoll zum Teil in Farben ausgeführten Schriftgattungen. Der Vater gewahrte mit Vergnügen meine Begeisterung und sagte: »Nicht wahr, so was zu können, bringt Ehr' und Freude? Vielleicht ist der Herr so gut und will dich in seiner Kunst auch einmal unterweisen?« Der junge Maler legte mir die Hand auf den Scheitel und sagte freundlich: »Gerne, der Vater möge mich nur bringen!« ... In diesem Augenblicke ging die Nebentüre auf und ein alter, etwas gebeugter Mann mit langem weißem Barte trat heraus und grüßte meinen Vater herzlich als alten Bekannten. Sie sprachen sogleich mit vielem Eifer über allerlei Dinge, die sie beide interessierten, während ich, aufgelöst in Scham und Entsetzen, starr beiseite stand. Das war ja, wie ich nicht zweifeln konnte, der alte Mann mit dem schneeweißen Vollbarte, vor dem ich vor einigen Tagen im Walde entflohen war. … Glücklicher Weise schien mich der alte Mann nicht zu beachten und auch nicht zu erkennen und empfahl sich bald von meinem Vater, ohne mir auch nur einen Blick zu gönnen ... Wir waren schon lange wieder im Freien und wanderten aus einer Halbstraße unserm Ziele entgegen, als der Vater lächelnd einen Blick über mich hingleiten ließ und mit eigentümlicher Betonung sagte: »Die schöne Kunst des Malers hat dir also gefallen. Ja, es ist schön, wenn der Mensch etwas kann – und du sollst mir noch in seine Lehre!« Nach einer Weile setzte er hinzu: »Und den alten Mann mit dem weißen Bart – hast du ihn auch gesehen?« Ich nickte nur mit dem Kopfe. »Es ist vielleicht derselbe alte Mann, von dem du dich so arg hast schrecken lassen; – er ist kein Jude und der beste Mann der Welt – das merk' dir, Beberl!« ... Der Vater hat mir erst nach Jahren eingestanden, dass er mich hauptsächlich des alten Mannes wegen zu dem jungen Maler geführt hatte, um mich durch eine schwere Beschämung von meiner Juden- und Gespensterfurcht zu befreien: – das Mittel hat trefflich angeschlagen, die Heilung ist gründlich erfolgt; – ich habe später nie mehr an Geister- und Zauberspuk geglaubt und die tollen, ja verbrecherischen Judensagen bekämpft, wo ich konnte. Ich gestehe gerne, dass ich später in meinem Leben Juden zu meinen besten, treuesten und werktätigsten Freunden gezählt habe ...


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