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Eigenartig widersprechende Gefühle stiegen in Paul auf, als er mit Adrea durch die quadratische kleine Halle des Hauses schritt und in das malerische, verwinkelte Wohnzimmer eintrat.
Zuerst glaubten sie sich allein in dem Raum, und Adrea streckte Paul die Hände entgegen. Leidenschaft durchglühte ihre Züge, und sie schien ungeduldig zu sein, weil er sich ihr so langsam näherte. Aber bevor er ihre Hände berührte, tönte eine Stimme durch die Stille.
»Adrea, hast du mich nicht gesehen?«
Einen Augenblick standen sie wie versteinert, dann wandte sich das junge Mädchen langsam um. Ihre Züge hatten sich verdüstert.
»Nein, ich bemerkte dich nicht. Ich dachte, du wärest oben!«
Madame Merteuil trat aus dem Schatten. Ihr blasses Gesicht hob sich gespensterhaft von dem dunklen Hintergrunde ab.
»Ich gehe fort«, sagte sie, trat näher und sah Adrea an. »Ich gehe gleich aber erst noch ein Wort –«
»Sprich doch«, unterbrach sie Adrea ungeduldig.
Paul wollte das Zimmer verlassen, aber Adrea hielt ihn zurück.
»Du brauchst nicht zu gehen. Alles, was für mich bestimmt ist, kannst auch du hören. Ich will keine Geheimnisse vor dir haben.«
»Ich kann es auch ruhig vor Mr. de Vaux sagen. Ich möchte dich nur fragen, ob du es für richtig findest, daß er dich hier in diesem Hause besucht?«
»Ja, ich will es, und ich habe hier zu bestimmen!«
Die ältere Frau schien eine ärgerliche Antwort geben zu wollen, aber sie unterdrückte ihre Erregung.
»Ja, du hast recht, und es ist gut, daß du mich daran erinnerst. Aber höre trotzdem auf mich, Adrea. Es ist nicht recht, was du tust. Hast du die Ermordung deines Vaters so schnell vergessen, daß du dem Sohn des Mörders die Hand reichst? Erinnere dich an jene schreckliche Stunde, als dein Vater von der Hand Martin de Vaux' niedergestreckt wurde. Es ist nicht recht, daß ihr beide jetzt Hand in Hand vereint steht. Ihr dürft nicht unter demselben Dach sein. Oh, es ist schrecklich!«
Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen, dann ging Adrea zur Tür und öffnete sie.
»Geh jetzt«, erwiderte sie scharf. »Du hast gesagt, was du mir zu sagen hattest, und nun höre meine Antwort. Du warst eine Freundin meines Vaters, und soviel ich weiß, liebte er dich. Deshalb habe ich dich bei mir aufgenommen und brachte dich hierher. Wenn du in Zukunft bei mir bleiben willst, so sprichst du über diese Dinge nie wieder.«
Madame Merteuil ging schweigend hinaus, und Adrea schloß die Tür hinter ihr. Als sie sich Paul zuwandte, waren ihre Züge, in denen sich eben noch Härte und Energie gezeigt hatten, wieder liebevoll und sanft. Sie führte ihn zu einem Stuhl.
»Ich war wohl sehr rauh«, meinte sie lachend. »Aber ich habe mich zu sehr über sie geärgert!«
Er schüttelte den Kopf.
»Es war nicht unrecht, was du tatest. Allerdings warst du streng zu ihr. Ich glaube, sie wird jetzt für immer von dir gehen.«
»Das ist mir gleich. Und wenn sie meine teuerste Freundin wäre, ich würde sie hassen, wenn sie sich zwischen uns stellte. Paul, liebst du mich nicht ebenso leidenschaftlich, wie ich dich liebe? Mir ist, als ob es auf der Welt nichts anderes mehr gäbe als unsere Liebe und als ob ich keine Vergangenheit und keine Zukunft hätte.«
Paul neigte sich zu ihr. Auch für ihn gab es in diesen Sekunden weder Zeit noch Raum, und er ließ ganz den Zauber des Augenblicks auf sich wirken.
»Höre, was ist das?« rief Adrea plötzlich.
Draußen trabte ein Reiter den Weg vom Garten zur Haustür, und kurz darauf klingelte es laut. Paul und Adrea sahen sich atemlos an. Wer konnte das sein?
Die äußere Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen, dann hörten sie schnelle Schritte in der Halle. Die Tür zum Wohnzimmer wurde aufgerissen und Artur de Vaux trat bleich und staubbedeckt auf die Schwelle.