Edward Phillips Oppenheim
Das Geheimnis von Cruta
Edward Phillips Oppenheim

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6.
Freudlose Begegnung

»Mr. de Vaux!«

Paul wandte sich im Sattel schnell zu der jungen Dame um, die ihn angesprochen hatte. Über ihren schönen, anmutigen Zügen lag ein Schatten, und sie runzelte die Stirn.

»Ach, verzeihen Sie, Lady May. Haben Sie eben etwas zu mir gesagt?«

»Sie fragen, ob ich etwas gesagt habe?« erwiderte sie mit verhaltenem Zorn. »Es scheint mir, als ob Sie Ihr frohes und heiteres Wesen in London gelassen hätten. Was ist denn nur mit Ihnen?«

»Ach nichts. Es tut mir leid –«

»Bitte, entschuldigen Sie sich nicht«, unterbrach sie ihn schnell. »Es ist wohl besser, daß ich vorausreite.«

»Tun Sie das nicht, Lady May. Ich weiß, daß ich unaufmerksam war, und ich will versuchen, es wieder gutzumachen.«

»Schön«, entgegnete sie etwas ruhiger. »Aber Sie müssen nicht denken, daß ich mich ohne Grund beschwere. Ich habe Sie dreimal etwas gefragt, bevor ich nur eine Antwort erhielt. Sie sind den ganzen Tag rücksichtslos geritten und haben häufig Ihr Leben und Ihr Pferd in Gefahr gebracht. Einige Ihrer tollkühnen Sprünge mit dem Tier grenzten direkt an Wahnsinn. Ich liebe kühnes, flottes Reiten, aber doch mit Maß und Ziel. Das ist nicht allein meine Meinung, andere Leute urteilen ebenso. Ich habe an vielen Schnitzeljagden teilgenommen, seitdem mein Vater mir das erste Ponny schenkte, aber ich habe noch niemals gesehen, daß jemand versucht hat, den Annisforth unterhalb der Brücke zu nehmen. Und ich möchte das auch nicht wieder sehen«, sagte sie schaudernd. »Ich weiß, daß Sie gute und wilde Pferde reiten, aber im allgemeinen sind Sie doch nicht so unvernünftig wie heute. Sie haben Ihre schwarze Stute so zugerichtet, daß es lange dauern wird, bevor sie wieder geritten werden kann. Der alte Harrison hatte Tränen in den Augen, als er das Tier in dem Zustand sah.«

»Ach, Harrison ist ein altes Weib, wenn es sich um Pferde handelt. Ich habe Mag nicht ein einzigesmal die Sporen gegeben. Sie war selbst so frisch und munter, daß ich sie kaum halten konnte.«

»Sie können sich und mich nicht täuschen«, erwiderte Lady May ruhig. »Den ganzen Tag haben Sie die tollkühnsten Sprünge gemacht, um zu stürzen, und es ist ein großes Glück, daß Sie mit dem Leben davonkamen und sich nicht das Genick brachen, was tatsächlich Ihre Absicht zu sein schien. Und nachdem Sie diese Absicht nicht erreicht haben, sind Sie fast zehn Meilen neben mir geritten, ohne sich zu unterhalten.«

Er wollte gerade sagen, daß er ihre Gesellschaft ja nicht gesucht hätte, aber dann schwieg er doch. Lady May hatte tatsächlich Grund, auf ihn böse zu sein. Sie waren seit den Tagen ihrer frühesten Kindheit befreundet, und selbstverständlich erwarteten alle Bekannten Pauls, daß er Lady May eines Tages heiraten würde. Er wußte, daß Lady May auf seinen Antrag wartete, denn sie hatte seinetwegen schon zwei achtbare Herren der Gesellschaft abgewiesen. Ihre Eltern und ihre Familie wünschten ebenfalls die Heirat, und Lady May selbst achtete und liebte Paul mehr als einen anderen Mann. Es war daher nur erklärlich, daß sie über das lange Schweigen während des Heimrittes erregt und erzürnt war. Sie hatte es natürlich so eingerichtet, daß er nur in ihrer Gesellschaft den Heimweg antreten konnte.

»Bitte, seien Sie mir nicht böse«, begütigte er sie. »Ich habe Sorgen.«

Sofort war sie freundlich und mitfühlend.

»Ach, es tut mir so leid. Verzeihen Sie, was ich gesagt habe. Aber früher haben Sie mir all Ihren Kummer erzählt.«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich kann Ihnen nicht alle Einzelheiten erzählen. Ich habe heute morgen einen Brief von einem Bekannten aus der Stadt erhalten, dem ich unbedingt trauen kann. Das Schreiben handelte von Artur. Sie wissen, wie leicht er sich beeinflussen läßt. Wenn jemand ihn näher kennengelernt hat, kann er alles mit ihm machen, was er will. Nun hat er die Bekanntschaft einer Tänzerin Adrea Kiros gemacht, die ihn vollständig fasziniert hat. Er ist ihr vollständig verfallen.«

»Ich habe von ihr gehört«, erwiderte Lady May leise. »Sie tritt aber nur in Privathäusern bei gesellschaftlichen Gelegenheiten auf. Aber alle Leute, mit denen ich gesprochen habe, sagen, daß sie eine große Künstlerin sei.«

»Ja, das stimmt«, Paul wolle noch mehr sagen, aber dann schwieg er. Lady May hatte ihn beobachtet und erkannt, daß er von Adrea Kiros nicht in ruhigem Ton sprechen konnte.

