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Als Oberst Andrews am Mittwoch Morgen die Sitzung eröffnete, war das Gerichtszimmer überfüllt, denn die Verhaftung Goddards hatte das Interesse für den Prozeß fieberhaft gesteigert, und das Verlangen nach Eintrittskarten war groß. Frau Warren kam wieder in Begleitung von Frau Arnold und Frau Bennett – besorgt sah sie auf Nelly. Die Qual der letzten Tage stand allerdings klar in deren bleichen Zügen geschrieben, aber sie lächelte tapfer, als sie ihr zuwinkte. Warren und der Doktor hatten noch lange zusammen beraten, ohne zu einem anderen Entschluß zu kommen, als daß es das beste sein würde, einen Aufschub der Verhandlungen zu verlangen, um neues und wesentliches Beweismaterial zugunsten der Angeklagten herbeizuschaffen. Selbst hierzu hatte sich Warren nur schwer entschlossen, denn er war sich nur zu klar darüber, daß er sich in einem Zwiespalt befand. Wenn es sich ergab, daß Doktor Boyd den Hauptmann Lloyd getötet hatte, um sich in den Besitz jener verhängnisvollen Depesche zu setzen, so hieß dies nur wiederum Nellys Schuld als Spionin zugeben. Kein Mensch würde den Arzt ohne genügenden Grund eines solchen Verbrechens für fähig halten, und ein solcher Grund konnte in diesem Falle nur seine Furcht sein, die Depesche könnte Nelly schaden, falls sie in die Hände der Regierung fiele.
Warren hatte sofort Nachforschungen nach dem Doktor angestellt, doch ohne Erfolg; er war ganz unerwartet aus der Stadt abgerufen worden und hatte seine Patienten an Doktor Ward verwiesen. Auch in seinem Hause hatte Warren nichts erfahren können; nach vielem Klopfen und Klingeln war seine alte Haushälterin erschienen und hatte gesagt, daß sie nicht wüßte, wohin der Doktor gereist sei, und daß er zu irgendeiner Zeit schon zurückkehren würde.
Fräulein Metoaca sollte heute als erste Entlastungszeugin auftreten; Warren hatte versprochen, sie abzuholen – auch sie gab auf sein Befragen wenig ermutigenden Bescheid über Doktor Boyd, denn sie hatte seit Wochen nichts von ihm gesehen und gehört.
»Wieviel gäbe ich darum, wenn er jetzt hier wäre – er ist Nelly sehr ergeben,« fügte ihre Tante seufzend hinzu, und Warren stimmte innerlich diesem Wunsche bei, als er Fräulein Metoaca in das für die Zeugen bestimmte Zimmer führte.
An diesem Morgen war Fosters erster Zeuge ein ältlicher Mann, der sowohl auf den Gerichtshof als auch auf die Zuschauer keinen sehr günstigen Eindruck machte – er schien keinen großen Geschmack an seinem Erscheinen vor der Oeffentlichkeit zu finden, nagte an seinen Nägeln und warf unsichere Blicke auf Nelly. Er erklärte, er hieße Oscar Brown, sei Drogist und habe öfters Rezepte für die Angeklagte angefertigt.
»Wann haben Sie die Angeklagte zuletzt gesehen?«
»Am Nachmittag des sechsten März, als sie in meinen Laden kam.«
»Kaufte sie etwas?«
»Jawohl, mein Herr, eine Flasche mit Chloroform!«
Hier vernahm man deutlich einen erschreckten Ausruf, der Frau Warren entschlüpfte, denn ihr Mann hatte ihr noch nichts von Wards Entdeckung mitgeteilt und Browns Aussage verwirrte Nellys zärtliche und aufrichtige Freundin.
»Sagte die Angeklagte, wozu sie das Chloroform benötigte?«
»Gewiß, sonst hätte ich es ihr nicht verkauft; sie gab an, ihre Katze sei überfahren worden und solle von ihren Qualen erlöst werden. Fräulein Newton ist so bekannt, und ihr Charakter galt damals als ehrenhaft ,...«
»Ich erhebe Einspruch,« widersprach Warren sofort.
»Der Einspruch wird unterstützt – Zeuge, hängen Sie nicht Betrachtungen nach und antworten Sie so kurz wie möglich,« befahl Oberst Andrews streng.
Foster fuhr fort zu fragen: »Hatte die Angeklagte etwas in der Hand, als sie den Laden betrat?«
Der Zeuge antwortete etwas beschämt: »Nein – ich tat die Flasche mit Chloroform in eine leere Schachtel, da Fräulein Newton meinte, sie ließe sich so besser tragen.«
»So, so.« Foster schien sehr befriedigt. Dann wurde noch die Zeit – ungefähr ein Viertel vor vier – festgestellt, und Warren übernahm nun seinerseits das Verhör. Seine erste Frage lautete:
»War es das erstemal, daß Sie Chloroform an Fräulein Newton verkauften?«
»Ich weiß es nicht – es könnte aber vorgekommen sein – mein Geschäft ist sehr groß.«
»Antworten Sie ja oder nein,« fuhr der Vorsitzende auf.
