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An dem Morgen des zehnten April hatte Senator Warren Mühe, das Gerichtsgebäude zu erreichen, in dem die Verhandlung stattfinden sollte; die amtliche Nachricht von Lees Übergabe war eingetroffen, und die Straßen wimmelten von aufgeregten, frohlockenden Menschen – soweit das Auge reichte, flatterten Flaggen und bunte Fähnchen von den öffentlichen Gebäuden und allen Häusern. Jetzt vernahm man auch den Donner der zweihundert Salutschüsse, die Stanton angeordnet hatte. Als Warren das Verhandlungszimmer betrat, fand er die Kommission bereits versammelt. Er begrüßte den Vorsitzenden, Oberst Andrews, den er schon kannte, und dieser stellte ihm einen großen bärtigen Offizier als den öffentlichen Ankläger Hauptmann Foster vor – beide Männer betrachteten sich gegenseitig mit Interesse, des schweren Kampfes bewußt, der vor ihnen lag – das Leben des jungen Mädchens stand ja auf dem Spiel. Ernst schüttelten sie sich die Hände.
»Wenn Sie bereit sind, Herr Senator, wollen wir beginnen,« sagte Foster höflich; »die nötigen Zeugen sind im Nebenzimmer versammelt, und auch die Gefangene ist unter Bewachung eingetroffen.«
Jetzt betrat ein junger Mann das Zimmer und gesellte sich zu Warren. »Guten Morgen, Dwight,« rief dieser, »Herr Oberst Andrews – Hauptmann Foster – dies hier ist mein Kollege, Herr Dwight, Mitglied der Rechtsanwaltschaft von Washington, der mir bei der Verteidigung von Fräulein Newton Hilfe leisten wird, wir können sofort beginnen, Herr Hauptmann.«
Inzwischen hatten sich die für Zuschauer vorbehaltenen Sitze im Hintergrunde des Zimmers rasch gefüllt; die beiden Fräulein Newton waren sehr beliebt in der Gesellschaft, und alle ihre Freunde und Verwandten, die sich Eintrittskarten verschafft hatten, waren frühzeitig eingetroffen, um nichts von den Vorgängen zu versäumen. Ein langer Tisch mit Schreibutensilien stand für die Benutzung der Mitglieder des Gerichtshofes bereit und dicht dabei ein kleinerer für Nelly und ihren Verteidiger. Gegenüber stand ein Stuhl für die Zeugen und ferner noch ein anderer kleiner Tisch für die Berichterstatter
Die Offiziere, die in großer Uniform erschienen waren, setzten sich um den Tisch; der Vorsitzende, Oberst Andrews, an dessen Spitze und Foster in Interimsuniform ihm gegenüber. Auf ein Zeichen des letzteren sprach eine der wartenden Ordonnanzen mit der Schildwache an der Tür, und bald darauf wurde Nelly ins Zimmer geführt. Warren erhob sich sofort uni geleitete sie nach ihrem Sitz, voll Bewunderung für ihre Schönheit und Haltung. Ruhig und mit Würde erwiderte sie die Begrüßung der Offiziere – ihr Wesen hätte nicht gelassener sein können, hätte sie sie daheim in ihrem Salon empfangen.
Frau Warren aber, welche zwischen Frau Arnold und Frau Bennett saß, sah voll tiefen Mitleids die tiefliegenden Augen und die bleichen Wangen des jungen Mädchens. Nelly blickte sehnsüchtig nach ihrer Tante aus, doch Warren hatte beschlossen, diese als Zeugin für die Verteidigung zu benutzen, und deshalb konnte sie der Verhandlung vorläufig noch nicht beiwohnen.
Der öffentliche Ankläger rief zur Ordnung, erhob sich, wobei er Nelly ein Zeichen machte, ein gleiches zu tun, und las den Erlaß des Kriegsministers wegen Einberufung der Kommission vor, einschließlich der Namen der sechs Offiziere, die diese außer Andrews und Foster bildeten; er befragte die Gefangene, ob sie gegen irgendein Mitglied der Kommission etwas einzuwenden habe, und aus Nellys verneinende Antwort wurde zur Vereidigung geschritten. Nachdem die Offiziere nach dieser Förmlichkeit ihre Sitze wieder eingenommen hatten, erfolgte durch Foster die Verlesung der Anklage gegen Nelly wegen Spionage und vorsätzlichen Mordes, mit allen dazu gehörenden Einzelheiten. Befragt, was sie hierauf zu sagen habe, antwortete Nelly mit fester Stimme, daß sie nicht schuldig sei, worauf sie sich wieder neben Warren setzte.
