Edward Phillips Oppenheim
Das Geheimnis von Cruta
Edward Phillips Oppenheim

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11.
Adreas Tagebuch

Heute abend hatte ich ein Abenteuer, und ich war dankbar dafür, weil es meine Gedanken für einige Zeit ablenkte. Ich war den ganzen Tag im Hause und wanderte ruhelos und nervös umher. Gegen Abend zog ich Mantel und Hut an und ging auf die Straße, um frische Luft zu schöpfen. Ich achtete kaum auf den Weg, den ich nahm, denn er war mir gleichgültig. Im Westen sah man noch die letzten Spuren des Abendrots. Es war zuerst windstill und ruhig, aber allmählich bewölkte sich der Himmel, und als ich eine Stunde unterwegs war, fielen die ersten Regentropfen. Das Unwetter nahm zu, aber es stand ganz im Einklang mit meiner Stimmung.

Als es zu stark regnete, sah ich mich nach einem Auto um, konnte aber keines entdecken. Ich wußte auch nicht, wo ich war – London ist so unheimlich groß. Aber nach den Geräuschen des Verkehrs zu schließen, mußte ich mich in der Nähe einer großen Straße befinden. Die Straße, in der ich stand, machte einen verlassenen Eindruck. An einer Seite öffnete sich eine große, schwarze Durchfahrt, die düster wie ein Gewölbe aussah. Aber in dem Regen war mir schließlich jede Zuflucht willkommen, und ich trat in den Schutz des Vordaches, um hier zu warten, bis ein leeres Auto vorbeikam.

Auf der anderen Seite der Straße stand ein Mann mit einer Kiste voll Orangen, und neben ihm saß ein Junge mit gerösteten Kastanien. Hinter ihnen erhob sich ein großes, düsteres Gebäude, das ich für ein Hospital oder etwas Aehnliches hielt. Die Fenster waren lang und schmal, und mehrere hatten bunte Glasscheiben. An der Tür war kein Messingschild oder sonst ein Zeichen zu sehen, welcher Bestimmung das Haus dienen mochte. Da ich nichts zu tun hatte, stellte ich Vermutungen darüber an. Die saubere, kleine Marmortreppe, die zu dem Hause hinaufführte, und die blank geputzte Messingklinke interessierten mich. Das Gebäude schien gar nicht zu der anderen Umgebung hier zu passen. Ich wünschte, daß jemand die Treppe hinaufgehen und klingeln möchte, damit ich einmal ins Innere schauen könnte, Aber niemand ging zu der Tür, obwohl jetzt ab und zu Menschen vorbeikamen.

Der Regen ließ etwas nach, und ich hätte es riskieren können, jetzt zur Hauptstraße zu gehen. Aber dieses merkwürdige Haus hatte mich so sehr gefesselt, daß ich in der unbestimmten Erwartung stehen blieb, es möchte etwas geschehen. Eine halbe Stunde verstrich, aber meine Neugierde blieb unbefriedigt. Der Himmel hellte sich auf, und die dichten Wolken teilten sich an manchen Stellen. Seltsamerweise war all meine Ungeduld verschwunden. Das düster aussehende Gebäude hatte mich so fasziniert, daß ich nicht gehen wollte, bis ich etwas Näheres darüber wußte.

Als sich nichts ereignete, ging ich schließlich über die Straße und sprach den Mann an, der die Orangen verkaufte.

»Wissen Sie, was das hier für ein Haus ist?« fragte ich ihn.

Er nahm seine schmutzige Pfeife aus dem Mund und spuckte auf das Pflaster.

»Nein«, sagte er dann mürrisch.

Ich wandte mich an den Jungen.

»Weißt du etwas über das Haus?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, sicheres weiß ich auch nicht. Aber ich glaube, es ist ein katholisches Haus. Es gehen viele Männer in langen Kutten und flachen Hüten ein und aus. – Sieh mal, Bill, da kommt sie schon wieder, Sie läßt nicht nach!«

Der Mann sah auf und brummte. Ich folgte den Blicken des Knaben und sah eine große, dunkle Frau, die auf der anderen Seite der Straße schnell entlangkam. Von Anfang an kam mir ihre Gestalt bekannt vor, und ich beobachtete sie interessiert.

Vor der geschlossenen Haustür blieb sie stehen und zögerte einen Augenblick, als ob sie nicht recht wüßte, was sie tun sollte. Während sie noch unentschieden dastand, sah sie sich einmal um, und ich erkannte sie. Sie konnte mich nicht sehen, da ich in den Schatten getreten war.

