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Unterwegs kreisten meine Gedanken nur um das eine Ziel, das ich erstrebte. Ich weiß nicht mehr, wie ich das Kloster St. Bernhard erreichte, aber nach einer langen Wanderung stand ich vor dem kahlen, hohen Tor und zog die Glocke.
Heiser und gespenstisch klang ihr Ton, und ein Zittern überlief mich, als ich das düstere Echo hörte, das in den einsamen Korridoren und Gängen geweckt wurde. Ich lauschte angestrengt, aber ich vernahm nur das traurige, melancholische Klagen des Windes, der durch die Kronen der nahen Kiefern strich. Wieder streckte ich meine Hand aus und zog die Glocke aufs neue. Endlich nahten schlürfende Schritte, ein schwerer Riegel wurde zurückgeschoben, und ein Mönch in dunkler Kutte stand vor mir auf der Schwelle. Er schrak zurück, als er eine Frau sah, und ich dachte schon, er würde das Tor wieder schließen. Aber er zögerte.
»Was wollen Sie hier zu dieser Stunde?« fragte er mit tiefer Stimme. »Die Kapelle ist geschlossen, und morgen ist ein neuer Tag, um Buße zu tun und zu Gott zu beten!«
»Ich bin hergekommen, um einen Priester zu sprechen, der hier zu Besuch weilt. Er heißt Pater Adrian!«
»Ist Ihre Nachricht denn so dringend?« fragte er zweifelnd. »Pater Adrian ist bei seinen Gebetübungen, und ich darf ihn nicht ohne triftigen Grund stören.«
»Ja, sie ist sehr dringend.«
Er winkte mir, ihm zu folgen, und führte mich dann schweigend den mit Steinfliesen ausgelegten Gang entlang. Dann öffnete er eine Tür und ließ mich in ein kleines Zimmer eintreten.
»Dies ist das Gästezimmer. Warten Sie hier.«
Er verschwand, aber bald öffnete sich die Türe wieder, und Pater Adrian stand vor mir.
»Adrea! Adrea!« rief er mit unterdrückter Leidenschaft. »Du bist hier? Was ist geschehen? Tritt näher ins Licht, damit ich dein Gesicht sehen kann!«
Ich trat einige Schritte auf ihn zu und lüftete meinen Schleier.
»Ich fühlte mich so einsam«, sagte ich leise. »War es sehr unrecht von mir, daß ich hierherkam?«
Es schien, als ob er seinen Augen nicht trauen wollte, und doch verschlang er mich mit seinen Blicken. Es war mir, als ob seine Augen mein falsches Herz durchdrangen, aber ich zuckte nicht und spielte meine Rolle mit wunderbarer Kühnheit. Ich sah, wie er zitterte, wie sich seine Wangen röteten und wieder bleich wurden. Wilde Leidenschaft zerwühlte ihn.
»Adrea, bist du zu mir gekommen, um meiner zu spotten. Wenn du noch ein wenig menschliches Gefühl hast, so flehe ich dich an, mich zu verschonen. Sprich die Wahrheit!«
Ich antwortete ihm sanft mit niedergeschlagenen Augen.
»Ich kam, weil ich mich so allein fühlte. Kommen Sie mit mir zu meinem Hause. Ich war neulich nicht bei Sinnen und habe nicht gewußt, was ich tat. Ich verstand auch meine eigenen Gefühle nicht. Nun habe ich mich selbst erniedrigt und bin hierhergekommen, um es Ihnen zu sagen. Wollen Sie mir verzeihen?« Ich hob meine Blicke und sah ihn an. »Wollen Sie mit mir kommen und mir wieder vorlesen, wie damals in den Gebüschen auf Cruta?«
Meine Worte entflammten ihn. Ich wurde ungeduldig, aber ich durfte es ja nicht zeigen. Plötzlich trat er auf mich zu und bevor ich es verhindern konnte, lag er zu meinen Füßen auf dem Steinboden und umklammerte meine Hüften.
