Edward Phillips Oppenheim
Das Geheimnis von Cruta
Edward Phillips Oppenheim

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23.
Die Erzählung

Die Dunkelheit war früh hereingebrochen. Schwarzgraue Wolken jagten am Himmel dahin und verdunkelten den Mond. Die Abendbrise war zum Sturm geworden. Es regnete noch nicht, aber das Unwetter konnte jeden Augenblick losbrechen. Die Wolken hingen niedrig und schienen fast die Wipfel der Bäume zu berühren.

Paul de Vaux zog den Mantel dicht um sich. Er stand auf dem moosbewachsenen Boden der Kapelle und starrte in die Dunkelheit. Er wartete auf Pater Adrian. Noch ehe er die dunkle Gestalt des Priesters erkennen konnte, vernahm er dessen Stimme.

»Sie sind also zur rechten Zeit gekommen, Paul de Vaux. Das ist gut!«

»Wenn es lange dauern sollte, was Sie mir zu sagen haben, dann kommen Sie doch zu mir ins Haus. Hier ist es dunkel und kalt, und es ist ein Unwetter im Anzug.«

Der Priester schüttelte den Kopf.

»Ich brauche den Schutz Ihres Daches nicht«, erwiderte er kalt. »Sie sind gut gegen das Wetter geschützt, und ich auch. Wir wollen hier bleiben!«

Paul versuchte, in dem Gesicht des Mannes zu lesen, aber die Finsternis hinderte ihn daran. Er sah nur die Umrißlinien der dunklen Gestalt.

»Ganz wie Sie wollen. Also sprechen Sie.«

»Es waren keine leeren Drohungen von mir«, entgegnete der Pater ernst. »Ich habe Ihnen eine Chance gegeben, aber Sie haben sie nicht benützt. Vielleicht war es unrecht von mir, daß ich Ihnen dieses Angebot überhaupt machte. Aber erinnern Sie sich, es ist keine eitle Rache, die ich jetzt an Ihnen übe. Was ich tue, tue ich im Namen der heiligen Kirche, die beleidigt und beraubt wurde. Es ist nur Gerechtigkeit, wenn ihre alten Rechte wieder hergestellt werden. In ihrem Namen spreche ich!«

Paul fühlte, daß der Priester mit einer schweren inneren Erregung kämpfte. Als Pater Adrian wieder sprach, klang seine Stimme gedämpft und feierlich.

»Paul de Vaux, denken Sie an jene Nacht zurück, in der der Zorn Gottes die Erde heimsuchte? Damals lag Ihr Vater sterbenskrank auf der kleinen Insel im Kloster von Cruta, und während Sie Ihr Leben aufs Spiel setzten, um ihn noch lebend zu erreichen, kniete ich an seiner Seite und betete für das Heil seiner Seele, daß sie nicht in die Verdammnis der Hölle hinabgleiten sollte. Er war ein mutiger, tapferer Mann, aber als ihm die eisigen Krallen des Todes ans Herz griffen, befiel ihn doch die Furcht. Es war nicht die Furcht eines schwachen Mannes. Er lag still und ruhig, aber er fühlte sich verlassen und allein. Während meiner Gebete legte er plötzlich die Hand auf meinen Arm und nahm das Kruzifix in seine eigenen Hände.

›Pater Adrian‹, sagte er, ›ich glaube nicht daran, daß Reue auf dem Totenbett einem Sterbenden hilft und seine letzten Stunden erleichtert. Ich habe mein ganzes Leben lang die Religion gehaßt und ich will auch in dieser Stunde nicht schwach werden. Ich will nicht um Erbarmen winseln und einen Gott anrufen, den ich doch stets nur für ein Märchen gehalten habe. Aber ich will mit Ihnen sprechen als Mann zu Mann. Hören Sie das Geheimnis, das ich Ihnen jetzt anvertrauen will, und wenn ich Ihnen alles gesagt habe, mögen Sie für mich beten.‹

Soll ich Ihnen alles erzählen, Paul de Vaux? Wollen Sie wissen, was Ihr Vater mir damals anvertraute?«

»Ja, sagen Sie mir jedes Wort! Halten Sie nichts zurück«, sagte Paul schnell und fieberhaft erregt.

