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Heute abend werde ich mein Tagebuch für lange Zeit schließen, vielleicht für immer. Ich bin sehr dankbar dafür. Diese letzten Tage sind so furchtbar gewesen. Ich fühlte mich so elend und unsicher. Früher brachte es mir manchmal Erleichterung, wenn ich meine Freude und meinen Kummer meinem Tagebuch anvertrauen konnte. Aber was mir nun zu tun übrig bleibt und was vor mir liegt, will ich nicht diesen Seiten anvertrauen.
Vierundzwanzig Stunden sind vergangen, seitdem ich meine letzten Eintragungen machte. Es war damals Nacht und auch jetzt ist es wieder Nacht geworden. Alles was dazwischen liegt, ist phantastisch und unwirklich. Ich frage mich selbst, ob es tatsächlich geschehen ist. Aber ich brauche nur meine Augen zu schließen und mich in meinen Sessel zurückzulehnen, so sehe ich alles wieder lebendig vor mir. Dieser Tag wird ein Markstein meines Lebens sein.
Früh am Morgen machte ich mich auf den Weg nach dem Schlosse und ging quer über die Heide. Ein klarer, blauer Himmel wölbte sich über mir. Kleine weiße Wolken zogen ihre Bahn, und die Sonne schien hell. Die graue, hungrige See, die ich nur immer mit Schaudern betrachten konnte, hatte die Farbe des Himmels angenommen und spiegelte in tausend glitzernden Wellen das Licht der Sonne wieder. Auch die Heide war verwandelt. Ihre kahlen, mit Felsen überdeckten Hügelzüge hatten alle Härte verloren und strahlten im Sonnenglanz.
Ich wunderte mich, daß die Natur so großen Eindruck auf mich machte, obwohl ich so traurig war. Das Brausen des Sturms war die Resonanz meiner Stimmung gewesen, aber da die ganze Welt nun freudig lachte, fühlte ich meine Trauer um so mehr. Die Straße lag einsam und verlassen da, und ich traf niemanden. Einmal schien ein dunkler Strauch am Wege die Gestalt eines Mannes anzunehmen, und ich blieb plötzlich stehen. Konnte es Pater Adrian sein? Ich fühlte, wie mein Atem schneller ging und zitterte vor leidenschaftlicher Erregung. Aber es war nicht Furcht, die mich befiel. Plötzlich bückte ich mich zur Erde, nahm einen schweren Stein auf, packte ihn fest und schlich mich dann leise vorwärts, Aber schließlich war es doch nur ein Gebüsch und kein Mensch. Unwillig warf ich meine Waffe zu Boden und lachte hysterisch auf. Die Erregung verebbte.
Ich war nicht mehr an lange Wanderungen gewöhnt, aber Furcht und Hoffnung trieben mich vorwärts, und in weniger als drei Stunden stand ich vor dem Haupttor des Schlosses de Vaux.
Die Glocke, die ich läutete, klang merkwürdig hohl. Gleich darauf öffnete sich das große Tor, und ein grauhaariger Diener in schwarzer Livree sah mich erstaunt an.
»Ich möchte Mister Paul de Vaux sprechen«, sagte ich. »Ist er zu Hause?«
»Ich glaube, aber er ist sehr beschäftigt und hat Auftrag gegeben, daß ihn niemand stören darf. Seine Mutter, Lady de Vaux, ist zu Hause.«
»Nein, ich wünsche die alte Dame nicht zu sprechen, ich habe mit Paul de Vaux zu tun. Wollen Sie ihm bitte sagen, daß ich ihn sehen möchte. Sicher wird er mich empfangen.«
Der Mann antwortete nichts, sondern gab mir nur ein Zeichen, ihm zu folgen. Mein Mut verließ mich, als ich durch die große Halle ging, und ich wagte kaum, mich umzusehen. Sie war so hoch und so schön und reich geschmückt, daß ich fast glaubte, ich befände mich in einer Kirche. Auf dem weißen Marmorfußboden lagen orientalische Teppiche. Plötzlich sah ich eine ältere Dame, die die breite Treppe herunterstieg. Sie kam uns gerade entgegen. Mein Führer blieb stehen, als er sie sah, und ich war gezwungen, seinem Beispiel zu folgen.
»Hier ist die Mylady«, sagte er.
Sie kam langsam auf uns zu. Sie war noch eine schöne, stattliche Frau und ging aufrecht, obwohl sie sich auf einen Ebenholzstock stützen mußte. Ich dachte an Pater Adrians Worte: »Ich kann das Herz seiner Mutter brechen.« In dem gedämpften Lichte neigte ich mich etwas vor und betrachtete sie. Als sie sich bis auf einige Schritte genähert hatte, sprach sie den Diener an.