»Adrea«, rief er leidenschaftlich, »ist das wahr? Die Freude nimmt mir den Verstand! Ach, verzeih mir, daß ich noch zu zweifeln wage. Ich weiß nichts von Frauen und kenne deinen Charakter nicht, aber deine Lippen können niemals lügen. Du treibst keinen Spott mit mir. Liebe Adrea, sieh mich an und schwöre mir, daß dies kein Traum ist. Laß mich in dein Gesicht sehen! Ich zweifle nicht an deinen Worten, aber bitte, sage es mir noch einmal. Versichere mir, daß ich nicht träume!«
Ich verstellte mich und belog ihn mit Blicken und Worten.
»Nein, es ist kein Traum«, erwiderte ich leise. »Ich bin zu dir gekommen. Adrian, weil ich mich nach dir sehne.«
Er stand auf und seine volltönende Stimme zitterte ein wenig.
»Adrea, heute habe ich einen furchtbaren Kampf mit mir gekämpft. Wenn du mich ansiehst, wirst du die Spuren in meinem Gesicht sehen. Aber nun ist alles vorüber, nun hat alle Herzensnot und Qual ein Ende. Du mußt mit mir kommen. Ich trete aus dem Priesterstande aus. Heute abend noch gehe ich mit dir fort, um nie zurückzukehren!
Er bedeckte meine Hände mit heißen Küssen. Sie brannten wie höllisches Feuer, aber ich ließ ihn gewähren. Dann streckte er die Arme nach mir aus, aber ich wehrte ihm.
»Nicht hier«, rief ich. »Ich höre Schritte draußen auf dem Gange. Wir wollen jetzt gehen!«
»Du hast recht«, sagte er und faßte sich. »Warte auf mich. Ich habe nur einige kurze Vorbereitungen zu treffen.«
Er verließ mich, und ich atmete wieder freier. Für mich gab es kein Zurück mehr, aber ich fühlte, daß meine Aufgabe weit schwerer war, als ich gedacht hatte. Die Berührung seiner heißen Hände, seine leidenschaftlichen Blicke und Worte konnte ich kaum ertragen, denn ich haßte ihn abgrundtief.
Bald kam er zurück, und wir verließen das Kloster. Er hatte seine Kleider gewechselt, und zu meinem größten Erstaunen trug er einen dunklen Straßenanzug und langen Ulster. Er erinnerte nicht mehr im geringsten an einen Priester.
Bei der Wegebiegung schaute er noch einmal zurück, dann streichelte er meine Hände zärtlich und preßte sie gegen sein Herz.
»Wie kalt ist doch deine Hand, Adrea! Du frierst in der Nachtluft. Bist du etwa krank?« fragte er ängstlich.
»Ich fühle mich wohl, nur bin ich sehr müde.«
Er nahm meinen Arm. Ich durfte es nicht verhindern, aber ich ging, so schnell ich konnte.
Es war spät. Wir hatten miteinander gegessen und getrunken. Adrian lehnte sich in seinen Sessel zurück. Er hatte lebhaft und begeistert gesprochen und sah wunderbar schön aus. Seine eingefallenen Wangen schienen sich gerundet zu haben und seine Augen leuchteten. Ich saß auf dem Teppich zu seinen Füßen und schaute in das Feuer.
