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Paul und Artur teilten eine Junggesellenwohnung in Mayfair. Teilen ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck, denn Paul hatte das Haus gekauft und war der alleinige Besitzer. Artur wohnte dort, so oft er Urlaub nach London erhielt, und dort traf Paul seinen Bruder am Morgen seiner Ankunft in London.
Die beiden Brüder reichten sich schweigend die Hand. Paul hatte nicht den Wunsch, im Augenblick zu sprechen, denn das Aussehen seines Bruders beunruhigte ihn. Es war ein Uhr mittags, aber Artur trug noch seinen Pyjama. Er hatte eingesunkene, blasse Wangen mit rot abgezirkelten Flecken, und schwache, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Ein Stoß blauer Papiere und einige amtliche Kuverte lagen auf dem Tisch.
»Ich wünschte nur, du würdest einem mitteilen, wann du nach London kommst«, sagte Artur, etwas benommen durch die Überraschung, und machte den Versuch zu lächeln. »Ich habe dich doch erst heute abends erwartet. Deshalb habe ich gefrühstückt, bevor ich mich angekleidet habe. Ich war gestern abends spät auf.«
Paul wollte so unbefangen wie möglich erscheinen und lehnte sich an den Kamin. Die Rolle, die er jetzt zu spielen hatte, lag ihm durchaus nicht. Aber er mußte seinen jüngeren Bruder ermahnen und ihn auf den rechten Weg bringen. Die Umstände zwangen ihn dazu.
»Ich mußte heute schon in aller Herrgottsfrühe aufstehen«, begann er, »um den Anschluß in Normanton zu erreichen. Mit dem späteren Zug hat man zwei Stunden Aufenthalt. Ich hatte allerdings nicht die Absicht, schon wieder zurückzukommen«, sagte er nach einer kleinen Pause. »Aber ich bin in den Klubvorstand gewählt worden und habe noch keine einzige Sitzung mitgemacht. Außerdem versprach ich Westover, ihn diesmal bei der Halbjahrssitzung zu unterstützen, die morgen stattfindet. Hast du eine Verabredung? Wenn nicht, wollen wir zusammen zu Abend essen und nachher noch etwas unternehmen.«
»Es tut mir schrecklich leid, aber mein Urlaub ist heute abends zu Ende«, entgegnete Artur bedrückt. »Ich muß mit dem Vieruhrzug nach Aldershot. Und dann habe ich eine Woche schweren Dienst vor mir.«
Paul nickte.
»Das tut mir leid. Ich wollte dich eigentlich auf einige Tage nach Vaux Abbey mitnehmen. Die Westovers haben einige nette Leute auf ihr Schloß eingeladen und wollen lustige Gesellschaften veranstalten. Auch Theaterspiel war vorgesehen. May sagte, daß ich dich unter allen Umständen mitbringen sollte. Könntest du nicht in einer Woche kommen?«
»Ich fürchte, daß es nicht geht«, entgegnete Artur, während eine leichte Röte in seine Wangen stieg. »Ich habe schon einige Verabredungen für nächste Woche.«
»Die Mutter wird sehr enttäuscht sein«, sagte Paul ruhig. »Sie rechnet bestimmt darauf, dich zu sehen. Es ist schon ziemlich lange her, daß du zu Hause warst. An deiner Stelle würde ich doch versuchen, die Sache möglich zu machen!«
»Wenn es irgendwie möglich ist, komme ich. Ich schreibe dir noch von Aldershot aus.«
»Du siehst gerade nicht sehr gut aus«, meinte Paul freundlich. »Fehlt dir etwas?«
»Nein, es geht mir ganz gut. Ich habe nur etwas Kopfschmerzen, das ist alles.«
»Hast du wieder viele Wechsel laufen?« Paul zeigte auf ein längliches, blaues Formular, das auf dem Tisch lag.
