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20. Kapitel.

Es wollte Oberst Andrews sobald nicht gelingen, die Ruhe wiederherzustellen; erst als die bewußtlose Frau in ein anderes Zimmer getragen worden war, ließ die Aufregung nach. Die an allen Gliedern zitternde Nelly brach in ihrem Stuhl zusammen, unfähig, nach dem ausgestandenen Schrecken ein Wort zu sprechen; Frau Arnold, noch totenblaß von der erlittenen Aufregung, klammerte sich an Frau Warren und bat unter Tränen, nach Hause gebracht zu werden. Der Vorsitzende schrie endlich mit purpurrotem Gesicht: »Dieses ungehörige Benehmen muß aufhören. Major Lane, rufen Sie die Wache und lassen Sie das Zimmer räumen!« Nun trat augenblicklich Stille ein, und Warren wandte sich an den Gerichtshof.

»Ich bitte um Entschuldigung, einen solchen Auftritt herbeigeführt zu haben; ich kehrte mit der Absicht zurück, einen Aufschub der Verhandlung zu erbitten, so daß ich Beweise gegen Frau Bennett sammeln könnte, doch als ich Herrn Hauptmann Foster gegen die Vertagung sprechen hörte, nahm ich die Gelegenheit wahr, der Schuldigen ein Bekenntnis zu entreißen durch eine so genaue Schilderung des Mordes, daß sie glauben mußte, einen Augenzeugen dabei gehabt zu haben. In Sicherheit gewiegt, da sie glaubte, eine andere würde an ihrer Stelle verurteilt werden, überwältigte sie der Schreck über meine unerwarteten Worte derart, daß sie sich verriet.«

»Haben Sie keine weiteren Beweise?« fragte Foster scharf.

»Meine erste Zeugin ist die Krankenschwester, Fräulein Mary Phelps,« war Warrens ausweichende Antwort, und diese wurde nun hereingeführt. Sie erzählte, wie sie die Spritze aufgefunden und weshalb sie sie Doktor Ward übergeben habe. Nach ihr nahm dieser den Zeugensitz ein und berichtete in kurzen Worten, wie er das Gift entdeckt habe; er holte die Spritze hervor und reichte sie Foster. Nachdem er das Zimmer verlassen, wurde Doktor John Boyds Name aufgerufen, und der berühmte Chirurg humpelte herein – sein Eintritt wurde von den Zuschauern mit unterdrücktem Beifall begleitet, so daß wiederum des Vorsitzenden Ruf nach Ruhe erklang. Nachdem er nach seiner Vereidigung die erste Frage Fosters befriedigend beantwortet hatte, begann Warren seine Vernehmung:

»Kennen Sie, Herr Doktor, das Kuraregift?«

»Gewiß – ich brachte etwas davon mit, als ich das letztemal in Südamerika war – es ist fast unmöglich, es hierzulande zu erhalten.«

»Wieviele Personen wußten darum, daß Sie dieses Gift besaßen?«

Boyd dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß bestimmt außer mir nur zwei – mein früherer Assistent und Frau Bennett.« Befragt, auf welche Weise letztere Kenntnis davon erlangt hätte, berichtete er, sie sei eines Tages im November zu ihm in sein Sprechzimmer gekommen; er habe gerade einige Versuche gemacht, und die Flasche mit dem Gift hätte auf dem Tische gestanden. Nachdem sie ihr Rezept bekommen habe, um dessentwillen sie gekommen war, habe sie sich erkundigt, was die Flasche enthielte. Er erklärte ihr nun, daß die Indianer in Südamerika Kurare auf ihren Pfeilspitzen zum Jagen gebrauchten, da die damit getöteten Tiere ohne Schaden genossen werden könnten; daß man es ferner in nicht zu großen Dosen ruhig verschlucken dürfe und es nur dann sofort tödlich wirke, wenn man es unter die Haut einführe, so daß es sich mit dem Blute vermische, daß es aber keine Spur der Vergiftung zurückließe. »Sie fragte mich noch, wie man eine Lösung davon erhielte, und ich beschrieb es ihr ausführlich.« Als sie sich dann erhob, um zu gehen, habe er die Flasche wieder auf das Bord in dem kleinen Medizinschrank gestellt, der dicht bei seinem Tische hing.