»Die Alte kommt so regelmäßig wie eine Uhr«, meinte der Mann. »Ich möchte nur wissen, was sie will!«

Ich zitterte und hätte in diesem Augenblick nicht über die Straße gehen können, selbst wenn mein Leben davon abgehangen hätte. Der Junge schaute mich neugierig an.

»Es scheint so, daß Sie sie kennen«, bemerkte er. »Seit den letzten zwei Wochen kommt sie jeden Tag um diese Zeit hierher.«

Ja, ich kannte sie. Ich konnte nur schwer atmen und sah zu der großen, schlanken Gestalt in schwarzen Kleidern hinüber, die mit gesenktem Haupt auf den Stufen wartete. Die Aehnlichkeit war zu groß. Es konnte unmöglich eine andere sein. Sie war also in England. Und ganz allein, auf freiem Fuße – was hatte das zu bedeuten? Sollte ich hinübereilen oder mich verbergen? Ich hätte mich wegschleichen können, ohne daß sie mich gesehen hätte. Ich dachte plötzlich an längstvergangene Zeiten, als ich noch jung war, und Sonne und Wind mein Gesicht bräunten. Damals hörte ich das Donnern der Wogen an den Ufern und den Schrei der Seevögel. Ich war in Cruta und sehnte mich nach der Freiheit. Eines Abends stahl ich mich in der Dämmerung auf einem engen Klippenpfad zum Ufer hinunter, wo das kleine Boot auf dem Wasser lag und wartete. Diese Frau dort half mir damals. Sie nahm es auf sich, dem Zorn des alten Mannes zu begegnen, den wir beide so sehr fürchteten. Wieder war es mir, als ob ich ihre lieben, sanften Worte hörte, mit denen sie mich tröstete. Wieder dachte ich an all die Lügen, die ich ihr absichtlich und mit kalter Ueberlegung gesagt hatte, um von dieser Felseininsel zu entkommen, wo ich lebendig begraben war. Ich belog sie, und sie half mir. Kein Wunder, daß ich jetzt zitterte und fliehen wollte.

Es ist so schwer, die Gedanken niederzuschreiben, die mir im Augenblick durch den Kopf jagten. Aber als ich mich schließlich zu einem Entschluß durchgerungen hatte, stand die Frau noch dort und wartete bescheiden vor der Tür.

»Du hast eben etwas von der Frau erzählt«, sagte ich zu dem Jungen, der sich in halb sitzender Stellung gegen die Wand des Hauses lehnte. »Was meintest du denn?«

Der Mann und der Knabe berichteten nun zusammen. Ich verstand ihren Londoner Dialekt schlecht und konnte nur ungefähr erraten, was sie mir sagen wollten. Die Frau war alle Tage hierhergekommen, hatte an der Türe gefragt und war jedesmal niedergeschlagen und mit gesenktem Kopf wieder fortgegangen, nachdem ihre Frage kurz beantwortet war. Und sie war immer wieder gekommen, um dieselbe Enttäuschung zu erleben. Sie schien niedergedrückt, ja verzweifelt zu sein. Mehr wußten die beiden auch nicht. Ihre regelmäßigen Besuche hier hatten ihre Neugierde erweckt, und sie hatten sich angewöhnt, nach der Frau auszuschauen. Die Stimme des Jungen klang mitleidig, und ich gab ihm einen Schilling. Dann trat ich kurz entschlossen auf die Frau zu.

In dem Augenblick öffnete sich aber die Haustür, und ich hörte ihre Frage.

»Hat Pater Adrian seine Adresse geschrieben, oder ist er gekommen?«

Der Mann, der die Tür nur ein wenig öffnete, hielt sich im Hintergrund, und ich konnte nichts von ihm sehen. Ich hörte nur seine tiefe, abweisende Stimme.

»Nein, Pater Adrian ist weder gekommen, noch hat er geschrieben.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie mit schwacher Stimme und wandte sich ab. Ich stand ihr nun gegenüber. Sie sah arm und abgemagert aus, und ihre Kleider waren dürftig.

Zuerst erkannte sie mich nicht, aber als ich dann meinen Namen nannte, war sie aufs äußerste überrascht.

»Adrea, Adrea!« rief sie erregt.

In dem Augenblick fuhr ein Mietauto vorbei, und ich rief es an. Als ich ihr in den Wagen half, stützte sie sich schwer auf mich. Aber als wir kaum angefahren waren, verließen sie ihre Kräfte und sie wurde ohnmächtig.

 


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