»Ich will mich über Artur nicht beklagen«, fuhr er fort. »Er ist der Lieblingssohn meiner Mutter. Sie wissen, wie sehr sie noch an alten Anschauungen hängt, und Sie werden deshalb verstehen, welchen Kummer ihr derartige Gerüchte bereiten würden. Aber abgesehen davon, hat Artur keine starke Gesundheit, und mein Freund Cis schreibt, daß er krank und elend aussieht. Adrea spielt scheinbar nur mit ihm, obgleich sie ihn sehr ermutigt.«

Lady May hatte Mitleid mit Paul, aber sie konnte sich seine Stimmung doch nicht ganz erklären.

»Wäre es nicht besser, daß Sie nach London führen und Ihren Einfluß auf Artur geltend machten?« meinte sie. »Sie müssen zugeben, daß das ein selbstloser Rat ist«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Ich wünsche doch, daß Sie nicht so schnell wieder von hier fortgehen. Aber ich weiß auch, wie sehr Artur an Ihnen hängt. Sicher gelingt es Ihnen, ihn von London und seinem Einfluß zu lösen. Glauben Sie nicht, daß Sie ihn hierherbringen könnten? Hier lassen sich allerhand Zerstreuungen für ihn arrangieren, und wir könnten eine schöne Zeit miteinander verleben.« Sie sprach eifrig und lebhaft. »Was halten Sie von meinem Vorschlag?«

Er war dankbar, daß sie so lange gesprochen hatte, denn er hatte sich beruhigen können. Die Pflicht schien ihm diese Reise nach London zu diktieren. Er hatte den Brief seines Freundes schon vor zwei Tagen erhalten und zweimal an Artur telegraphiert, aber keine Antwort erhalten. Er fürchtete, wieder in Adreas Nähe zu kommen, und doch sehnte er sich nach ihrer Gegenwart. Selbst in der Ferne übte sie einen starken Einfluß aus, dem er sich nicht entziehen konnte. Und doch durfte es nicht sein.

»Ich halte Ihren Plan für sehr gut. Morgen fahre ich nach London. Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie sich so sehr für mich interessieren.«

Er sah ihr ins Gesicht und schaute dann über die kahle Heide, die sich zu beiden Seiten ausdehnte. Es war ein später Novembernachmittag, und der Himmel hatte sich im Westen schwarzgelblich gefärbt als Nachklang des Abendrotes. Eine frische, kräftige Brise wehte von der See herüber, und aus der Ferne konnte man hören, wie sich die Wogen unaufhörlich an den harten Klippen brachen. Weiter landeinwärts war das Gelände mehr bebaut, aber hügelig, und hier und dort von efeuumrankten Felspartien unterbrochen. Ab und zu zeigte sich eine kleine Fichtengruppe. Paul kannte dieses sturmdurchwehte, kahle Land mit den weiten Heide- und Moorländern, den stillen einsamen Wasserflächen und dem nimmer endenden Rauschen des Meeres sehr gut. Das war seine Heimat, und er liebte sie. Das war ihm noch niemals so deutlich zum Bewußtsein gekommen. Die Reise nach London wurde ihm plötzlich unangenehm. Die Schönheit Nordenglands hatte ihn wieder vollständig in Bann geschlagen und die andere Neigung in den Hintergrund gedrängt. Und als er nun Lady Mays Gesicht mit den blonden Locken und den blauen Augen betrachtete, fühlte er, daß sie ganz hierhergehörte, und daß die Zuneigung zu ihr das starke Band war, das ihn an diese Gegend kettete. Von ihr ging ein guter Einfluß aus. Er neigte sich zu ihr und legte die Hand auf ihren Sattel.

»Sie sind so gut zu mir«, sagte er sanft. »Sie waren schon immer so lieb.«

Sie sah erfreut zu ihm auf, und ihre Augen sagten ihm mehr als Worte.

»Ich wünschte, ich könnte öfter mit Ihnen zusammensein«, erwiderte sie ruhig, »damit Sie mir wie früher alle Ihre Sorgen und Ihren Kummer anvertrauen könnten. Erinnern Sie sich noch?«

»Ja, ich weiß es. Und manchmal habe ich gehofft, daß diese Tage wiederkommen möchten.«

Sie ritten eine grasbewachsene Seitenstraße entlang, die zur Abtei führte. Man hörte die Hufe der Pferde nicht auf dem weichen Rasen.

