Edward Phillips Oppenheim
Das Geheimnis von Cruta
Edward Phillips Oppenheim

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32.
Letzte Aufklärung

Schließlich stand Paul vor den großen Toren des Schlosses. Er ruhte einen Augenblick aus, um Atem zu holen. Zweihundert Meter unter ihm lag die Yacht vor Anker. Sie sah von dieser Höhe wie ein Kinderspielzeug aus. Unten an der Küste sah er die erleuchteten Fenster der kleinen Ortschaft. Die düstere Schloßfront vor ihm hob sich drohend vom Himmel ab. Nirgends zeigte sich ein Licht, und die schweren, eisernen Torflügel, durch die man in den Hof hineingehen konnte, waren geschlossen. Er konnte keinen Laut hören. Es war, als ob der Tod hier lauerte.

Ein großer, rostiger Klingelzug befand sich an der Seite des Tores, und da sich Paul nicht anders bemerkbar machen konnte, zog er heftig daran. Der Klang der Glocke rief ein unheimliches Echo in dem großen Gebäude hervor. Gleich darauf erschienen verschiedene rauh aussehende Männer, die offene, schwelende Öllampen trugen. Sie kamen aus dem Hintergrunde des Hofes, zogen die Bolzen zurück und öffneten die Torflügel.

»Ich bin hergekommen, um den Grafen zu sprechen«, sagte Paul. »Führen Sie mich zu ihm.«

Der eine Mann erwiderte ihm, aber er verstand seinen Dialekt nicht. Auf jeden Fall führten sie ihn quer durch den Hof zu dem Eingang des Schlosses. Sie gingen aber nicht durch die Haupttüre, sondern durch eine niedrige, mit vielen Beschlägen befestigte Nebentüre, die zu einem Turme führte. Als sie hineinkamen, wurde sie sofort verschlossen.

Paul sah sich neugierig um, aber in dem Halbdunkel konnte er nur wenig erkennen. Er befand sich in einem Gang, dessen Wände weiß getüncht waren. Als sie weitergingen, mehrere Korridore durchschritten hatten und eine Treppe hinaufgestiegen waren, wurden die Abmessungen der Räume größer und höher. Nirgends sah er jedoch ein Möbelstück. Das ganze Gebäude erinnerte ihn an ein altes, kahles Gefängnis.

Plötzlich blieb der Mann, der ihn führte, stehen und erhob eine Hand. Paul lauschte, und zu seinem größten Erstaunen hörte er ganz in der Nähe Männerstimmen, die ein Kirchenlied sangen. Es klang düster und traurig wie ein Grablied. Was konnte das bedeuten?

»Ist jemand krank?« fragte Paul. »Oder liegt jemand im Sterben?«

Der Mann schüttelte den Kopf, denn er hatte nichts verstanden. Er machte Paul ein Zeichen, leiser zu gehen, und eilte weiter. Der Gesang wurde immer deutlicher. Schließlich blieben sie am Ende des Ganges vor einer großen Türe stehen, an die sein Führer leise klopfte. Sie wurde sofort geöffnet, und Paul trat in ein großes, schwach erleuchtetes Schlafzimmer. Er sah sich interessiert um. Wenn auch das Innere etwas vernachlässigt war, so zeigte es doch noch Spuren von früherer Pracht. Große, altertümliche Möbel standen an den Wänden, und die Bettstelle war reich geschnitzt und an dem Kopfende mit einem großen Wappen geschmückt. Paul hatte aber nicht lange Zeit, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, denn kaum war er eingetreten, so kam ein Mönch in schwarzer Kutte auf ihn zu, der neben dem Bett gestanden hatte.

»Wir haben Sie erwartet«, sagte er auf italienisch. »Wir fürchten, daß Sie zu spät kommen, diese arme Frau ist jenseits aller menschlichen Hilfe.«

Paul sah ihn erstaunt an.

»Ich verstehe Sie nicht! Ich wollte den Grafen von Cruta sprechen.«

Der Priester erschrak und hob die Lampe, die auf dem Tische am Fußende des Bettes stand.

»Sind Sie nicht der deutsche Doktor aus Palermo?« fragte er und betrachtete Paul scharf. Argwohn und Verdacht lagen in seinem Blick.

Paul schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin kein Arzt, ich bin ein Engländer! Mein Name ist Paul de Vaux.«

»Ach!«

Dieser schwache Ausruf kam vom Bett her, und Paul wandte sich rasch um.