Artur wurde rot und legte ein Buch darüber. [Zeile fehlt im Buch. Re. für Gutenberg]
woher muß ich das Geld doch nehmen – ja, ich weiß schon, was du sagen willst. Das Geld, das ich von der Familie bekomme, müßte genügen. aber manchmal kann ich wirklich nicht damit auskommen!«
»Ich muß dich aber doch fragen, ob das ein Wechsel ist, den du ausstellen willst?«
Artur nickte.
»Ja, es sind einige Rechnungen eingelaufen, die ich bezahlen muß. Ich will mir das Gold von Plimsoll gegen Wechsel beschaffen. Er ist ein verschwiegener Mann. Alle meine Kameraden gehen zu ihm!«
»Gib mir den Wechsel, ich werde ihn für dich diskontieren.«
Er streckte die Hand aus, und Artur reichte ihm das Papier.
»Danke.«
Paul nahm den Wechsel, sah nur flüchtig auf die Höhe der Summe, und warf ihn dann ins Feuer.
»Ich habe mein Scheckbuch nicht bei mir, aber wir werden auf dem Wege zum Klub bei der Bank vorsprechen. Dann kann ich das Geld für dich abheben. Ich bin froh, daß ich diese Wechselgeschichte noch einmal früh genug entdeckt habe!«
»Es ist wirklich sehr lieb von dir«, erwiderte Artur zögernd. »Ich hätte nicht gewagt, mich noch einmal an dich zu wenden. Ich schulde dir bereits eine große Summe.«
»Darüber wollen wir jetzt im Augenblick nicht sprechen. Ich will die ganze Summe ohne weiteres streichen, auch diesen letzten Betrag, wenn du nächste Woche nach Hause kommst. Vorausgesetzt, daß es dir gelingt, einen Urlaub zu erwirken.«
Artur erhob sich, lehnte sich an den Kamin und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Ich kann von London nicht fort, Paul, höchstens auf einen Tag«, sagte er leise. »Ich wollte, ich könnte dir den Grund sagen, aber du würdest ihn nicht verstehen.«
»Ich glaube, ich weiß es«, entgegnete Paul ruhig. »Es gibt hier jemand, von dem du dich nicht trennen kannst. Stimmt das?«
Artur sah schnell auf. Sein Gesicht war jetzt blaß, und seine Lippen zitterten.
»Woher weißt du das? Wieviel weißt du?«
»Ich weiß nichts Bestimmtes. Erzähle mir alles, vielleicht kann ich dir helfen. Es handelt sich doch um eine Dame?«
»Ja. Es ist Adrea Kiros, die Tänzerin.« Artur versuchte, ruhig zu sprechen, aber aus seiner Stimme klang unterdrückte Leidenschaft. »Sicher hast du schon davon erfahren. Ich weiß alles, was du sagen willst, aber das ändert nichts an den Tatsachen. Sie hat keinen guten Charakter. Das weiß ich. Sie liebt mich nicht! Auch davon bin ich überzeugt. Sie ist so grausam, wie nur eine Frau sein kann. Manchmal schaudert es mich, wenn ich daran denke, daß ich wieder zu ihr zurückgehen soll. Und doch kann ich ihr nicht fernbleiben. Du glaubst, daß ich von Sinnen bin, und du hast vielleicht damit recht. Ich kann dir aber nur sagen, wie es ist. Ändern kann ich es nicht. Ich stehe vollkommen unter ihrem Bann wie alle die anderen jungen Leute, die sie kennen und gesehen haben.«
Paul legte die Hand auf die Schulter seines Bruders und sah ihn freundlich an.
»Artur, das tut mir furchtbar leid. Ich verstehe dich. Adrea Kiros kenne ich nicht genügend, aber ich weiß, daß sie eine sehr gefährliche Frau ist. Kann ich dir nicht irgendwie helfen?«
»Mir kann niemand helfen«, rief Artur leidenschaftlich.
