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5. Kapitel.

»Ich gäbe etwas darum, wenn ich Ihre Gedanken erraten könnte, Nelly,« sagte Frau Warren und bog sich über den Tisch zu dem jungen Mädchen hin. Dieses schrak schuldbewußt zusammen und errötete, als sie nun auch dem belustigten Blick des Senators, der zu ihrer Linken saß, begegnete.

»Sie haben mich heute morgen gar nicht bemerkt, und auch Major Goddard hatte nur Augen für Sie, was ich ihm übrigens nicht verdenken kann.«

»Der Major ist sehr liebenswürdig,« versetzte Nelly gelassen, »und sieht sehr gut aus; schwarzes Haar und graue Augen sind äußerst selten.«

»Haben Sie heute den Präsidenten gesprochen, Herr Senator?« erkundigte sich ihr Gastgeber, Oberst Mitchell, ihr Gespräch unterbrechend. Das junge Mädchen, froh, einen Augenblick ihre Gedanken sammeln zu können, legte sich in ihren Stuhl zurück; sie hatte heftige Kopfschmerzen und erwartete mit Ungeduld den Aufbruch ihrer Freunde.

Sie saßen in einer Ecke, und Frau Warren war jetzt in eine hitzige Auseinandersetzung mit den beiden Herren vertieft, während sie langsam ihren Kaffee tranken. So drehte Nelly sich herum und betrachtete das belebte Bild hinter ihr mit müden, ruhelosen Augen.

Washington war zur Zeit voller Unruhe und mit Fremden überfüllt. Außer den in der Stadt selbst und in ihrer Umgebung untergebrachten Soldaten durchzogen beständig Truppen die Stadt auf ihrem Wege von oder nach der Front. Staatsmänner, Armeelieferanten und zweideutige Politiker überschwemmten die Hotels und Restaurants.

Im Restaurant Gautier, wo sich viele Bürger der besseren Kreise und Regierungsbeamte zusammenfanden, war es heute abend außergewöhnlich voll, und der Franzose hatte Mühe, seinen zahlreichen Kunden gerecht zu werden; er hatte deshalb schon sein Dienstpersonal verstärkt. Das Streichorchester machte jetzt eine Pause, und Nellys scharfe Ohren fingen Bruchstücke einer Unterhaltung zwischen zwei Offizieren an dem nächsten Tische auf. Unmerklich schob sie ihren Stuhl etwas näher, während Sam aus dem Hotel Wormley, der heute hier mit zur Aushülfe tätig war, gewandt die Dessertteller fortnahm. Sie hörte den Aelteren äußern, daß Grant es gern sehen würde, wenn Sheridan sich mit ihm nach der Aufgabe der Winterquartiere vereinigte, während der andere es für richtiger hielt, wenn Sheridan nach Süden zu marschierte, um Sherman zu verstärken – er meinte, dies würde das Grabgeläut der Konföderation werben. Das weitere wurde von der aufs neue einsetzenden Musik verschlungen, und bald darauf traf Frau Warren auch Anstalten zum Aufbruch.

Oberst Mitchell öffnete seine Brieftasche und entnahm ihr einige Banknoten; als er sie wieder schloß, fiel ein schmaler Streifen Papier auf den Boden dicht neben Nellys Stuhl. Blitzschnell setzte sie ihren Fuß darauf; keiner schien auf sie acht zu geben – konnte sie es da wagen, sich zu bücken und das Papier aufzuheben? Als sie noch zögerte, trat Sam beim Wechseln des Geldes näher heran und ließ wie unabsichtlich seine Serviette über Nellys Fuß fallen.

»Bitte um Entschuldigung, Missy.« Er bückte sich rasch, hob geschickt ihren Fuß auf und entfernte das Papier mit der Serviette, die er in ihren Schoß legte; dabei flüsterte er fast unhörbar: »Vorsicht, Ihr werdet bewacht.«

»Ich danke Dir, Sam,« hauchte sie, während ihre Finger krampfhaft das Papier in dem Tuche umklammert hielten, und als sie ihre Freunde noch beschäftigt sah, fuhr sie rasch fort:

»Gehe in das Zimmer von Herrn Shriver im Hotel Wormley und suche hinter dem Spiegel über seinem Schreibtische; dann bringe mir heute nacht das Papier, das Du dort finden wirst, zu den Perrys.«

Er nickte unmerklich. Nelly erhob sich. »Bitte, Herr Senator, wollen Sie mir in meinen Mantel helfen?«


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