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7. Kapitel.

Einige Stunden später betrat Dr. Boyd sein Haus, ging in sein Studierzimmer und tastete hier im Dunkeln nach seiner Streichholzdose. Sie war nicht an ihrem gewohnten Platz, also hatte seine alte Haushälterin, Martha Crane, wieder einmal seinen Schreibtisch aufgeräumt, was den Doktor immer fast zur Raserei brachte.

»Kann ich Ihnen vielleicht helfen, Herr?«

Die rechte Hand des Arztes fuhr in seine Tasche, während er sich nach der Richtung umwandte, aus der die Stimme herkam. Der Eindringling erriet wohl seine Absicht, denn nun vernahm man eine ängstliche Stimme:

»Nicht schießen, um Gottes willen, ich bin es ja, Sam.« Und hierbei zündete er ein Streichholz an, so daß seine Gestalt sichtbar wurde.

»Ha, dann komm herein und zünde diesen verdammten Brenner an,« versetzte der Doktor mürrisch, während er seine Waffe losließ. »Und auf ein andermal kündige Dich etwas weniger dramatisch an, Sam, oder es geschieht etwas Unangenehmes.«

»Jawohl, Herr.« Der Neger trat bereitwillig ins Zimmer und zündete das Gaslicht über des Doktors Schreibtisch an. »Fräulein Martha hat gesagt, ich solle hier warten.«

»Zum Kuckuck mit dem Weib!« Dr. Boyd setzte sich in seinen Sessel und betrachtete verzweifelt seine sorgfältig geordneten Papiere und Sachen. »Wo ist sie?«

»Ausgegangen,« verkündete Sam kurz; »ich versprach ihr, das Haus zu hüten, bis sie wiederkommt.«

»Und wo warst Du, Sam? Fräulein Nelly erwartete Dich doch bei den Perrys?«

»Ich ging auch hin, Herr, aber ich sah so viele Leute herumlungern und aufpassen, daß ich lieber herkam, da ich dachte, Fräulein Nelly wäre vielleicht bei Ihnen. Ich habe das Papier gefunden, das sie haben wollte.«

»Sie reist um neun Uhr nach Winchester.«

»Donnerwetter, dann muß ich gleich zu ihr,« hiermit steuerte er auf die Tür zu.

»Halt,« rief Boyd, »ihr Haus ist auch von Geheimpolizisten bewacht. Ich habe diese vor einer Stunde, als ich Nelly verließ, dort herumschleichen sehen; Du würdest sofort verhaftet werden.«

Sam kratzte bestürzt seinen wolligen Kopf. »Und wenn ich nun nach der hinteren Allee gehe und nach Misery pfeife, wird wohl niemand auf den alten Nigger achten,« meinte er nach kurzem Nachdenken hoffnungsvoll.

»Wozu?«

»Ich werde das Papier in seinem Halsband verstecken, und er wird es ihr bringen.«

Boyd schüttelte den Kopf. »Das hieße dem Scharfsinn eines Hundes zu viel zutrauen, jetzt, wo sie so verdächtig ist; aber warte einen Augenblick.«

Nachdenklich streichelte er sein Kinn. »Komm, laß mich die Botschaft lesen, und dann will ich sie ihr auf dem Bahnhof wiederholen.«

»Nein, Herr, entschuldigen Sie, aber dies Papier soll ich nur ihr selber geben.«

»Das kann ich am besten beurteilen, gib es mir nur.«

»Nein, Herr,« wiederholte Sam eigensinnig. »Oberst Newton hat mich bei seinem Tode Fräulein Nelly hinterlassen und mir anbefohlen, ihr zu gehorchen; ich bin jetzt ihr Diener, wie ich vorher der seinige gewesen bin.«

»Zum Kuckuck mit Deiner Dummheit,« knurrte der Doktor; in diesem Augenblick vernahm sein scharfes Ohr ein Geräusch im Erdgeschoß. Während er Sam bedeutete, zurückzubleiben, ging er vorsichtig nach der Hintertreppe; durch die Küchentür, die sich knarrend öffnete, trat jetzt eine alte Frau in die untere Halle und humpelte schwerfällig auf die Treppe zu, ein Licht in der Hand. Der Arzt stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Freut mich, daß Sie zurück sind, Martha. Bitte bringen Sie mir etwas Eiswasser in mein Zimmer.«

Sam zupfte verlegen an seinem alten Hute, als Boyd wieder eintrat.