»Wünschte diese junge Dame mich zu sprechen, Richards?«
Sie erwartete wohl, daß ich sie anredete, aber ich konnte im Augenblick nicht sprechen. Da sie so ruhig aussah, glaubte ich nicht, daß während der letzten vierundzwanzig Stunden das Gefürchtete eingetroffen war. Pater Adrians schreckliche Worte waren nur eine leere Drohung gewesen. In Gegenwart dieser Frau schwand alle Furcht, die sich meiner bemächtigt hatte. Wie hätte auch ein kleiner Priester diese Dame aus der Fassung bringen können?
Meine Gedanken jagten wild durcheinander. Schließlich antwortete der Diener für mich.
»Die junge Dame wünschte Mister Paul zu sprechen. Ich wußte aber nicht, ob ich ihn stören dürfte.«
»Sie wollen meinen Sohn sprechen?« Sie sah mich prüfend an und hob die Augenbrauen. »Er ist tatsächlich beschäftigt und möchte in den nächsten Stunden nicht gestört werden. Wenn Sie ihm etwas zu sagen haben, können Sie es auch mir sagen.«
»Ich danke Ihnen, aber dann muß ich solange warten, bis er Zeit hat.«
Sie warf ihren Kopf ein wenig in den Nacken.
»Führen Sie diese junge Dame in das Wartezimmer, Richards, und melden Sie Mr. Paul, wenn er klingelt. Darf ich um Ihren Namen bitten?« wandte sie sich dann an mich.
»Sie kennen ihn doch nicht, ich komme von dem Hause des Majors Harcourt.«
Sie sprach nicht, aber ihre Wangen röteten sich und ihre Finger zitterten. Es war nicht richtig von mir, daß ich es ihr gesagt hatte. Sie mußte schon von mir gehört haben, denn sie sah mich mit einem Blick an, der zu bedeuten schien, daß ich nicht einmal ihrer Verachtung wert sei.
»Sie sind also Adrea Kiros, die Tänzerin! Sie können meinem Sohne doch nichts sagen«, erklärte sie. »Es ist nicht recht von Ihnen, daß Sie ihm bis hierher gefolgt sind, bis zu seinem eigenen Hause. Bitte, gehen Sie sofort! Mr. de Vaux soll später davon benachrichtigt werden, dann kann er ja andere Mittel und Wege finden, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Sie brauchen sich ja nicht gerade hier unter diesem Dache zu treffen. – Richards, geleiten Sie die Dame hinaus!«
Sie zeigte mit ihrem Ebenholzstock zu der Türe. Ich stand still und kämpfte meine Erregung nieder.
»Ich bleibe hier«, entgegnete ich fest. »Ich bin gekommen, um Mr. de Vaux zu sprechen, und ich werde ihn sehen. Wagen Sie es nicht, mich anzurühren«, sagte ich gereizt zu Richards, als er seine Hand auf meine Schulter legte.
Er schrak sofort zurück und entschuldigte sich sogar. Die beiden schienen eingesehen zu haben, daß es nicht so leicht war, mit mir umzugehen. Lady de Vaux änderte auch plötzlich ihre Taktik.
»Folgen Sie mir«, sagte sie und machte eine gebieterische Handbewegung. »Sie sollen meinen Sohn sehen und aus seinem eigenen Mund hören, was er darüber denkt, daß Sie hier ins Schloß gekommen sind. Vielleicht werden Sie auf seine Bitte hin das Schloß verlassen, wenn Sie auf die meine nicht hören.«
Ich folgte ihr schweigend und hochaufgerichtet. Aber mein Herz schlug wild. Was würde er von mir denken? Würde er empört sein?
Auf jeden Fall würde er sich nicht sehr freuen, denn selbst wenn er mich liebenswürdig empfing, mußte er den Aerger seiner Mutter über sich ergehen lassen. Aber hätte ich anders handeln können? Ich mußte ihn sehen.
Wir hielten alle drei vor einer geschlossenen Türe. Auf das scharfe Klopfen des Dieners wurde nicht geantwortet; Lady de Vaux drückte nach kurzem Zögern die Türklinke nieder und ging in den Raum. Ich war dicht hinter ihr.
Als wir eintraten, konnten wir zuerst kaum etwas sehen, denn es war in dem Zimmer verhältnismäßig dunkel. Die schweren Sammetvorhänge vor den hohen Fenstern waren halb zugezogen, und es brannte nur eine Leselampe. Zuerst schien es mir so, als ob das große Zimmer leer wäre. Erst als wir näherkamen, entdeckte ich Paul. Seine Mutter war ebenso ergriffen wie ich. Er saß vor dem Schreibtisch, der mit Papieren bedeckt war, und hatte den Kopf auf beide Arme gelegt. Er sprach und bewegte sich nicht, als ob er nicht bemerkt hätte, daß wir in das Zimmer getreten waren. Das Fenster ihm gegenüber stand weit offen, und das Sonnenlicht strömte herein und spielte auf seinen Haaren,
»Er schläft«, sagte Lady de Vaux, »Paul!«
Ich erhob meine Hand, daß sie ihn nicht wecken sollte.