»Nun gut«, fuhr Pater Adrian so leise fort, daß sich Paul vorneigen mußte, um die Worte zu verstehen. »Wenn Martin de Vaux ein Mitglied unserer Kirche gewesen wäre und mir als Priester gebeichtet hätte, dann wäre mein Mund für ewig versiegelt gewesen. Aber trotz all meiner Gebete starb er, wie er gelebt hatte, in Ketzerei und in Sünde. Auch Sie hätte ich verschont, wenn Sie nicht selbst durch Ihre Handlungsweise dieses Unglück heraufbeschworen hätten.«

Paul unterbrach ihn durch eine Handbewegung.

»Ich weiß, daß die letzten Stunden meines Vaters nicht glücklich waren. Er hat mir nichts gesagt, und ich habe ihn auch nicht darum gefragt. Aber wenn die Schatten seiner Taten ein menschliches Dasein verdunkeln, so sagen Sie es mir, damit ich es wieder gutmachen kann. Aber wenn die Ereignisse abgeschlossen sind, und wenn die, die durch ihn gelitten haben, nicht mehr leben, dann wollen wir nicht mehr darüber sprechen. Rächen Sie sich an mir, wenn Sie wollen, aber lassen Sie die Erinnerung an den Toten unangetastet!«

Die Erinnerung an den Mord in der kahlen Klosterzelle hatte Paul ständig als ein böser Traum verfolgt. Aber allmählich hatte er sich daran gewöhnt, diese letzte, grausame Tat seines Vaters als eine Handlung zu betrachten, die in geistiger Umnachtung vollführt worden war. Er hatte sich den Mann, der das Opfer dieses Verbrechens wurde, als ein Abbild moralischer Verkommenheit vorgestellt, den die gerechte Strafe ereilt hatte.

Ein kurzes Schweigen folgte, und bevor Pater Adrian wieder sprach, trieb der Sturm die schweren Wolken von der See über das Land. Der Wind heulte in den Kronen der Bäume und fing sich in den vielen Ecken und Winkeln der Ruinen, die keinen Schutz gegen den Regen boten. Eine Fortsetzung der Unterredung war unmöglich. Paul sprach jetzt laut, um das Brausen des Sturmes zu übertönen.

»Es ist hier nicht sicher. Wir müssen doch ins Haus gehen. Kommen Sie mit.«

Pater Adrian zögerte noch einen Augenblick, dann gab er es zu und zog den Mantel fester um die Schultern. Kurze Zeit später befanden sie sich in der Bibliothek. Paul hatte den Pater durch einen Nebeneingang dorthin gebracht. Schwer atmend nahm er den vom Regen durchnäßten Mantel ab und legte ihn über einen Stuhl, dann wandte er sich an seinen Begleiter.

»Also jetzt können Sie sprechen. Ich bin bereit, alles zu hören.«

Das Kaminfeuer beleuchtete die bleichen Züge des Priesters.

»Sünde, die nicht vergeben wird, dauert ewig«, sagte er langsam. »Die Sünden Ihres Vaters sind nicht vergeben, und ihre Last fällt auf Sie.

Es war ein Zufall, daß ich zwei Monate im Kloster St. Jerome in Cruta zubrachte. Ihr Vater kam damals gerade hin und bat uns um Aufnahme. Zwei Tage wohnte er bei uns und brachte seine Zeit damit zu, Spaziergänge in den Klippen und an der Küste zu machen. Aber ich sah an dem Ausdruck seines Gesichtes, daß er eine bestimmte Absicht hatte. Ich kümmerte mich zunächst nicht um ihn, aber zufällig erfuhr ich von einem der Klosterbrüder, daß er auf der Insel kein Fremder war. Vor einigen Jahren war er Gast des Grafen gewesen, dem dieses kleine Land gehörte, und dessen Schloß das Kloster überragte.