Die Frau, die bis dahin still und bewegungslos auf dem Bette geruht hatte, erhob sich plötzlich ein wenig. Ihre Wangen waren eingesunken und die Knochen traten hervor. Aber ihre großen Augen brannten fieberhaft. Paul erkannte sofort daß sie dem Tode verfallen war. Es war die Frau, die mit Adrea zusammen in Major Harcourts Haus gewohnt hatte.

Er tat einen Schritt vorwärts, aber sie streckte ihm die Hände entgegen, als ob sie sich vor ihm fürchtete.

»Paul de Vaux! – Heilige Mutter Gottes! Was hat Sie hierhergeführt? Sie sind bei Ihrem Todfeind! Kommen Sie näher, schnell!«

Aber der Pater hob drohend die Hand.

»Nein, Schwester«, rief er streng, »Sie haben Ihren Frieden mit Gott gemacht. Sie haben Abschied genommen von der Welt und ihrer Eitelkeit. Schließen Sie die Augen, beten Sie und richten Sie Ihre Gedanken auf den Himmel!«

Sie achtete nicht auf ihn, sie sah ihn nicht einmal an. Ihre Blicke hingen an Pauls Gesicht, und er verstand sie.

»Diese Frau will mit mir sprechen«, sagte er scharf. »Treten Sie zur Seite und lassen Sie mich zu ihr gehen. Sie müssen die letzten Wünsche einer Sterbenden erfüllen.«

Paul sprach mit befehlender und drohender Stimme, aber der Priester zeigte nur nach der Tür.

»Es geht nicht, daß Sie mit dieser Frau sprechen. Ich will keine Gewalt anwenden, aber wenn Sie darauf bestehen, werde ich den Grafen rufen. Sie bezahlen dann Ihre Kühnheit mit dem Leben. Ihr Name und Ihre Gesichtszüge sind so gut wie ein Todesurteil in diesem Hause. Entfernen Sie sich, so schnell Sie können, dann sei Friede mit Ihnen Wenn Sie aber bleiben, kann ich Sie nicht retten!«

Paul sah sich in dem Zimmer um. Zwei Mönche standen mit brennenden Kerzen am Fußende des Bettes und sprachen lateinische Gebete. Der Mann, der ihn hierhergebracht hatte, war verschwunden. Außer dem Priester und den beiden Mönchen war niemand zugegen.

»Das ist unmenschlich!« sagte Paul kurz. »Die Bitte einer Sterbenden achte ich mehr als Ihre Drohung. Treten Sie zur Seite!«

Paul legte seine Hand schwer auf die Schulter des Priesters. Wenn es notwendig sein sollte, war er sogar bereit, Gewalt anzuwenden. Aber der andere trat zurück, machte sich von Paul frei und rief einen der Mönche zu sich. Paul kniete an der Seite der Frau nieder und neigte sich über sie.

»Madame de Merteuil, Sie wollen mir etwas sagen?« flüsterte er. »Was ist es?«

Ihre Stimme klang leise und schwach, aber konnte sie deutlich verstehen.

»Ich bin nicht Madame de Merteuil, sondern die Tochter des Grafen von Cruta!«

Pauls Hände verkrampften sich in dem Bettuch. Sie war die Tochter des Grafen von Cruta? Diese schwache Frau mit den eingefallenen Zügen war einst das junge Mädchen, das sein Vater entführt hatte? Diese plötzliche Erkenntnis bewegte ihn tief. O, wenn er das doch nur vor einigen Wochen gewußt hätte! Er hätte sie nicht aus der Nähe von Schloß Vaux fortgehen lassen. Aber jetzt war es zu spät. Sie versuchte, wieder zu ihm zu sprechen.

Ihre Lippen bewegten sich und er neigte sich tiefer über sie, um jedes Wort zu hören.

»Sie wissen, was sich zwischen Martin de Vaux und mir abgespielt hat?«

»Ja, ich weiß alles«, beruhigte er sie. »Ich habe vor kurzem alles erfahren!«

»Von wem?«

»Von dem Priester, der damals mit Ihnen in England war – von Ihrem Sohn.«

Plötzlich war ihm dieser Gedanke gekommen. Ja, Pater Adrian mußte ihr Sohn sein!

»Sind Sie hierhergekommen, um zu erfahren, ob die Geschichte wahr ist?«

»Ja.«

»Die Heiligen müssen Sie hierhergeführt haben in dieser Stunde. Die Geschichte – ist falsch!«

Paul geriet in fieberhafte Erregung. War dies alles eine böse Verschwörung? Wenn sie nun starb, ohne ihm alles gesagt zu haben?