»Ist der Schrank verschlossen?«

»Nein, meine alte Haushälterin, die mein Studierzimmer in Ordnung bringt, würde nicht daran denken, meine Sachen zu durchstöbern.«

»Kannten Sie den Hauptmann Lloyd?«

»Ich traf ihn das erstemal in der New York Avenue an einem Januarmorgen, aber denselben Abend sah ich ihn wieder.« Der Arzt hielt inne.

»Geben Sie uns hiervon einen genauen Bericht,« wies ihn Warren an.

»Es war auf einem Abendessen bei Herrn Senator Warren. Wir unterhielten uns lebhaft, als die Klingel ertönte und ein Diener meldete, daß ein Herr den Major Goddard zu sprechen wünsche; der Senator bat den Hauptmann Lloyd – dieses war der Ankömmling – in den Salon zu kommen, aber dieser erwiderte, daß er lieber in dem Vorraum auf seinen Freund warten wolle. Plötzlich wurde ich durch ein unterdrücktes Stöhnen erschreckt – und wandte mich um – Frau Bennett lag zusammengekauert auf dem Sofa mit leichenblassem Gesicht und schreckensstarren Augen; ich folgte ihrem Blick – er war auf den Hauptmann geheftet, der gerade voll beleuchtet im Vorraum stand.«

»Sah der Hauptmann denn Frau Bennett?«

»Nein – auch war er viel zu beschäftigt damit, den Major und Fräulein Newton zu betrachten, um sonst auf jemanden zu achten.«

»Was geschah dann?«

»Der Major trat hierauf zu Lloyd, und beide gingen zusammen fort; dann, noch ehe ich sie auffangen konnte, fiel Frau Bennett bewußtlos zu Boden. Wenn ich jemals tödliche Furcht in einem Menschenauge sah, so war es in dem ihren, als sie Hauptmann Lloyd erblickte. Natürlich war ich begierig, die Beziehungen zwischen der eleganten Modedame Frau Bennett und dem Geheimagenten der Regierung zu ergründen, besonders, da man mir gesagt hatte, sie sei eine Spionin; aber mein Beruf erforderte mein ganzes Interesse, und so vergaß ich den Vorfall, bis sie selbst mich daran erinnerte. Beim Empfang des Präsidenten am zweiten März sprach ich mit ihr über Major Goddard – da fragte sie mich, ob Lloyd mit ihm nach der Stadt zurückgekehrt sei, und ich verneinte dies.«

»Sahen Sie sie damals zum letzten Male?«

»Nein; am Nachmittag des sechsten März sah ich sie in Frau Lanes Haus gehen; meine Haushälterin erzählte mir dann, als ich kurz darauf mein Zimmer betrat, daß sie soeben von mir fortgegangen sei, nachdem sie einige Zeit in dem vorderen Zimmer auf mich gewartet habe.«

»Ist die Tür zwischen diesem Zimmer und Ihrem Sprechzimmer während Ihrer Abwesenheit verschlossen?«

»Nein, niemals.«

»So konnte also ein Patient Ihr Sprechzimmer betreten, ohne Ihre Haushälterin zu stören?«

»Jawohl.«

»Sah Frau Bennett Sie, als sie Frau Lanes Haus betrat?«

»Ich glaube nicht.«

»Halten Sie Ihre Sprechstunde nachmittags zu dieser Zeit ab?«

»Nein.«

»So wußte sie also, daß Sie wahrscheinlich nicht zu Hause sein würden?«

»Ja; sie erzählte meiner Haushälterin, sie habe einen bösen Anfall von Neuralgie gehabt und hätte gehofft, mich anzutreffen.«

»Wo waren Sie während des letzten Monats, Herr Doktor?«

»Ich verließ Washington denselben Nachmittag, um mich nach Richmond zu begeben.«

»Halt – wußte Frau Bennett, daß Sie beabsichtigten, die Stadt zu verlassen?«

»Ja, denn ich erzählte Frau Arnold in ihrer Gegenwart, daß ich jeden Augenblick abreisen könne und nicht genau wüßte, wann ich zurückkäme. Ich fuhr nach Richmond meines Bruders wegen und fand ihn sterbend im Hospital; bis zu seinem Ende weilte ich bei ihm und blieb dann auch später noch dort, da man meiner in der unglücklichen Stadt bedurfte; aber kurz vor der Räumung der Stadt durch die Truppen begab ich mich nach der Front, um in den Feldlazaretten zu helfen. Erst diesen Morgen bin ich nach Washington zurückgekehrt.«