Eingeschüchtert durch den Ton des Obersten antwortete Brown unfreundlich: »Nein.«
»Wie oft hatten Sie es ihr bereits verkauft?«
»Wenigstens dreimal.«
»Gab sie an, wofür sie es brauchte?«
»Doktor John Boyd schickte sie manchmal, wenn er große Eile hatte; er leitete einen Samariter-Kursus für junge Mädchen, um Verwundeten die erste Hilfe zu leisten, und Fräulein Newton war seine Gehilfin in den Kliniken.«
Bei diesen Worten des Mannes durchfuhr es Warren wie ein Stich – wenn nun Nelly an jenem Nachmittage auch im Studierzimmer des Doktors gewesen war, wo sie gewiß jeden Gegenstand genau kannte! Konnte sie etwas von dem Kuraregift wissen? Er strich mit der Hand über seine feuchte Stirn und bemerkte dann zu dem Zeugen, er habe ihn nichts weiter zu fragen, worauf sich dieser schleunigst zurückzog.
Foster machte die letzten Eintragungen in sein Protokoll, und auf ein Wort von ihm konnte Warren mit der Vernehmung von Nellys Tante beginnen. Bei deren Anblick hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt; liebte sie Nelly doch zärtlich, und die deutlichen Spuren des Leidens in dem schönen Gesicht schnitten ihr ins Herz – kaum brachte sie ein Wort hervor, als sie schwören sollte. Obgleich sie eine Entlastungszeugin war, stellte der Vertreter der Anklage die erste Frage an sie, wie es beim Kriegsgericht üblich ist.
»Sind Sie mit der Angeklagten verwandt?«
»Sie ist meine Nichte, das einzige Kind meines Bruders.«
In diesem Augenblick übergab eine Ordonnanz Warren einen Brief; er erbrach rasch das Siegel, und ihm entfuhr ein leiser Laut, als er den Inhalt überflog. Er zerdrückte das Schreiben in seiner Hand, gab seinem Kollegen Dwight einige leise Anweisungen und verließ das Zimmer.
Der Senator hatte seine Fragen vorbereitet, und Dwight übergab Foster eine nach der andern.
»Haben Sie eine Katze?«
»Ja, vielmehr ich hatte eine – sie mußte zu Miserys Entzücken chloroformiert werden.«
»Misery?« Dwight sah etwas verwirrt aus – er hatte nie die Bekanntschaft von Misery gemacht – »wer ist Misery?«
»Der Hund meiner Nichte; er haßte jene Katze.«
»An welchem Tage geschah das?«
»Warten Sie – es war an dem Tage, an dem Frau Arnolds Ball stattfand, am sechsten März; gerade als meine Nichte ausging, wurde die Katze überfahren, und ich bat sie, etwas Chloroform zu kaufen, für den Fall, daß ich etwas brauchen sollte.«
»War die Flasche gefüllt, als sie Ihnen von der Angeklagten überreicht wurde?«
»Soviel ich mich erinnere, ja.«
»War ihre Nichte aufgeregt oder unruhig, als sie zurückkehrte?«
»Nein, mein Herr.«
»Wann war das?«
»Ungefähr zwanzig Minuten nach sechs Uhr.«
Dwight erklärte, keine weiteren Fragen stellen zu wollen, und Foster begann:
»Stehen Sie auf seiten der Union oder der Konföderation?«
»Meine Gefühle sind geteilt,« war Fräulein Metoacas ruhige Antwort; »ich habe in beiden Heeren Verwandte und Freunde.«
»Sind Sie eine Freundin der Rebellen? Antworten Sie ja oder nein.«
»Ich bin es, mein Herr, wie viele andere Frauen in Washington.«
»Und die Angeklagte ebenfalls?«
»Ich vermag nichts über die Gefühle meiner Nichte auszusagen.«
»Wo war diese in der Nacht des siebenundzwanzigsten Dezember 1864?«
»Sie verlebte Weihnachten mit Freunden in Baltimore und kam erst am Tage nach Neujahr nach Washington zurück.«
»Nennen Sie bitte diese Freunde.«
»Herr und Frau Murray, Saratogastraße 24 in Baltimore.«
Foster schrieb sich Namen und Adresse auf.
»Es ist gut, Fräulein Newton; Sie können sich zurückziehen.«
Als sie an Nelly vorbeiging, neigte sie sich zu ihr und flüsterte zärtlich: »Gräme Dich nicht, mein Liebling; Du wirst befreit werden.« Dann war sie verschwunden.