Er hatte sich auf einen guten Rat, auf eine Strafpredigt, vielleicht auch auf einige berechtigte Bemerkungen gefaßt gemacht, und die rücksichtsvolle Haltung seines Bruders machte ihn unsicher.
»Diese furchtbare Ungewißheit quält mich. Manchmal ist sie so gut und liebenswürdig, so ernst und sanft, daß ich sie anbeten und verehren muß. Und dann wird sie plötzlich ohne die geringste Ursache kalt, hart und grausam, bis ich ganz verzweifelt bin und nicht weiß, warum ich mir das alles gefallen lasse. Niemals bin ich vollkommen glücklich und zufrieden, selbst wenn sie gut zu mir ist, denn ich weiß nie, wie lange das dauern wird. Wenn ich mich von ihr verabschiede, denke ich mit Sorgen an den nächsten Tag.«
»Dann wäre es am besten, wenn du einmal von ihr fortgingst!«
Artur schüttelte den Kopf.
»Ich habe es versucht, es hat keinen Zweck. Wenn ich mich losreiße, fühle ich mich nur namenlos unglücklich und fahre mit dem nächsten Zug wieder hierher zurück. Ach, wenn ich dir die Sache nur verständlich machen könnte; Adrea ist für mich so notwendig wie die Luft, die ich atme. Das Leben ist schal, und der Tag dehnt sich endlos, bis ich sie wiedergesehen habe. Für mich ist sie das Maß und die Erfüllung aller Dinge, sie kann aus mir machen, was sie will. Ein Blick oder ein Wort von ihr kann mir Höllenqualen oder den Himmel auf Erden bereiten. Wie sie diese Macht über mich bekommen hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß es so ist!«
Paul schwieg. Vielleicht erkannte er, daß es im Augenblick besser war, nichts zu sagen. Worte waren hier vollkommen nutzlos. Einige Minuten ging er im Zimmer auf und ab, und als er dann wieder sprach, erwähnte er die Angelegenheit nicht mehr.
»Also zieh dich an und komme mit mir zum Mittagessen«, sagte er freundlich. »Ich bin jetzt zu hungrig, um dich trösten zu können. Und dann müssen wir zur Bank gehen.«
Artur nickte und verschwand.
Paul setzte sich in einen Stuhl und während er in die Flammen des Kaminfeuers starrte, verdüsterten sich seine Züge. Wollte sich Adrea Kiros an dem Sohn des Mannes räche, der ihren Vater ermordet hatte? Wenn das in ihrer Absicht lag, so hatte sie ihr Ziel erreicht. Wie konnte er Artur retten? Und was sollte erst werden, wenn seine Mutter davon erfuhr? Auf jeden Fall nahm er sich vor, Adrea aufzusuchen, bevor er London verließ. Er hatte sich schon überlegt, was er tun wollte, wenn Artur nicht auf ihn hörte und keine Vernunft annahm.
Die ganze Welt schien schöner und strahlender zu sein, als die beiden sich auf den Weg machten. Die Kleidung hat großen Einfluß auf die Stimmung eines Menschen, und als Artur jetzt tadellos gekleidet, mit einer Gardenie im Knopfloch, an der Seite seines Bruders ging, machte er einen ganz anderen Eindruck als der zusammengesunkene, verzweifelte Mann in dem Schlafanzug, der vor einer Stunde düster grübelnd am Tisch gesessen hatte. Paul freute sich über diesen Wechsel, aber Arturs fieberhafte Erregung entging ihm nicht. Eine ungesunde Unruhe und Lebhaftigkeit war über ihn gekommen, und auch die Schatten unter seinen Augen waren nicht ganz verschwunden.
»Paul, willst du mir einen großen Gefallen tun?« fragte er, als sie zusammen Piccadilly entlanggingen.