»Sie kennen meine Geschichte«, fuhr sie leise fort. »Ich beginne mit der Zeit, wo ich Ihren Vater in Paris verließ. Nachdem mein Vater uns aufgesucht hatte, begann ich, meine Flucht zu bereuen. Seine Worte verfolgten mich. Abends ging ich heimlich in die Kirche. Einmal stand ein ernster Priester mit einem schönen Gesicht auf der Kanzel, und seine Worte machten großen Eindruck auf mich. Er kannte meine Sünde, und mein Schuldbewußtsein wurde unerträglich. Am nächsten Morgen verließ ich Martin heimlich, ohne ihm Lebewohl zu sagen. Graf Hirsfeld half mir bei der Flucht, und so kam ich wieder hierher.

Ich hoffte auf Verzeihung, aber mein Vater konnte die Vergangenheit nicht vergessen. Er lebt hier in vollkommener Abgeschlossenheit, und alle Leute fürchten ihn. Er brütet nur über die Schande nach, die ich über ihn gebracht hatte. Er behielt mich hier im Schlosse, aber er verfluchte mich.

Sechs Monate nach meiner Rückkehr wurde ich schwer krank und lag zwischen Leben und Tod. Da schrieb ich den Brief an Martin. Der Brief lag auf dem Tisch neben meinem Bett, aber ich durfte ihn nicht absenden, ohne die Genehmigung meines Vaters. Deshalb ließ ich ihn rufen und sagte ihm alles.

Zu meinem größten Erstaunen willigte er ein. Ja, er tat noch mehr. Er sprach mit Graf Hirsfeld darüber, und der Graf erbot sich freiwillig, mein Schreiben nach England zu bringen. Diese Bereitwilligkeit machte mich ängstlich und mißtrauisch. Ich wußte ja, wie sehr die beiden Martin de Vaux haßten. Ich ließ den Arzt an mein Bett rufen und fragte ihn aus. Er erklärte mir feierlich, daß ich kaum noch zwei Wochen zu leben hätte und daß ich unmöglich durchkäme. Daraufhin ließ ich meinen Verdacht fallen, denn ich glaubte, mein Vater hätte wegen der Ehre seines Familiennamens zugestimmt, Martin hier unter seinem Dache zu empfangen. Ich selbst fühlte, daß mein Ende nahe war, denn ich kämpfte immer gegen eine tödliche Schwäche und fürchtete, daß Martin zu spät kommen könnte!

Erst am Abend vor seiner Ankunft erfuhr ich den wahren Zusammenhang. Ich lag mit geschlossenen Augen, und sie glaubten, daß ich schliefe. Der Arzt und mein Vater sprachen im Flüsterton miteinander, und ich hörte, wie er sagte, daß die Krisis vorüber sei. In einigen Tagen erwartete der Arzt meine Niederkunft und hoffte, daß ich in kurzer Zeit wieder hergestellt sein würde, wenn alles gut ginge. Ich nahm alle Kraft zusammen, rief meinen Vater zu mir und sagte ihm, daß ich alles gehört hätte. Ich beteuerte ihm, daß ich Martin nicht heiraten wollte, wenn er hierherkäme. Seine Wut kannte keine Grenzen. Graf Hirsfeld, wie er, wußten von Anfang an, daß ich wahrscheinlich wieder genesen würde. Ich blieb fest und gab meine Zustimmung nicht. Ich hatte den Brief geschrieben in dem Glauben, daß ich sicher sterben würde. Wenn Martin kam, wollte ich ihn unter diesen veränderten Umständen nicht sehen, und wenn man mich zwingen würde, mit ihm zusammen zu sein, wollte ich ihm die Wahrheit sagen. Mein Vater verließ mich, er war zu aufgeregt, um mit mir sprechen zu können. Die ganze nächste Woche wurde mein Schlafzimmer geschlossen gehalten, nur der Arzt und die Krankenschwester durften zu mir kommen. Aber später erfuhr ich alles, was geschehen war. Meine Zofe Maria, die an Schwindsucht litt und nicht mehr lange zu leben hatte, wurde in eins der Staatszimmer geschafft, und als Martin ankam, mußte sie meine Rolle spielen. Der Priester, der ihr Beichtvater war und ihr die Absolution erteilte, verstand es, ihre Einwilligung zu diesem Betrug zu erlangen. Er tat es, weil er glaubte, daß dadurch die reichen Güter der de Vaux an die Kirche fallen würden.

Martin kam und erfüllte, wie er glaubte, meine letzte Bitte. Die anderen standen mit geladenen Pistolen neben ihm und erlaubten ihm nicht, sich dem Bette zu nähern. Sobald die Trauung vorüber war, wurde er gezwungen, das Schloß zu verlassen.