»Wann hörten Sie zuerst von der Anklage gegen Fräulein Newton?«

»Als ich heute morgen mein Haus betrat, fand ich dort Doktor Ward vor, der sich nach meinem Verbleib erkundigte; er erzählte mir alle Einzelheiten über Fräulein Newtons Prozeß und erwähnte schließlich seinen Verdacht, daß Kuraregift gebraucht worden sei. Ich sprang auf und öffnete den Schrank – die Flasche war leer – bei näherem Suchen fand ich auch, daß eine meiner Morphiumspritzen und Nadeln, welche ich in der Schieblade meines Tisches aufbewahre, fehlte.«

»Hatte irgendjemand Zutritt zu Ihren Zimmern während Ihrer Abwesenheit?«

»Nein; ich verschloß beide Türen und verriegelte die Fenster jener Zimmer, bevor ich abreiste. Da ich wußte, daß ich längere Zeit abwesend sein würde, nahm ich auch die Schlüssel mit.«

»Was taten Sie, nachdem Sie das Verschwinden des Giftes bemerkt hatten?«

»Wir schickten nach dem Herrn Senator, und nachdem wir uns mit ihm beraten hatten, kamen wir überein, daß Frau Bennett den Hauptmann getötet haben müßte.«

Warren schloß hiermit sein Verhör, und Foster übernahm die weitere Vernehmung.

»Kennen Sie einen Beweggrund für das Verbrechen der Frau Bennett?«

»Furcht, tödliche Furcht.«

»Und wissen Sie, weshalb sie ihn fürchtete?«

»Nein, mein Herr.«

Hierauf wurde Boyd entlassen und zog sich zurück, nachdem er sich vor dem Gerichtshof und vor Nelly verbeugt hatte.

Warren beantragte nun die nochmalige Vernehmung Goddards, die der Vorsitzende anfangs nicht genehmigen wollte, da sich der Major in strenger Haft befände; doch als Warren mitteilte, daß er den Major mit Erlaubnis des Präsidenten am Morgen gesprochen habe und daß seine Aussage nötig sei, um diese Geheimnisse aufzuklären; daß er ferner einen Befehl des Staatssekretärs besäße, den Major aus der Haft zu lassen, da sandte Oberst Andrews eine Ordonnanz aus, um den Major holen zu lassen.

In Nellys Wangen war die Farbe zurückgekehrt, und aus ihren glänzenden Augen sprach erneuter Mut. Goddard erschien bald, denn seine Unterhaltung mit Warren hatte ihn hierauf vorbereitet. Auch er schien verändert; aufrecht und lächelnd betrat er das Zimmer und bewegte sich trotz seiner Blindheit mit raschen, bestimmten Schritten, als ihn die Ordonnanz zu dem Zeugensitz geleitete.

»Nennen Sie dem Gerichtshof Hauptmann Lloyds vollen Namen,« begann Warren.

»George Lloyd Irving.«

»Warum ließ er seinen Familiennamen fallen?«

»Weil er sich nach einer gewissen Tragödie in seinem Leben unter einem andern Namen verbergen wollte.«

»Berichten Sie, was Sie darüber wissen.«

»Nachdem ich die Kriegsschule verlassen hatte, wurde ich nach dem Westen kommandiert, und während langer Jahre sah und hörte ich nichts von meinem Freunde. Dann trafen wir uns wieder, aber er war völlig verändert und ähnelte in nichts mehr dem freundlichen, glücklichen Knaben früherer Jahre. Nach kurzer Zeit waren wir wieder vertraute Freunde, und eines Abends weihte er mich in seinen Kummer ein.

Drei Jahre vorher hatte er bei einem Besuche im Westen ein sehr hübsches junges Mädchen kennen gelernt, verliebte sich in sie und heiratete sie kurz darauf. Doch schon bald nach den Flitterwochen erkannten beide, welchen Irrtum sie begangen hatten; sie hatte Lloyd seiner gesellschaftlichen Stellung wegen geheiratet und fand nun heraus, daß er die Gesellschaft mied und nirgends hingehen mochte. Dann war er auch verhältnismäßig arm und konnte sie nicht mit dem Luxus umgeben, nach dem ihre oberflächliche Natur sich sehnte – so lebten sie zusammen wie Hund und Katze. Nach der Geburt eines Kindes gab es beständige Reibereien, denn Lloyd erklärte, daß sie der größeren Ausgaben wegen in einem kleineren Landhause wohnen müßten, welches er in der Nähe eines Dorfes in New Jersey besaß. Hier wurde es noch schlimmer, denn seine Frau haßte die Leute dort; sie langweilte sich unter ihnen, weil sie nur Verlangen nach glänzenden Bällen und Gesellschaften hatte. Da sie sich nicht die Mühe nahm, die Besuche der freundlichen Farmerfrauen zu erwidern, wurde sie von allen mit der Zeit gemieden. Lloyd, der nur an seinen Beruf und sein Kind, ein schwächliches, kleines Mädchen, dachte, achtete wenig auf die Launen seines Weibes.