»Willst du mir eine Frage beantworten, Adrian? Es war soviel Merkwürdiges in der letzten Zeit um uns und wie jede Frau möchte auch ich alles verstehen.«
»Ja, ich will dir alles sagen. Bin ich nicht dein Sklave und dein Diener? Aber frage schnell. Es gibt noch soviel Dinge, über die ich mit dir sprechen muß. Was war das?« fragte er schnell. »Ist noch jemand hier im Zimmer?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, niemand. Sage mir, wer ist eigentlich Madame de Merteuil?«
»Meine Mutter!«
»Deine Mutter?«
»Ja. Und der alte Graf von Cruta ist mein Großvater. Madame de Merteuil ist seine Tochter, aber das ist nicht ihr wirklicher Name!«
Hinter seinem Sessel stand ein hoher japanischer Wandschirm. Er war schon alt und abgenützt, und es befand sich ein großes Loch darin. Während wir miteinander sprachen, reichte eine Männerhand durch die Oeffnung, und ein zusammengefaltetes Papier fiel auf den Teppich. Ich erhob mich und ordnete die Kissen in Adrians Sessel. Bevor ich mich abwenden konnte, hatte er mich gefaßt und bedeckte mein Gesicht mit heißen, brennenden Küssen. Ich durfte mich nicht wehren, im Augenblick mußte ich alles über mich ergehen lassen. Im nächsten Moment hatte ich mein Taschentuch über den Zettel fallen lassen und nahm beides hastig auf.
»Willst du mir weiter Auskunft geben?«
»Aber selbstverständlich!«
»Wie steht es mit Schloß de Vaux?«
»Das ist mein Eigentum. Ich bin der Sohn von Martin de Vaux und bin älter als Paul. Er hat kein Anrecht darauf. Wenn ich Priester geblieben wäre, hätte ich dort ein großes Kloster gegründet, aber nun –«
»Nun ist alles dein Eigentum!«
Einen Augenblick herrschte tiefe Stille. Ich zog den Streifen Papier aus meiner Tasche, als ob ich ihn zufällig darin gefunden hätte, und las ihn schnell. Es waren ein paar hastig hingekritzelte Worte.
»Ich kann es nicht tun – ich fürchte mich. Ich will das Dolchmesser auf den Teppich legen.«
Ich schaute nach der Oeffnung in dem Wandschirm und sah die Hand, die ein langes glänzendes Messer hielt. Geräuschlos wurde es auf den Teppich gelegt, dann verschwand die Hand. Ich ging auf die andere Seite des Sessels und kniete nieder.
»Und was soll aus Paul de Vaux werden?« fragte ich.
Er lachte grimmig.
»Er muß sich mit seinem Geschick abfinden. Er kennt die ganze Geschichte. Ich habe sie ihm vorige Nacht erzählt. Sage mir, Adrea, daß du ihn nie wirklich geliebt hast! Sage es mir bitte!«
»Bist du eifersüchtig?« fragte ich leichthin. Meine linke Hand glitt an seiner Brust nieder. Ach, hier war sein Herz, ich fühlte es. Mit der Rechten langte ich vorsichtig auf den Teppich, bis ich das Dolchmesser mit den Fingerspitzen erreichte. Jetzt packe ich seinen Griff – es mußte sein – um Pauls willen. Meine linke Hand ruhte auf seinem Herzen. Ich wußte die Stelle genau.
»Adrea, bist du krank?« fragte er. »Du siehst so blaß und seltsam aus – – Ach –«
Es war vorüber. Ich hatte keinen Augenblick gezögert. Er lag zusammengesunken in dem Sessel, ein langer Genueser Dolch stak in seinem Herzen. Ich hatte es getan!
Gomez trat hinter dem Wandschirm vor, sah zuerst auf mich und dann auf ihn. Seine Augen schienen aus den Höhlen zu quellen. Er versuchte zu sprechen, aber nur seine Zähne schlugen aufeinander.
»Es ist erledigt«, sagte ich ruhig. »Nun bist du sicher, Paul. Seien Sie doch ein Mann, Gomez. Wir müssen ihn in den Wald schleppen. Heben Sie ihn vorsichtig auf. Es darf keine Blutspuren geben!«
Es bedurfte unserer ganzen Kraft, ihn fortzutragen. Wir schleiften ihn auf den Gartenweg, quer über die Landstraße in ein kleines Gebüsch.
O, es war entsetzlich und schrecklich! Die Aufregung dieser Stunde kann ich nicht beschreiben. Bevor wir uns abwandten, warf ich die Blumen, die ich auf seinen Wunsch an meinen Gürtel gesteckt hatte, auf ihn, und dies war der einzige Augenblick, in dem ich Reue fühlte.