»Ich möchte Ihnen schon das Papier geben, Herr, aber der Oberst hat mich zum Gehorsam erzogen, und allen auf der Pflanzung galt nur sein Wort. Ich denke, daß ich Fräulein Nelly doch noch erreichen kann.«

»Du wirst nicht weit zu gehen haben,« klang jetzt eine bekannte Stimme von der Türschwelle her; Sam fuhr herum und stieß einen Laut der Ueberraschung aus.

»Was? Sie, Nelly!« Auch der Doktor starrte ungläubig auf die gebückte grauhaarige Frau, die ins Zimmer hinkte und die Türe hinter sich schloß. Statt aller Antwort richtete Nelly sich auf und entfernte die Perücke. »Martha Crane war bei meiner Tante,« erklärte sie dann, »von ihr hörte ich, daß Du hier wärest, Sam, und so beschloß ich, den Versuch zu machen, Dich hier zu treffen, da wir uns bei den Perrys verfehlt hatten.«

»Und woher um Himmels willen stammt diese Verkleidung?« fragte Boyd.

»Martha borgte mir ihren Anzug, der mit einiger Auspolsterung ganz gut paßte; sie gab mir auch den Schlüssel zur Hintertür – und die Perücke,« schloß sie lachend, »rührt von einer Wohltätigkeitsvorstellung her. Auch die Geheimpolizisten hielten mich für die alte Martha und ließen mich ungehindert durch. Aber nun, Sam, hast Du mir das bewußte Papier verschafft?«

»Ja, Missy,« und er händigte ihr einen schmalen Papierstreifen ein, den das junge Mädchen eifrig studierte.

»Ist es wichtig?« fragte der Arzt nach einer Meile.

»Aeußerst wichtig, denn dies hier ist der Schlüssel zu Stantons Geheimschrift.«

Dem Doktor entfuhr ein leiser Pfiff. »Wie ist Ihnen denn das gelungen?«

»Durch Arthur Shriver, der, wie Sie wissen, Schreiber in seinem Bureau war, aber noch ehe er mir den Zettel übermitteln konnte, als verdächtig verhaftet wurde. Dann hörte ich, daß er sich in einem der Vorderzimmer im alten Kapitolgefängnisse befand, und es gelang mir bei einer guten Gelegenheit, mich mit ihm vermittelst vorher verabredeter Zeichen zu verständigen, während die Aufmerksamkeit der Wache abgelenkt wurde. Ich erfuhr, wo er das Papier verborgen hatte, und konnte nun Sam beauftragen, es mir zu verschaffen.«

»Großartig,« rief der Doktor bewundernd aus. »Aber sehen Sie, auf der Rückseite steht noch etwas.«

Nelly las mit vor Ueberraschung weitgeöffneten Augen laut die hastig hingekritzelten Worte: »Frau Bennett ist eine Spionin der Union; soeben habe ich eine Unterredung zwischen ihr und Stanton belauscht.«

»Dieses Weib!« stieß der Arzt hervor. »Diese Katze!«

Nelly zuckte verächtlich die Achseln.

»Vorsicht, Nelly, unterschätzen Sie Ihre Gegner nicht,« warnte der Doktor.

»Ich hoffe doch, Frau Bennett gewachsen zu sein, und jetzt bin ich ja gewarnt – außerdem,« fuhr sie ungestüm fort, »wollte ich Sie gerade bitten, lieber Herr Doktor, diese Nachricht zusammen mit einem Bericht, den ich heute an mich bringen konnte, weiterzubefördern.«

Boyd schüttelte den Kopf. »Es ist mir unmöglich, Kind, die Stadt zu verlassen.«

»Warum?«

»Ich habe um zehn Uhr eine schwere Operation vorzunehmen.«

Nelly sah ihn flehend an. »Haben Sie nicht immer gesagt, daß Sie stets bereit wären, etwas für unsere Sache zu tun?«

»Gewiß, wenn es wirklich nötig wäre, aber zu dieser Aufgabe sind Sie weit besser geeignet.«

Nelly schwieg eine Weile, dann schlug sie ihre verstörten Augen zu ihm auf. »Dies ist der letzte Bericht, den ich sende,« sagte sie bestimmt.