Eines Tages beschloß sie, verzweifelt über die Eintönigkeit ihres Lebens, woran sie aber hauptsächlich selber die Schuld trug, ihren Gatten zu verlassen. Er war nach Philadelphia geschickt worden, um eine Strafsache zu untersuchen, und wurde erst am nächsten Nachmittag zurückerwartet; sie entließ ihr Mädchen, schloß mittags das Haus ab, nachdem sie einen Brief an Lloyd zurückgelassen hatte, und wanderte in die Stadt, um dort einen Zug zu besteigen. Unglücklicherweise wurde Lloyd durch ein Unwohlsein in Philadelphia zurückgehalten; als er heimkam, fand er sein Haus verschlossen, sein Weib war verschwunden und sein zartes Kind vor Hunger und Kälte gestorben. Sein Haus lag an einem wenig begangenen Wege, sein nächster Nachbar wohnte sechs englische Meilen entfernt – niemand hatte das verschlossene Haus bemerkt, niemand das Weinen des unglücklichen Kindes gehört.

Von diesem Augenblick an war Lloyd ein anderer Mensch – er begrub sein Kind, dann machte er sich an die Verfolgung der gewissenlosen Mutter. Ich glaube nicht,« fügte Goddard hastig hinzu, »daß sie jemals daran gedacht hat, Lloyd könnte verhindert werden, an jenem Nachmittag heimzukehren. Sie liebte freilich das Kind nicht sonderlich und dachte sicher, es würde für sie nur eine Last sein. Ohne Zweifel hatte sie damit gerechnet, daß Lloyd sich wohl kaum die Mühe geben würde, sie wieder aufzusuchen, falls sie allein ginge, daß er sie aber gewiß verfolgen würde, falls sie das Kind mitnähme.

Während mehrerer Monate versuchte Lloyd eine Spur von ihr zu entdecken; dann erfuhr er, daß sie mit einem Schiffe abgefahren sei, welches bald darauf scheiterte, und daß sie sich unter der Zahl derer befand, die als ertrunken aufgeführt waren. Nun war für ihn die Sache abgetan, da er von ihrem Tode überzeugt war; aber wie ich Lloyd kannte, würde er sie getötet haben, hätte er geahnt, daß sie wirklich noch am Leben war, denn er hatte sein Kind abgöttisch geliebt. In mancher Nacht habe ich ihn in herzzerreißendem Tone nach ihm rufen hören, wie ich Herrn Senator Warren bereits diesen Morgen erzählte.«

»Warum sprachen Sie hierüber nicht gestern bei Ihrer Vernehmung?« fragte Foster, als Goddard geendet hatte.

»Weil ich niemals den Tod Lloyds mit seinem unglücklichen Eheleben in Verbindung brachte; zudem glaubte ich ja auch, daß sein Weib tot sei.«

»Haben Sie jemals Hauptmann Lloyds Frau gesehen?«

»Nein – aber in dem Dorf, wo das Kind begraben wurde, werden Sie leicht Beweise für meine Angaben finden; ich zweifle nicht, daß dort noch Leute leben, die ihre Persönlichkeit feststellen können.«

»Also einen einwandfreien Beweis dafür, daß Frau Irving und Frau Bennett ein und dieselbe Person ist, haben Sie nicht?«

»Nein,« gab Goddard zu, »aber jeder einigermaßen intelligente Mensch –« seine hitzigen Worte wurden hier unterbrochen, da Frau Bennett, die wieder zu sich gekommen war, Foster zu sprechen wünschte.

Das Interesse der Zuhörer stieg aufs höchste, und sein Wiedereintritt in das Zimmer wurde von einem leisen Gemurmel unterdrückter Erregung begrüßt. Er legte ein Papier vor sich nieder und verkündete dann ernst: »Frau Bennett hat ein Bekenntnis ihrer Schuld abgelegt.«

Einen Augenblick lang herrschte vollkommene Stille, dann brach ein unwillkürlicher Beifallssturm von Nellys Freunden los, welchem Oberst Andrews aber sofort Einhalt gebot.