Sie schwieg und wandte den Kopf ab, damit er nicht sehen sollte, daß sich eine Träne in ihr Auge stahl. Seine Hand ruhte noch auf ihrem Sattel, während er die Zügel lose in der anderen Hand hielt.

»Sollten diese Zeiten wiederkehren, sollte ich jemals wieder so glücklich sein«, sagte er kaum hörbar, »dann werden Sie es nicht so leicht mit mir haben. Ich habe schwere Sorgen – vielmehr eine einzige Sorge, aber die ist um so größer und drückender.«

Sie sah ihn einen Augenblick an und dachte unwillkürlich an die Zeit, als merkwürdige Gerüchte über Martin de Vaux hier erzählt wurden. Aber das war nun schon viele Jahre her, und sie wollte ihn jetzt nicht danach fragen. Sie glaubte Paul und nahm für ihn Partei, denn sie war überzeugt, daß ihm unrecht geschah. Eine Frau ist immer leicht geneigt, andere zu verurteilen, die Gegner ihres Geliebten sind.

Er brachte sein Pferd noch etwas näher an das ihre und drückte plötzlich ihre schmale Hand, die die Reitpeitsche hielt.

»May –«

In diesem Augenblick scheute ihr Pferd, sprang zur Seite und schlug heftig aus. Eine große, düstere Gestalt trat plötzlich mitten auf den Weg und ergriff die Zügel von Lady Mays Pferd. Der Mann war so plötzlich aus dem Halbdunkel aufgetaucht, und seine Erscheinung war so ungewöhnlich, daß Paul und May ebenso erschraken wie die Tiere. Paul war zuerst aufgebracht und wütend.

»Was zum T– –«

Aber er fluchte nicht. Der Mann beruhigte Lady Mays Pferd mit ein paar leisen Worten und trat dann aus dem Schatten der überhängenden Äste auf die Mitte der Straße. Auch jetzt waren seine Züge kaum sichtbar, aber man konnte ein Gewand und die Umrisse seiner Gestalt erkennen. Er trug lange dunkle Mönchsgewänder und den breitkrempigen, flachen Hut der römisch-katholischen Priester.

Paul brach mitten im Wort ab und der Arm mit der Peitsche, der sich schon erhoben hatte, sank kraftlos nieder. Er war dankbar, daß man im Zwielicht sein Gesicht nicht sehen konnte. Aber, da er nun Gewißheit hatte, faßte er sich. Er hatte Pater Adrian wiedererkannt, obgleich auch dieser sich mit den Jahren verändert hatte. Er ritt auf ihn zu und wandte sich an ihn.

»Haben Sie den Weg verloren?« fragte er ruhig. »Hier ist eine Privatstraße, und das Tor an der anderen Seite führt zum Schloß.«

Der Priester sah ihn einen Augenblick ernst an, dann trat er zur Seite, als ob er die beiden vorbeireiten lassen wollte.

»Es tut mir leid, daß ich Sie und Ihre Pferde erschreckt habe«, sagte er mit sanfter, wohllautender Stimme, die einen starken fremden Akzent aufwies. »Ich wandte Ihnen gerade den Rücken zu und wartete, daß der Mond hinter den Ruinen aufgehen sollte. Der Boden ist so weich, daß ich die Hufschläge nicht gehört habe. Der Diener im Schloß hat mir die Erlaubnis gegeben, überall in den Ruinen umherzugehen. Vielleicht habe ich mich etwas zu weit entfernt.«

»Das macht nichts«, erwiderte Paul. »Sie interessieren sich für die Ruinen?«

»Ja.«

»Im Schloß befinden sich auch mehrere kostbare Gemälde, die Sie vielleicht ebenso interessieren. Meistens stammen sie aus neuerer Zeit. Aber wir haben auch verschiedene kostbare klassische Gemälde, eine Madonna von Rubens, und mehrere Italiener.«

»Ich danke Ihnen, aber ich interessiere mich nur für mittelalterliche Kunst. Diese Ruinen sind mir mehr wert als irgendein Gemälde weltlichen Inhalts. Ich gehe jeden Abend hierher, und ich hoffe, daß Sie mir während meines kurzen Aufenthaltes in dieser Gegend die Erlaubnis dazu geben.«

»Gerne. Sie können kommen und gehen, wie es Ihnen beliebt. Ich bin Mr. de Vaux.« Paul berührte sein Pferd leicht mit der Peitsche. »Guten Abend.«

»Guten Abend, und vielen Dank!«

Die Beiden ritten die Allee weiter entlang. Paul schwieg, in Gedanken versunken, und machte keine weitere Bemühung, die vorige Unterhaltung wieder aufzunehmen. Bei einer Biegung des Weges drehte er sich im Sattel um. Der Priester stand noch auf dem Weg. Er hatte ihnen den Rücken zugekehrt, aber er stand regungslos wie eine steinerne Statue.

 


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