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Ich eilte mit den schnellsten Zügen und Dampfern durch England und über den Kontinent nach Süden. Graf Hirsfeld begleitete mich auf dem Expreßzug, den ich beorderte. In London trennten wir uns und legten den Rest der Reise allein zurück. Am Abend des zweiten Tages kam der Dampfer, den ich in Palermo gechartert hatte, in der Bucht von Cruta an. Ein kleines Ruderboot brachte mich an die Küste, bevor die Dunkelheit vollends hereinbrach. Ich ging den engen, gewundenen Pfad in die Höhe, überquerte den gepflasterten Innenhof und läutete die schrille Glocke am Haupteingang. Ein Diener mit einer Fackel öffnete das Tor und winkte mir, ihm zu folgen.
»Wie geht es der Gräfin Irene?« fragte ich ängstlich und leise. »Ist sie noch am Leben?«
»Ja, sie lebt«, wiederholte er düster.
Ich folgte ihm durch lange Korridore und über endlose Treppen. Schließlich blieb er vor einer Tür stehen, und nachdem er einen Augenblick gelauscht hatte, klopfte er leise.
Ein Mönch öffnete, dessen Gesicht durch die Kapuze verdeckt war. Er gab mir ein Zeichen, daß ich eintreten sollte, und schloß die Tür sofort hinter mir. Ich stand in einem geräumigen, spärlich erleuchteten Schlafzimmer, dessen Wände vollkommen kahl waren. Vor dem mit Vorhängen geschlossenen Bett standen zwei bleiche, feierlich dreinschauende Mönche, die mir wie düstere, drohende Schatten aus einer anderen Welt erschienen. An der Wand, die dem Bette gegenüberlag, sah ich ein großes, hölzernes Kreuz. Davor brannten zwei Kerzen.
Während ich mitten im Zimmer stand und zögerte, war der Priester, der mich hereingelassen hatte, an mir vorbeigegangen, und hatte sich am Fußende des Bettes aufgestellt. Er winkte mir, näher zu treten, und plötzlich wurde die Stille des Raumes durch monotone Gebete unterbrochen. Ich senkte den Kopf, kniete neben dem Bette nieder und antwortete auf die Gebete des Priesters. Einen Augenblick ergriff ich die weiße, kalte Hand, die auf dem Bettuch lag. Das war alles, was ich von der Frau sehen konnte, die ich zu meinem Weibe machen wollte.
Die ganze Trauungszeremonie ging vorbei wie ein Traum. Als alles vorüber war, legte ich die Hand an den Vorhang, um ihn zurückzuziehen. Aber der Mönch, der mir am nächsten stand, hielt mich mit eisernem Griff zurück, und bevor ich mich bewegen konnte, hörte ich eine Stimme hinter mir, die aus dem dunkelsten Teil des Raumes kam.
»Wenn Sie den Vorhang lüften und das Gesicht meiner Tochter sehen wollen, Martin de Vaux, dann schieße ich Sie nieder. Nur um ihrer Seligkeit willen habe ich dies gestattet. Nun gehen Sie!«
Ich versuchte, mit meinen Blicken die Dunkelheit zu durchdringen und erkannte die hohe Gestalt des Grafen, der nahe der Tür stand. Einen Augenblick zögerte ich.
»Irene ist meine Frau«, antwortete ich. »Ich entschuldige mich nicht für das, was ich früher getan habe. Aber schließlich habe ich doch mein Unrecht wieder gutgemacht und versucht, Ihre Verzeihung zu gewinnen.«
Er trat einen Schritt vor und seine Stimme zitterte vor Leidenschaft.
»Sie haben kein Recht, hier zu bleiben. Sie sind ein ehrloser Schuft! Sie dürfen doch nicht mit mir unter meinem eigenen Dache rechten. Gehen Sie fort, ich könnte sonst mein Wort vergessen und Sie strafen, wie Sie es verdient haben!«
Wut und Scham packten mich, aber ich blieb.
»Sie ist es, gegen die ich gesündigt habe, und ihrem Worte will ich folgen. Irene, darf ich nicht bei dir bleiben? Sage mir, daß du mir verziehen hast!«
Ich riß leidenschaftlich an dem Vorhang, denn ich wollte Irene um Verzeihung bitten. Aber der Vorhang wurde von innen zusammengehalten und einer der Mönche, die an dem Bett Wache hielten, entwand mir den Stoff.
»Fort mit ihm!« rief der Graf wütend. »Rudolf, hören Sie nicht?«
Ich wollte mit ihnen kämpfen, aber in dem Augenblick kam eine weiße, abgemagerte Hand hinter dem Vorhang hervor und hielt die meine einen Augenblick.