»Lassen Sie ihn doch«, flüsterte ich leise. »Ich will gerne fortgehen. Sehen Sie nicht, daß er Ruhe nötig hat?«
Sie achtete aber nicht auf mich, sondern neigte sich vor, als ob sie seinen Arm berühren wollte. Eine furchtbare Erregung kam über mich. Ich wußte, daß Paul nie wieder so sein würde wie früher, wenn er aus diesem wohltätigen Schlaf erwachte. Pater Adrian hatte sein Wort gehalten und den Schlag gegen ihn geführt. Ich sah verzweifelt auf die gebeugte Gestalt des geliebten Mannes nieder. Ich hatte dieses Leid über ihn gebracht!
»Paul, wach auf! Ich bin hier, deine Mutter!«
Ich ergriff sie an der Hand und zog sie fort.
»Lassen Sie ihn doch ruhen!« rief ich erregt. »Er wird bald von selbst aufwachen!«
Sie sah mich erstaunt an.
»Wie dürfen Sie es wagen, mir Vorschriften zu machen? Warum soll er nicht geweckt werden? Die Essenszeit ist schon vorbei – Paul!«
Nun hatte er sie gehört und bewegte sich. Ich hielt den Atem an. Am liebsten wäre ich fortgeeilt, aber nun war ich gezwungen, dazubleiben, Langsam hob er den Kopf und sah uns ruhig an.
Ich verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte. Lady de Vaux schwieg vor Schrecken, als sie seine unaussprechlich traurigen Züge sah, in die schwere seelische Leiden ihre Spuren eingegraben hatten. Schwarze Schatten lagen unter seinen Augen.
Lady de Vaux sprach zuerst. Ihr eisiger Hochmut hatte sie verlassen, und ihre Stimme klang ängstlich und besorgt.
»Aber, Paul, was hast du denn hier die ganze Nacht gemacht? Weißt du, wie spät es ist? Ist etwas geschehen? Bist du krank?«
»Krank? Nein, ich glaube nicht.« Seine Stimme schien von weither zu kommen. Er erhob sich, aber ich fürchtete, er würde taumeln und niederstürzen.
»Hast du geschrieben?« fragte seine Mutter ängstlich. Aber dann drang sie nicht weiter in ihn. »Es ist schon gut, ich sehe, daß du sehr müde bist – komm, ich werde dich auf dein Zimmer begleiten.«
Sie hatte mich ganz vergessen, bis sie sah, daß er sich um ihre Worte nicht kümmerte. Er sah an ihr vorbei, und sein Blick ruhte auf mir. Sie wandte sich plötzlich um.
»Es wäre besser, wenn Sie jetzt gingen«, sagte sie leise, aber gebieterisch. »Lassen Sie sich von dem Diener in mein Zimmer führen und warten Sie dort auf mich.«
Ich achtete nicht auf sie. Meine Blicke hingen an Paul.
»Adrea«, sagte er langsam, »wie kamst du hierher? Kamst du mit ihm? Aber nein, das ist nicht möglich. Wie kommt es, daß du bei mir bist?«
»Ich fürchtete Pater Adrian und seine Drohungen. Ich war ganz allein und konnte es nicht länger ertragen. Deshalb bin ich gekommen.«
Seine Züge belebten sich, und er erholte sich allmählich wieder. Die Starrheit wich aus seinen Zügen.
»Ich freue mich, daß du hier bist, denn ich muß mit dir sprechen. Ich hatte etwas Wichtiges zu tun und habe die ganze Nacht geschrieben. Dabei muß ich eingeschlafen sein. Ich will gehen und mich umkleiden, dann komme ich zu dir zurück.«
Er ging zur Türe. Lady de Vaux zögerte einen Augenblick. Ihre Stirn lag in Falten. Sie legte die Hand auf seinen Arm.
»Aber du hättest mir doch alles sagen sollen, Paul! Wer ist denn diese junge Dame?«
»Sie ist meine Freundin«, erklärte Paul ruhig und vernehmlich.
»Ich hörte, wie du sie Adrea nanntest. Ist sie nicht Adrea Kiros?«
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich so heiße, Lady de Vaux«, entgegnete ich prompt.
Die alte Dame drehte uns sofort den Rücken und verließ das Zimmer.