Foster fuhr nun fort:

»In ihrem unterschriebenen Bekenntnis bestätigt Frau Bennett, daß sie Frau Irving ist; sie bestach eine arme Frau auf jenem Schiffe, ihren Namen anzunehmen, um ihren Mann irrezuführen. Als sie von deren Tode hörte, hielt sie sich für sicher. Durch Färben ihres Haares und andere künstliche Mittel veränderte sie vollständig ihr Aeußeres. Ihr gefälliges Benehmen und ihre gute Erziehung verschafften ihr zusammen mit einer gefälschten Empfehlung eine Stellung als Gesellschafterin bei einer reichen Kranken. Dann hörte sie von dem Tode ihres Kindes, und es schien ihr, als sei eine der Ketten zerrissen, die sie mit der Vergangenheit verknüpften – es vergingen zwei Jahre, da lernte sie Oberst Bennett in Saratoga kennen, und drei Monate später waren sie verheiratet. Den Dezember und die erste Hälfte des Januar verlebte sie im Norden und kam erst am Tage vor dem Abendessen bei Senator Warren nach Washington zurück. Sie hatte eine Unterredung mit Stanton und willigte darin ein, für ihn auszukundschaften, welche Frauen der Gesellschaft den Feind im geheimen unterstützten; als sie Lloyd wiedersah und erkannte, war sie vor Schreck wie gelähmt – sie hatte nicht nur wissentlich Bigamie begangen, sondern ihre Entlarvung bedeutete auch ihren gesellschaftlichen Ruin. Und obgleich sie nur halb verantwortlich für den Tod des Kindes war, so kannte sie doch Lloyd gut genug, um zu wissen, daß er vor nichts zurückschrecken würde, um sich dafür zu rächen, was er als den Mord des Kindes ansah.

Von da an suchte sie nach einem Mittel, sich seiner zu entledigen – es wurde ihr leicht, ihn zu vermeiden, denn er war die meiste Zeit in Winchester. Plötzlich erinnerte sie sich des Kuraregiftes, welches keine Spuren hinterließ. Von Frau Arnold begleitet, besuchte sie Goddard und fand hierbei heraus, wie die Zimmer lagen und wie man sie erreichen konnte. Der Zufall kam ihr zu Hilfe, denn am sechsten März traf sie die Köchin von Frau Lane, die sie kannte, da sie zuerst mit ihrem Gatten in jener Pension gelebt hatte, als er nach Washington abkommandiert wurde. Die Köchin erzählte ihr, daß Hauptmann Lloyd zurückgekommen sei und sich in seinem Zimmer zum Schlafen niedergelegt hätte – er wolle durch nichts gestört werden; sie selbst sei todmüde, da sie außer ihrer anderen Arbeit auch noch immer das Oeffnen der Haustür besorgen müsse. Sofort schlug Frau Bennett ihr vor, diese doch nur eingeklinkt zu lassen, und sie beobachtete dann, daß die alte Frau ihre Anweisung befolgte. Nun war ihr Weg frei. Sie kannte das Haus und seine Gewohnheiten. Sah man sie, so hatte sie hinreichenden Grund für ihre Anwesenheit. So verschaffte sie sich das Gift und vollbrachte die Tat.

Die Brieftasche nahm sie mit, da sie dachte, diese könne Papiere enthalten, welche Beziehung auf sie hätten. Deshalb verbrannte sie sie samt dem Inhalt, ohne sie weiter zu untersuchen, denn so groß war ihre Hast, sich jeden Beweises ihrer Schuld zu entledigen. Auch wagte sie nicht, noch länger zu bleiben, um Lloyds andere Sachen zu durchsuchen, da sie in tödlicher Furcht war, überrascht zu werden. Dies ist alles, was sich auf die gegenwärtige Verhandlung bezieht,« endigte Foster, als er das Bekenntnis niederlegte.

Warren beantragte hierauf sofortige Entlassung seiner Klientin, da sie nunmehr vollständig gerechtfertigt sei.