›Martin, geh schnell‹, hörte ich Irenes leise, schwache Stimme, die so verändert klang, daß ich sie kaum wieder erkannte. ›Auch ich wünsche es, ja, ich befehle es.‹
›Nur ein Wort, Irene‹, rief ich und wollte mich krampfhaft aus dem Griff der Leute befreien, die mich hielten. ›Nur noch ein Wort!‹
›Lebe wohl!‹
›Irene, du bist jetzt mein angetrautes Weib, hast du mir weiter nichts zu sagen?‹
›Lebe wohl!‹
»Dieses eine Wort klang nicht sanft. Es schien kein Bedauern und keine Liebe darin zu liegen. Ich senkte verzweifelt den Kopf und ging fort.«
Es entstand eine Pause. Pater Adrian lehnte sich mit halb geschlossenen Augen in seinen Sessel zurück. Auch ihn hatte die Erzählung aufs tiefste bewegt. Paul stand ihm wie versteinert gegenüber.
»Ich will jetzt fortfahren«, sagte Pater Adrian nach einem langen Schweigen. »Ich blieb noch mehrere Tage auf der Insel«, erzählte Ihr Vater weiter, »und wohnte in dem Kloster. Ich konnte mich nicht von dort trennen. Jeder Versuch, in das Schloß einzudringen, wurde vereitelt. Beim Sonnenaufgang des vierten Tages wurde ich plötzlich durch die tiefen Töne der Schloßglocke geweckt. Ich kleidete mich hastig an und eilte hinauf. Aber ich wurde vor dem Tore abgewiesen und konnte nicht ins Innere kommen. Aber auf jeden Fall gelang es mir, von einem der Diener zu erfahren, was vorging. Irene war gestorben. Am nächsten Tage sah ich, wie sich der kleine Leichenzug vom Schloß aus zum Kloster bewegte, und schloß mich an. Der alte Graf stand, gebückt von Alter und Gram, an der Seite des Grabes. Er wollte mich fortstoßen, aber der Priester, der dicht neben mir stand, erhob seine Hand und verbot ihm, mich zu berühren. Wir standen auf geweihtem Boden, und obwohl der Graf von Cruta und Graf Hirsfeld außer sich vor Wut waren, blieb ich doch dort. Und während ich an dem Grabe meines Weibes kniete, betete ich zum erstenmal wie seit den Tagen meiner Kindheit.
Als die Feier vorüber war, entfernten sich die Mönche in langer, feierlicher Prozession. Der alte Graf, Hirsfeld und ich blieben allein zurück. Ich sprach freundlich und unterwürfig zu ihm und bat ihn, mir zu verzeihen, aber er wandte sich zornig von mir ab. Er wollte nicht hören, was ich zu ihm sagte, für ihn war ich nur der Mörder seiner Tochter.
An dem Abend verließ ich die Insel und kehrte nach England zurück. Einige Jahre zog ich mich von aller Geselligkeit und allem Verkehr zurück, widmete mich ganz der Verwaltung meiner Güter und verreiste nur selten. Die Erinnerung an Irene verfolgte mich. Aber ich war jung, und obwohl ich die Vergangenheit bitter bereute, verlor sie doch allmählich ihre Wirkung. Was einmal geschehen war, konnte ich weder durch Reue noch durch Tränen ungeschehen machen. Ich ging wieder unter Menschen, besuchte meine Freunde und nahm mein altes Leben wieder auf. Ich hatte gedacht, daß ich für immer zerbrochen sei, aber das Leben ging weiter, und ich heiratete auch. So schwand die Erinnerung an Irene und das Leben, das ich mit ihr geführt hatte. Ich liebte meine Frau heißer und inniger, als ich Irene jemals geliebt hatte, und eine Zeitlang war ich vollkommen glücklich. Als mir ein Sohn geboren wurde, gab ich ein großes Fest auf Schloß Vaux Abbey, denn damit war mein sehnlichster Wunsch erfüllt worden. Aber es zogen sich düstere Wolken über meinem Haupte zusammen. Das große Fest war zwei Wochen vorüber, und ich kam gerade mit einigen Freunden von der Jagd nach Hause, als mir gemeldet wurde, daß mich ein fremder Herr sprechen wollte.
Wie ich erwartet hatte, war es Graf Hirsfeld, der mich in der Bibliothek erwartete. Er war ruhig und lächelte höhnisch, aber ich verlor die Fassung nicht.
»Graf Hirsfeld«, sagte ich strenge, »wenn ich hier gewesen wäre, hätten Sie das Haus nicht betreten.«
»Ich komme als Abgesandter Ihrer Frau«, erwiderte er langsam.
»Von meiner Frau?« wiederholte ich. »Sie kennen sie doch gar nicht? Was wollen Sie denn damit sagen?«
Er zuckte die Schultern.
»Es tut mir leid, daß Sie meine Worte nicht verstehen. Ich wiederhole noch einmal, daß ich als Abgesandter Ihrer Frau, Irene de Vaux, komme. Ich bringe Ihnen eine Botschaft von ihr.«
»Eine Botschaft von einer Verstorbenen?« rief ich atemlos.
»Sie ist nicht tot«, entgegnete er mit einem grausamen, hämischen Lächeln. »Irene lebt! Ist es möglich, daß Sie das nicht wußten?«