Am dritten Tage seines Aufenthaltes blieb er bis Sonnenuntergang auf seinem Zimmer und schrieb. Als die Vesperglocke läutete, traf ich ihn draußen auf dem Gang. Er hatte sich zum Ausgehen angekleidet und sein Gesicht sah entschlossen und düster aus. Ohne ein Wort ging er an mir vorüber, als ob er mich nicht gesehen hätte, und verließ das Kloster.

Ein paar Minuten später stand ich am Fenster und beobachtete die Klosterbrüder, die von ihrer Feldarbeit zurückkamen. Dabei sah ich auch Ihren Vater, der den Weg zum Schloß einschlug.

Im Laufe der Nacht kehrte er zurück. Mitternacht war schon vorüber, und alle Leute im Kloster schliefen fest, als die Glocke am Eingangstor so leise läutete, als ob der Einlaßbegehrende keine Kraft mehr habe. Ich legte meinen Mantel an und ging hinunter, um ihm zu öffnen. Als ich den letzten großen Riegel zurückzog und die Tür aufmachte, lehnte Ihr Vater an der Mauer. Seine Finger waren verkrampft, seine Züge verzerrt, und ich sah, daß er große Schmerzen litt. Der Mond beschien sein geisterhaft bleiches Gesicht. Er blutete, und die dunkelroten Tropfen fielen auf die weißen Marmorstufen. Er mußte schwer verwundet sein, und ich starrte ihn erschrocken an.«

»Mein Gott!« rief Paul, dessen Blick gebannt an dem Priester hing. Zuerst glaubte er, eine fremde Geschichte zu hören, aber jetzt packte ihn eine fieberhafte Unruhe. »Fahren Sie nur fort«, sagte er ungeduldig und heiser.

»Ich hatte keine Zeit, Fragen zu stellen. Er hatte sich an der Mauer festgehalten und versuchte nun, auf mich zuzugehen. Aber dann stieß er einen Schmerzensruf aus und fiel nieder. Ich konnte ihn gerade noch auffangen, aber es bedurfte meiner ganzen Kraft, denn er war ein großer kräftiger Mann. Ich schleppte ihn die Stufen hinauf, den Gang entlang und in die nächste leere Zelle. Dort legte ich ihn auf ein Lager aus Farnkräutern und eilte dann fort, um einen der Brüder zu rufen, der medizinische Kenntnisse besaß und auch unter der Bevölkerung als Arzt wirkte. Er untersuchte die Wunde und stellte fest, daß Ihr Vater einen Dolchstich dicht unter die Herzgrube erhalten hatte. Wir verbanden ihn, so gut wir konnten, und mit Hilfe der anderen Mönche trugen wir ihn in das beste Zimmer und brachten ihn zu Bett. Nach einer halben Stunde kam er wieder zur Besinnung und rief mich an seine Seite.

›Bleistift und Papier‹, sagte er leise.

Ich reichte ihm beides, und nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihm, einige Worte zu schreiben. Dann faltete er das Papier zusammen und überreichte es mir.

›Schicken Sie es sofort ab, ich will dem Kloster hundert Pfund dafür geben.‹

Ich zögerte nicht, denn unsere Mittel waren nur gering. Das Schreiben war adressiert an:

Paul de Vaux, Esq.,
durch den englischen Konsul in Palermo.

Sie wissen, daß das Schreiben Sie erreichte. Ich schickte dann alle anderen aus dem Zimmer und fragte ihn, wie er zu dieser Verwundung gekommen sei. Aber er schüttelte den Kopf.

›Es war ein Unglücksfall‹, sagte er mit schwacher Stimme ›Niemand ist dran schuld.‹

Ich erwiderte ihm, daß das unmöglich sei. Die Wunde konnte ihm nur von jemand beigebracht sein, der ihn überfallen hatte. In gewisser Weise waren wir die Vertreter von Recht und Ordnung auf der Insel, und ich sagte ihm das auch. Aber er schüttelte wieder den Kopf und schloß die Augen. Es gelang mir nicht, eine Erklärung von ihm zu bekommen, was er in der Nacht gemacht hatte.«

»Sie sahen doch, daß er nach dem Schlosse ging«, unterbrach ihn Paul. »Haben Sie denn dort keine Nachforschungen angestellt?«