Dr. Boyd traute seinen Ohren nicht. »Was? Warum?«

»Weil ich nicht länger dieses Leben führen will; ich wurde in dem Glauben erzogen, eine Lüge sei etwas Verabscheuungswürdiges und – seit drei langen Jahren betrüge ich unausgesetzt diejenigen, die mir vertrauen.«

»Aber Nelly, seien Sie doch vernünftig, wozu auf einmal diese Gewissensbisse? Man würde mir außerdem jetzt kaum gestatten, Washington zu verlassen, während Ihre Vorbereitungen dazu bereits alle getroffen sind und es für Sie eine ganz einfache Sache sein wird, diese Berichte nach Virginia zu überbringen. Sie laufen nur wenig Gefahr ,...«

»Es handelt sich nicht darum,« unterbrach ihn das Mädchen; »gern will ich frei und offen mein Leben für unsere Sache lassen, aber es ist das Heimliche, der Betrug, das Spionieren – das brennt wie glühende Kohlen.« Sie zog noch einen Zettel aus ihrer Tasche, und die beiden Schriftstücke auf den Tisch werfend, fuhr sie ruhiger fort: »Sie müssen hierfür einen andern Boten finden.«

»Missy, Missy, was sagt Ihr da?«

Das Mädchen und der Doktor schraken zusammen, hatten sie doch beide gänzlich Sams Gegenwart vergessen. »Wollt Ihr Euer gegebenes Wort brechen, Ihr, eine Newton?«

Nelly erbleichte und wollte etwas entgegnen, doch der Neger sprach mit seiner tiefen, gefühlvollen Stimme rasch weiter: »Habt Ihr jene Nacht vergessen, als ich Euch aus dem Newton-Haus an Massas Bett holte?«

Lebendig erhob sich in dem jungen Mädchen die Erinnerung an jenen wilden nächtlichen Ritt an das Sterbebett ihres Vaters, des heitern, schönen Vaters, den sie anbetete; in Gedanken kniete sie wieder neben dem rauhen Bett in dem stillen Zelt und umklammerte die schwache Hand, welche ihren Druck nicht mehr erwidern konnte.

»Missy,« – Sams Stimme versetzte sie wieder in die Gegenwart – »Massa hat Euch reiten, schwimmen und schießen gelehrt, als wenn Ihr ein Mann wäret, weil er sich so sehr einen Sohn wünschte. Als er dann von den Yankees tödlich verwundet wurde und der General ihm sagte, wie sehr er ihn vermissen würde, da antwortete er: ›Wie glücklich wäre ich, wenn ein Sohn meinen Platz einnehmen könnte‹.« Sam fuhr langsam fort: »Und als wir ankamen, Missy, konnte Massa kaum noch sprechen; aber er sagte zu Euch: ›Weine nicht, mein Kind, wir Newtons sterben glücklich, wenn wir in den Sielen sterben.‹ Und dann richtete er sich auf und flüsterte mit letzter Kraft, daß Ihr schwören solltet, immer unsere Sache zu verteidigen und die Ehre von Virginia hochzuhalten.« Hier hob der Neger feierlich seine rechte Hand. »Und Ihr schworet diesen Eid, Missy, auf das Kruzifix in der Hand Eures sterbenden Vaters.«

Nelly sah wie gebannt in Sams anklagende Augen. Mechanisch befestigte sie die Perücke, umschloß mit ihrer Hand die auf den Tisch geworfenen Papiere, und ehe noch die Männer ihre Absicht erraten konnten, war sie schon aus dem Zimmer geglitten und verschwunden.


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