»Wenn es möglich ist. Was ist es denn?«
»Ich glaube nicht, daß du es tun wirst. Adrea möchte, daß du sie besuchst, und ich versprach ihr, daß ich alles tun würde, um dich heute nachmittag zum Tee mitzubringen.«
»Nun, wenn du es wünschest, begleite ich dich«, entgegnete Paul nicht gerade sehr begeistert, denn er wollte seinen Bruder nicht merken lassen, daß er auch die Absicht hatte, Adrea aufzusuchen. »Hat sie dir schon gesagt, daß wir miteinander bekannt sind?«
»Ja, du bist doch damals nach der Gesellschaft bei Lady Swindon mit ihr nach Hause gefahren. Sie hat mir alles erzählt.«
Paul nickte. Vielleicht war es doch das Beste, seinem Bruder alles zu erzählen, wenn er Adrea gesprochen hatte. Aber im Augenblick wollte er noch nicht. Sie bogen in Pall Mall ein, und gleich darauf zog Artur den Hut und trat an die Bordschwelle. Ein kleiner Wagen hielt an der Straße und Paul stand plötzlich Adrea gegenüber.
Arturs Augen leuchteten, und seine Wangen waren vor Freude gerötet.
Sie trug einen weichen, braunen Pelz, der ihre Gestalt ganz bedeckte. Nach der ersten Begrüßung nahm sie von Artur überhaupt keine Notiz mehr und wandte sich nur noch an Paul.
»Sie sind also nach London gekommen, Mister de Vaux? Haben Sie nun doch erkannt, daß der Aufenthalt auf dem Lande in diesen nebligen Novembertagen etwas eintönig ist, oder sind Sie nur wegen dringender Geschäfte hier?«
»Ja, ich bin geschäftlich hier. Ich freue mich, daß der Nebel und die feuchte Luft des Novembers Sie nicht angegriffen haben. Sie sehen vorzüglich aus.«
»Danke, es geht mir sehr gut. – Wie lange bleiben Sie hier?«
»Nur ein paar Tage.«
»Nun, es ist zu kalt, daß wir uns länger hier unterhalten könnten. Würden Sie heute nachmittag zu mir zum Tee kommen?«
Paul sah ihr voll ins Gesicht. »Sie sind sehr liebenswürdig. Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihrer Einladung nachzukommen.«
Sie nickte.
»Also gegen fünf. Sie kommen doch auch, Artur?« fügte sie gleichgültig hinzu.
»So spät kann ich nicht mehr kommen«, entgegnete er verzweifelt.
»Ach so, Sie müssen ja nach Aldershot. Überanstrengen Sie sich dort nur nicht.«
Ihr Wagen fuhr davon. Artur sah ihr nach, bis sie im Verkehr verschwand.
»Sie hätte uns auch etwas früher einladen können«, sagte er düster. »Sie wußte ganz gut, daß ich so spät nicht mehr kommen kann.«
Paul nahm den Arm seines Bruders. Es war ihm klar, daß Adrea absichtlich eine so späte Stunde gewählt hatte.
Die Beiden speisten zusammen, und Paul tat alles, um seinen Bruder aufzuheitern. Als sie sich später trennten, bat er Artur noch einmal, auf einige Tage nach Hause zu kommen.
»Überlege dir die Sache in allem Ernst. Die Mutter möchte dich unter allen Umständen sehen. Sie hat solche Sehnsucht nach dir. Und wir können dir sicher den Aufenthalt dort recht angenehm machen. Ich werde mit deinem Oberst sprechen, wenn ich ihn morgen hier in der Stadt sehe.«
Artur versprach halb und halb, zu kommen, aber er tat es nicht gerne.
»Es ist ja sehr liebenswürdig von euch, daß ihr mich sehen wollt. Ich will mein Möglichstes versuchen. Vielleicht kann ich mich für ein paar Tage freimachen.«
Der Zug fuhr ab, und Paul ging langsam zu seinem Wagen zurück.
»Wohin?« fragte der Chauffeur.
Nach einem kurzen Zögern nannte Paul Adreas Adresse.