»Nein, das tat ich nicht. Das war nicht meine Sache. Das Schloß ist zwar sehr groß, aber ziemlich verfallen. Nur ein paar einheimische Diener waren dort, die ich hätte fragen können, aber sie sprachen einen mir unverständlichen Dialekt. Ich hätte mich nur an den Grafen selbst und an eine andere Person wenden können. Mehrere Abende nach dem Unfall Ihres Vaters verließ ich das Kloster und versuchte, den alten Grafen zu sehen. Er ließ sich aber nicht von mir sprechen. Als ich zurückkehrte, schickte Ihr Vater nach mir, der den Grund meiner Abwesenheit erraten hatte. Er sah an meinem Gesichtsausdruck sofort, daß ich keinen Erfolg gehabt hatte, und schien dadurch erleichtert zu sein. Er winkte mich zu sich und machte mir ein Angebot. Er wollte mir eine große Summe als Geschenk für unsere Klosterkasse vermachen, wenn ich keine weiteren Nachforschungen anstellen wollte, wie er verwundet worden war. Ich sollte das aber Ihnen gegenüber nicht erwähnen, wenn Sie ankommen würden. Einige Zeit zögerte ich, aber dann nahm ich sein Angebot an, denn das Geld war eine zu große Versuchung. Ich bin Ihnen gegenüber ganz offen. Außerdem hatte Ihr Vater damals starkes Wundfieber und in dieser kritischen Zeit wollte ich ihn nicht dadurch aufregen, daß ich seine Wünsche nicht erfüllte. So versprach ich es ihm und ich hielt mein Wort auch. Niemand, selbst Sie nicht, erfuhren, daß er infolge des Dolchstiches starb. Während meines Aufenthaltes auf der Insel forschte ich auch nicht weiter nach, was bei seinem Besuche auf dem Schlosse vorgefallen war.«

»Aber haben Sie denn sonst nichts gehört? Keine Gerüchte?«

Pater Adrian zögerte.

»Nein, es wurde nicht über Ihren Vater gesprochen. Aber unter der Bevölkerung war das Schloß immer ein Gegenstand des Gespräches. Die Bewohner der Insel sind sehr abergläubisch und erzählten sich die merkwürdigsten Dinge von schrecklichen Schreien, die mitten in der Nacht auf dem Schlosse ertönten, und von Lichtern, die während der Nacht in unbewohnten Teilen des Schlosses brannten. Grauenhaftes wurde von dem Grafen erzählt, obgleich man ihn seit vielen Jahren nicht außerhalb des Schlosses gesehen hatte. Die Leute munkelten, daß er sich selbst dem Teufel verschrieben hätte. Wenn nur sein Name erwähnt wurde, so beugten sich die Leute vor Schrecken und sahen furchtsam über die Schulter.«

»Ach, das ist nur leeres Gerede«, rief Paul ärgerlich. »Haben Sie den alten Grafen von Cruta selbst gekannt?«

Einen Augenblick schwieg Pater Adrian und wandte das Gesicht ab.

»Ja, ich kannte ihn«, sagte er dann.

»Wie war er denn? Erzählen Sie mir doch von ihm!«

Der Priester schüttelte den Kopf.

»Ich habe Ihnen nichts zu erzählen«, sagte er leise.

»Soll das heißen, daß Sie mir nichts erzählen wollen?«

Der Priester nickte nur stumm.

»Aber er war doch der Mörder meines Vaters!« rief Paul leidenschaftlich.

»Das mag sein. Aber denken Sie daran, daß nichts bekannt wurde und daß es der letzte Wunsch Ihres sterbenden Vaters war, die Sache geheimzuhalten!«

Paul schien ihn kaum gehört zu haben. Er ging ruhelos in dem Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er vor dem Pater stehen.

»Sie haben mir erzählt, was meinem Vater damals auf der Insel begegnete. Aber nun erzählen Sie mir die Geschichte seines Lebens, die er Ihnen anvertraut hat. Ich muß wissen, warum er dorthin ging!«

 


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