Langsam begann nun der Vorsitzende:

»Die Angeklagte ist nicht schuldig befunden worden des vorsätzlichen Mordes, Herr Senator, aber sie ist noch nicht frei von der ersten Anklage der Spionage. Wir müssen also erst die Zeugenaussage des Soldaten Belden hören.«

Foster erhob sich. »Hier ist ein Telegramm, welches mir soeben übergeben wurde,« er überflog es und sagte dann: »Es meldet, daß der Soldat Belden in der Schlacht an der ›Seemanns Bucht‹ am sechsten April getötet wurde.«

Warren trat hierauf vor: »Ich stelle nunmehr vor diesem ehrenwerten Gerichtshof fest, daß die erste Anklage gegen meine Klientin hinfällig ist, da Aussagen nur vom Hörensagen nicht als gültige Beweismittel gelten; außerdem erklärte Symonds, daß die Handschrift der Depesche nicht die meiner Klientin war. Sie ist bereits von der zweiten Anklage gereinigt, die erste ist nicht bewiesen – deshalb fordere ich nochmals ihre sofortige Entlassung aus der Haft.«

In diesem Augenblick übergab eine Ordonnanz Foster ein Schriftstück, das dieser hastig durchlas; alsdann händigte er es dem Vorsitzenden und den übrigen Offizieren ein, nachdem er Warren mitgeteilt, daß neue und wichtige Beweise die erste Anklage betreffend vorlägen.

Obgleich Warren dagegen Einspruch erhob und anführte, daß die Vernehmung beendet sei, beschloß der Gerichtshof doch die Wiederaufnahme der Verhandlung, was erlaubt sei, wenn es sich als nötig herausstelle, weitere Zeugen zu vernehmen. Es wurde also zunächst Oberst Baker aufgerufen.

Beunruhigt und ärgerlich zugleich nahm Warren seinen Sitz wieder ein – sollte ihm im entscheidenden Augenblick noch der Sieg entrissen werden?

»Kennen Sie die Angeklagte?«

»Ja, ich habe sie als Spionin verhaftet.«

»Haben Sie Beweise hierfür?«

»Ja, dieses hier.« Er zog aus seiner Tasche ein beschmutztes Visitenkartentäschchen aus rotem Leder hervor.

Nellys Augen öffneten sich weit vor Schreck, und sie erbleichte sichtlich.

»Schon oft hatte ich bei Fräulein Newton Haussuchung abgehalten, doch immer ohne Erfolg; heute beschloß ich, mein Glück noch einmal zu versuchen; als ich in den Stall treten wollte, bemerkte ich einen rotbraunen Wachtelhund, der im Garten herumscharrte, und ich beobachtete ihn wohl zehn Minuten lang. Schließlich hatte er seinen Knochen gefunden und herausgegraben – und mit ihm eine Blechbüchse, die diese Ledertasche enthielt.«

Fast hätte Nelly laut aufgeschrien: so hatte Misery sie verraten – ihr Liebling, ihr stummer, ehrlicher Freund, nach dessen Gesellschaft sie sich seit vielen Tagen gesehnt hatte. Kaum konnte sie Bakers weiteren Bewegungen folgen, denn Tränen verdunkelten ihre Blicke. Er entnahm der Tasche ein abgenutztes Papier und überreichte es Foster, der es laut vorlas. Es war ein Erlaß aus dem Kriegsministerium der Konföderierten in Richmond vom Jahre 1862, der sie zur Geheimagentin der Konföderation ernannte und dem ihre genaue Personalbeschreibung folgte:

Alter – 20, Höhe – 5 Fuß 7½ Zoll, Stirn – hoch, Augen – hellbraun, Nase – ziemlich kurz und gerade, Mund – mittelgroß, Kinn – rund mit tiefem Grübchen, Haar – rotgold, Gesichtsfarbe – hell, Gesicht – oval.

Gezeichnet war es von dem Kriegsminister James A. Seddon.

Stillschweigend nahm der Vorsitzende das Papier entgegen und gab es den übrigen Offizieren zur Einsicht; dann fragte Foster den Senator, ob er noch etwas von dem Zeugen zu erfahren wünsche.