Dwight bat jetzt den Gerichtshof, eine zeitweilige Vertagung der Verhandlungen bis zum nächsten Morgen eintreten zu lassen, da der Senator als hauptsächlicher Verteidiger in dringender Angelegenheit abgerufen worden sei, wogegen aber Foster Einspruch erhob. Er wies auf die kostbare Zeit der Mitglieder der Kommission hin und daß Staatssekretär Stanton befohlen habe, die Verhandlung so schnell wie möglich zu beenden, somit wolle er jetzt den ganzen Fall in seiner bisherigen Sachlage dem Gerichtshofe unterbreiten.
Nun erinnerte ihn Dwight daran, daß, da Aussagen nur vom Hörensagen vom Gerichtshof nicht als rechtsgültig anerkannt worden wären, man noch das Zeugnis des Kundschafters Belden abwarten müsse.
»Diese Anklage kann vorläufig noch warten,« erklärte Foster hitzig, »die zweite dagegen auf vorsätzlichen Mord ist bereits völlig bewiesen.«
»Ich bestreite dies,« erwiderte Dwight fest.
»Und ich behaupte, daß dies nur eine List ist, um Zeit zu gewinnen – ich bitte den Gerichtshof, mich anzuhören; wir haben gesehen, daß Hauptmann Lloyd, ein tapferer Soldat, bei Erfüllung seiner Pflicht hinterlistig ermordet wurde. Sie, meine Kameraden, haben erfahren, wie die Mörderin die Treppe hinabschlich, sein Schlafzimmer betrat, die Tasche stahl, die das belastende Papier enthielt – dann, immer noch in der Furcht, er könne ihre Schuld beweisen, beugte sie sich über den schlafenden Mann – und machte ihn für immer unschädlich. Dieses –« er schlug mit der Hand auf den Tisch – »ist bewiesen. Die Verteidigung soll das ableugnen, wenn sie es kann!«
» Wir leugnen nichts!« Mit entschlossenem finsteren Gesicht bahnte sich Warren einen Weg durch das überfüllte Zimmer – er war unbemerkt wieder eingetreten. Er ging, ohne Nelly anzublicken oder anzureden, an ihr vorbei und blieb dann stehen.
»Wir geben die Wahrheit des eben Gehörten zu.«
Diese Erklärung wirkte wie ein Donnerschlag; Offiziere und Zuschauer saßen stumm, der Sprache beraubt, da; Nelly war totenbleich geworden und starrte mit Augen voller Todesangst auf Warren, dessen mächtige, unbarmherzige Stimme jetzt durch den Raum klang.
»Sie haben gehört, wie sie sich in jenes Zimmer stahl mit Mordgedanken im Herzen, während die Schuld früherer Tage ihr Mut verlieh zu der verzweifelten Tat; mit verstohlenen Schritten nähert sie sich dem Bett, sie sucht in den Falten ihres Kleides und zieht eine Spritze hervor. Geschickt, mit geübter Hand, versenkt sie sie in den kräftigen Arm, welcher einst so kühn im Kampfe war und jetzt kraftlos auf dem Kissen liegt. Ruhig beobachtet sie, wie das Gift in seine Adern strömt, dann tritt sie zurück und verbirgt die Spritze zwischen der Matratze und dem Kopfende des andern leeren Bettes. Als sie die Hand ausstreckt, um den Rock des Hauptmanns zu durchsuchen, wird die Tür nach dem Korridor aufgestoßen, aber nur – um einen wohlbekannten Hund einzulassen. Rasch will sie ihr Suchen fortsetzen, da naht eine neue Unterbrechung – die Tür des Wohnzimmers öffnet sich; sie erschrickt heftig, ihr Herz klopft zum Zerspringen. Ein zögernder Schritt kommt über die Türschwelle; sie beruhigt sich allmählich, denn – ein Blinder kann ihr nicht schaden. Sie erfaßt die Brieftasche, da fällt Goddard über den Hund. Das Geräusch erweckt die bewußtlose Gestalt auf dem Bett, schwach flüstert er einen Namen – einen vertrauten Namen – den Namen von –«
Ein lauter Angstschrei erscholl – der Schrei einer gequälten Seele! Die erstarrten Offiziere springen auf – die Zuschauer steigen auf die Stühle, um besser zu sehen.
»Sitzenbleiben, sitzenbleiben!« brüllt Foster.
Eine Gestalt wankt auf den Gang hinaus: »Luft, Luft – ich ersticke – ich will hinaus!«
»Gerade das ist unmöglich! Wache, hier ist Ihre Gefangene,« und Warren deutet auf Frau Bennett, die zu Boden stürzt.