Wenige Tage später starb Maria. Von meinem Bette aus sah ich, wie der kleine Trauerzug vom Schlosse niederstieg – mein Vater und Graf Hirsfeld waren die Hauptleidtragenden. Martin folgte in einiger Entfernung und ich war damals froh, daß ich ihn nicht hintergangen hatte. Ich sah, wie er an dem Grabe weinte, das er für das meine hielt. Am Tage darauf wurde mein Sohn geboren.

Eine Zeitlang weilte er in dem Kloster drüben und ich wurde argwöhnisch. Er, mein Vater und der Abt des Klosters waren dauernd zusammen. Es schien mir, als ob sie ihn zu irgendeiner Handlung zwingen wollten. Nach und nach fand ich alles heraus. Adrian sollte als mein rechtmäßiger Sohn nach England gehen und sich in den Besitz des de Vauxschen Familienerbes setzen, das er dann der Kirche übergeben sollte. Zuerst weigerte er sich, aber allmählich brachten sie ihn dazu, den Plan auszuführen.

Es wurde eine Warnung an Martin de Vaux geschickt, der schnell hierher eilte – und seinen Tod fand. Ich wurde als eine Gefangene gehalten, aber ich erfuhr doch alles. Adrian war noch lange nachher unentschlossen, ob er nach England gehen und das Erbe für sich in Anspruch nehmen sollte. Schließlich entschied er sich und reiste ohne mein Wissen nach Norden. Ich entkam von hier, folgte ihm und tat mein Bestes, um ihn zu überreden, aber ich hatte keinen Erfolg. Dann kehrte ich elend und schwach hierher zurück.«

»Und was ist mit Adrea?«

»Adrea wußte nichts. Wie sollte sie auch?«

»Wissen Sie, wer Adrea ist?«

»Graf Hirsfelds Tochter. Er hat mir nie etwas von ihrer Mutter erzählt. Aber er war damals in Konstantinopel, und ich fürchte –«

Er senkte den Kopf.

»Ich verstehe«, sagte er nur. Seine Wangen hatten sich gerötet.

»Ich wollte immer gut zu ihr sein«, sagte sie mit stockender Stimme, »aber sie ist von hier geflohen. Sie war so unglücklich, und ich half ihr bei der Flucht – ich hatte auch meinen Grund dazu!«

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Sie sah ihn ernst, aber mit verschleierten Blicken an.

»Sie gleichen so sehr Ihrem Vater«, sagte sie mit großer Mühe. »Wollen Sie mich küssen?«

Er neigte sich nieder, küßte ihre blassen, zitternden Lippen und hielt ihre Hände fest in den seinen. Das Atmen fiel ihr schwer, und sie konnte nur noch mit größter Anstrengung sprechen.

»Ich danke Gott, daß er Sie an Stelle des Arztes an mein Bett geführt hat. Ich kann jetzt in Frieden sterben! Aber – Sie sind in Gefahr! Sie müssen von hier fliehen! Keine Minute dürfen Sie mehr verlieren! Der Graf ist grausam – furchtbar grausam! Er will nicht zu mir kommen, obgleich ich im Sterben liege. Er will mir nicht verzeihen, trotzdem ich soviel gelitten habe und er mein Vater ist. Pater Andreas ging zu ihm. Er fürchtete, daß ich Ihnen die Wahrheit sage, und daß die Kirche nicht das Schloß de Vaux bekommt. Schnell! Küssen Sie mich noch einmal, Paul und dann gehen Sie. Diese Mönche sind schlimmer als Wölfe, aber sie sind feige. Schlagen Sie sie nieder, wenn sie Ihnen in den Weg treten! Leben Sie wohl –«

Ihr Geist schien zu wandern, und sie sah den Liebsten ihrer Jugend in dem Manne, der vor ihr stand und sie mit starken Händen hielt. Paul konnte sich nicht losreißen von dieser Sterbenden. Ein seltsames Lächeln schwebte um ihre bleichen Lippen, und ein merkwürdiger Ausdruck lag in ihrem Blick, der in weite Fernen zu schweifen schien.

»Martin, es wird so trübe und dunkel vor meinen Augen – aber ich sehe dich! – Warte auf mich! Wir wollen zusammen gehen! Ach, ich liebe dich noch wie früher! Es war so entsetzlich, als du nicht bei mir warst – halte mich fester, Martin – ich fühle deine Hand nicht – – zuletzt sind wir also doch wieder vereint! Ich – Ich – bin – glücklich –«

 


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