»Wer war zugegen, als Sie dies Papier fanden, Herr Oberst?«

»Der Generalprofoß und zwei seiner Leute; auf der Ledertasche befinden sich die Anfangsbuchstaben der Gefangenen.«

Warren erklärte, daß er dem nichts hinzuzufügen habe, und Baker wurde entlassen. Gefragt, ob er noch etwas vorbringen wolle, sagte der Senator langsam, während er nach Nellys abgewandtem Gesichte hinblickte:

»Jenes Schriftstück muß für sich allein betrachtet werden und ist meiner Ansicht nach kein vollgültiger Beweis für die gegenwärtige Anklage; sollte aber der Gerichtshof trotzdem zu einer Verurteilung kommen, so bitte ich, die Jugend und das Geschlecht der Gefangenen in Berücksichtigung zu ziehen.«

»Halt!« Nelly sprang auf und reckte ihre schlanke Gestalt zu voller Höhe empor. »Es ist mein Recht, für mich selbst auszusagen, und ich wünsche keine solchen Ausflüchte. Da mein Geschlecht mich verhinderte, mit den Waffen in der Hand für die Sache, die ich liebe, zu kämpfen, so war ich bestrebt, der Konföderation so zu helfen, wie ich es vermochte, nämlich mit der List des Weibes. Wie unsere Sache –« hier zitterte ihre Stimme – »so bin auch ich unterlegen. Meine Herren, ja – ich bin eine Spionin, das verächtlichste aller Wesen. Sie sind Soldaten – Sie kämpfen frei und offen und sterben ehrenvoll; ich kämpfe im Dunkeln und sterbe entehrt. Sie fochten aus Liebe zum Sternenbanner – auch ich focht aus Liebe zu meiner Fahne.«

Eine kurze Pause folgte, als Nellys klare, feste Stimme verklang, dann erhob sich der Vorsitzende:

»Die Sitzung ist geschlossen,« verkündete er feierlich; »das Ergebnis der Untersuchung wird der zuständigen Behörde zugestellt werden.«

Nelly schwankte leicht, als sie sich vor dem Gerichtshof verbeugte, doch nach kurzer Zeit erholte sie sich wieder und folgte dem Unteroffizier der Wache, ohne um sich zu blicken. Stillschweigend zerstreute sich die Menge – der Schatten des nahenden Unheils ertötete jede Neigung zu leichtem Geschwätz.

* * *

Unablässig wanderte Nelly in ihrer kleinen Gefängniszelle auf und ab, um ihren eigenen Gedanken zu entfliehen. Seit achtundvierzig Stunden hatte sie nichts von der Außenwelt vernommen; sie hatte kein Auge geschlossen, und am Freitag war sie erschöpft und angegriffen von dem langen Wachen. Unruhig fragte sie sich, wann wohl das Urteil vollstreckt werden würde, und sie hoffte – bald. Nervös strich sie sich das Haar aus der Stirn, und ihre Gedanken wanderten zu ihrer Tante und zu Goddard hin; gewiß durfte sie beide noch einmal sehen – denn sie würden sie doch wohl nicht allein dem Ende entgegengehen lassen.

Auch hatte sie Warren bisher noch nicht für all seine Güte gedankt, für all das, was er für sie getan hatte. Wenigstens war sie nicht als Mörderin gebrandmarkt – und doch hatte Goddard sie einer solchen Tat für fähig gehalten!

Brennend heiß tropften die Tränen aus ihren Augen, aber tapfer unterdrückte sie ihr Stöhnen – durfte sie doch ihre Selbstbeherrschung nicht verlieren. Sie war so in ihre trüben Gedanken versunken, daß sie gar nicht hörte, wie der Gefängniswärter die Tür öffnete und ein zögernder Schritt über die Schwelle trat.

»Nelly,« erklang eine bittende Stimme. Blitzschnell drehte sich das Mädchen um, und heiße Röte stieg in ihre blutlosen Wangen – ohne ein Wort trat sie vor und fühlte sich von Goddards starken Armen umschlungen.

»Weine nicht so, Liebling,« flüsterte er und strich mit liebender Hand über ihr Haar.

»Ich muß – es ist das erstemal, daß ich so weine; o Bob, Du weißt nicht, wie ich mich danach gesehnt habe, in Deinen starken Armen auszuruhen – zu wissen, daß Du mich trotz allem noch liebst ,...«

»Dich noch liebe!« die Stimme des Mannes klang rauh vor innerer Bewegung – »ich liebe Dich so sehr, daß ich fast verrückt darüber werde. Gott! warum bin ich hülflos – Du bist mir teurer als alles auf der Welt, und ich kann nichts für Dich tun.«

»Nennen Sie das nichts, wenn Sie sich erboten haben, an ihrer Statt zu sterben?« fragte eine ruhige Stimme, und Lincoln, der ungehört in die Zelle getreten war, schloß die Tür hinter sich.

Nellys Augen leuchteten hell auf. »Hat er das wirklich getan?« Sie vergaß in ihrer Erregung ganz den Präsidenten zu begrüßen.

»Ja,« nickte Lincoln und setzte sich auf den Bettrand, während er seinen Zylinder neben sich stellte.

»Und nicht wahr, Sie lassen mich gewähren, Herr Präsident?« bat Goddard inständig. »Ich bin blind – hilflos – mein Leben ist kein Verlust – während sie ,...« Nelly umschlang ihn voller Entsetzen. »Ich gebe Ihnen mein Wort – Nelly wird von jetzt ab treu zur Regierung halten.«

»Sie versprechen viel, scheint mir,« bemerkte Lincoln trocken.

»Also ich darf es tun?« fragte Goddard eifrig.

»An ihrer Stelle sterben? nein!«

»Und Sie haben recht,« erklärte Nelly, als Goddard sich über sie neigte, um seine bittere Enttäuschung zu verbergen. »Ich würde ein solches Opfer auch niemals annehmen.«

»Größere Liebe gibt es wohl nicht,« sagte Lincoln gerührt. »Nelly, Sie haben treue Freunde; heute mittag war Dr. Boyd bei mir. Er erzählte mir, daß Ihr Vater Sie auf dem Sterbebett schwören ließ, stets die Sache der Konföderation zu unterstützen. Ist dem so?«

»Ja.« Tapfer hob Nelly ihr Haupt und blickte entschlossen in die traurigsten Augen, die sie je in einem menschlichen Antlitz sah. »Aber es war nicht nur das, Herr Präsident; wie alle treuen Virginier glaubte ich an unsere Sache und liebte sie.«

»Wie ich an die meine glaube, Nelly. Aber ich schlage vor, daß wir die Entscheidung darüber Gott überlassen. Der Bruderzwist ist in der Tat so gut wie beendet. Liebes Kind, wollen Sie mir vertrauen, wenn ich die Wunden dieses Krieges zu heilen versuche, und wollen Sie sich wieder unter den Schutz der Fahne begeben, für die Ihre Vorfahren tapfer starben?«

»Ja,« hauchte Nelly gebrochen. Es fiel ihr wirklich schwer, ihrer Sache zu entsagen, und Lincoln, der ein geübtes Auge für die Leiden anderer besaß, sprach inzwischen ein paar Worte mit Goddard, um ihr Zeit zu lassen, ihrer Bewegung Herr zu werden.

»Uebrigens, Nelly,« sagte er, als sie sich ihm wieder zuwandte, »ich war nicht überrascht, als ich hörte, daß Symonds Ihre Handschrift nicht wiedererkannt habe – er wußte ja nicht, daß Sie mit beiden Händen gleich gut zu schreiben vormögen.« Ein Ausruf entschlüpfte ihr. »Sie vergessen, daß Sie einst Tad zeigten, daß Sie diese Gabe hätten – Ihre rechte Hand hat also nicht gewußt, was Ihre linke schrieb.« Er lachte freundlich und erhob sich dann. »Ich ließ meine Frau unten im Wagen und darf sie nicht länger warten lassen, da wir nach Fords Theater fahren wollen, um uns ein Theaterstück anzusehen.

Major Goddard, ich erwarte von Ihnen morgen Ihren Rapport, daß Ihre Frau –« er blickte schelmisch Nelly an – »uns beiden den Eid der Treue geleistet hat.«

Er trat zur Tür und winkte dem Inspektor Wood, der wartend im Korridor stand. »Herr Inspektor, diese Gefangene ist frei; hier ist ihre Begnadigung, unterschrieben, untersiegelt und zugestellt,« damit übergab er ihm das Schriftstück. »Leben Sie wohl, Nelly.« Der Blick, den er dem leise weinenden Mädchen zuwarf, war wie ein Segenswunsch. »Gott sei mit Ihnen, bis wir uns wiedersehen!« –

Fünf Stunden später war der Märtyrer-Präsident zur großen Armee abberufen worden. Abraham Lincoln – Du Mann des Volkes – trauernd umstanden die Völker Deine Bahre Abraham Lincoln wurde am Abend des 14. April 1865 in Fords Theater in Washington von Meuchelmörderhand erschossen und starb wenige Stunden später..

Ende

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Druck: Harzer Buchdruckerei, Thale a. H.


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