Als erster Zeuge wurde Symonds aufgerufen; nach Erledigung der üblichen Förmlichkeiten befragt, ob er die Angeklagte wiedererkenne, bejahte er dies mit einem hastigen Blick auf Nelly – dann wandte er seine Augen wieder ab. Es folgte nun sein genauer Bericht über den Vorfall auf dem Wege nach Poolesville, bei dem Hauptmann Lloyd verwundet worden war, und unter den Zuhörern erhob sich ein erstauntes Gemurmel bei der Erwähnung der Entdeckung, daß jener Angreifer eine Frau gewesen war. Der Vorsitzende rief zur Ordnung, und nachdem wieder Ruhe eingetreten war, fragte Foster: »Wie kam es denn, daß sie Ihnen entfloh?«
»Sie hatte ein frisches Pferd, während das meine lahmte und das des Hauptmanns Lloyd auch erschöpft war – es war mir unmöglich, sie einzuholen; ich gab deshalb bald entmutigt die Verfolgung auf und fand bei meiner Rückkehr den Hauptmann bewußtlos am Boden liegen. Nun ritt ich nach Poolesville, besorgte dort einen Wagen und schaffte den Hauptmann auf diese Weise nach jener Stadt, vorher aber hatte ich in dem verlorenen Hut des Spions einige Haare von ganz besonderer Farbe entdeckt, und sowohl der Hauptmann als auch ich waren der Ansicht, daß diese den Haaren von Fräulein Newton in auffälliger Weise glichen.«
»Zeigen Sie die Haare vor,« befahl Foster.
»Ich kann es nicht, Herr Hauptmann, denn ich übergab sie dem Hauptmann Lloyd, und ich weiß nicht, was er mit ihnen angefangen hat.«
Foster, der alle Fragen und Antworten in sein Protokollbuch vor ihm eintrug, stockte und sah Symonds bestürzt an, dann nahm er das Verhör wieder auf.
»Wann sahen Sie den Hauptmann Lloyd zuletzt?«
»Am Montag, den 6. März, nachmittags, er war soeben von Winchester zurückgekehrt.«
»Sprach er von der Angeklagten?«
»Er sagte mir –« Symonds sprach mit Nachdruck – »daß er gültige Beweise dafür habe, daß Fräulein Newton eine Spionin der Rebellen sei.«
»Sagte er Ihnen dies in seinem Zimmer oder in dem Korridor vor seiner Wohnung?«
»In dem Korridor.«
»Konnte er dort belauscht werden?«
»Jawohl, Herr Hauptmann.«
»Zeigte er Ihnen seine Beweisstücke vor, solange Sie im Korridor waren?«
»Nein, aber er deutete auf seine Brust und sagte, er habe das Papier dort.«
»Sahen Sie jemanden im Korridor?«
»Nein.«
»Sie glauben also, daß der Hauptmann laut genug sprach, um von Personen in den Stockwerken über und unter Ihnen belauscht werden zu können?«
»Meiner Meinung nach war dies sehr leicht möglich,« erklärte Symonds bestimmt.
»Erwähnte er Fräulein Newtons Namen?«
»Nein, Herr Hauptmann.«
»Sprach er von der Spionin in einer Weise, daß jeder gleich wissen konnte, wen er meine?«
Symonds dachte einen Augenblick nach. »Nein,« sagte er schließlich.
»Gingen Sie mit Hauptmann Lloyd in sein Wohnzimmer?«
»Jawohl.«
»Erzählen Sie, was dort geschah.«
Symonds berichtete nun seine Unterhaltung mit Lloyd in allen ihren Einzelheiten.
»Haben Sie noch jene Depesche in Geheimschrift?«
»Nein, ich gab sie dem Hauptmann zurück.«
»Was tat er mit ihr?«
»Er steckte sie wieder in seine Brieftasche und tat diese in die Brusttasche seines Rockes.«
»Erinnern Sie sich des Wortlautes der Depesche?«
»Nein, Herr Hauptmann; sie war in Geheimschrift, und die Worte hatten keinen Sinn, außer für jemanden, der die Geheimschrift kannte. Außerdem sah ich sie auch nur eine Minute.«
»Würden Sie die Handschrift wiedererkennen?«
»Ich glaube – ja,« doch sah Symonds bei diesen Worten etwas zweifelnd aus.
Foster zeigte ihm einige Blätter Papier, augenscheinlich aus einem Notizbuch herausgerissen. »Sah die Schrift der Depesche diesen Proben von der Handschrift der Gefangenen ähnlich?«
Nach sorgfältiger Untersuchung schüttelte Symonds den Kopf: »Nein.«
Frau Bennett, die sich vorgebeugt hatte, um besser seine Antwort zu hören, sah ebenso erstaunt aus wie Foster – sie dachte eifrig darüber nach, wie sie Baker mitteilen konnte, daß ihrer Ansicht nach der Zeuge, um Nelly zu schützen, gelogen habe.
Aufgefordert, in seinem Bericht fortzufahren, berichtete Symonds nun, wie erschöpft der Hauptmann gewesen sei, und daß er die Absicht ausgesprochen habe, sich schlafen zu legen. Hier unterbrach ihn Foster.
»Fand diese Unterhaltung im Zimmer statt und bei geschlossener Türe?«
»Während wir im Zimmer waren, war die Tür geschlossen,« antwortete Symonds nachdenklich, »aber ich erinnere mich genau, daß wir in den Korridor hinausgetreten waren, als der Hauptmann bemerkte, ich müsse jemanden schicken, um ihn wecken zu lassen, sobald die Angeklagte verhaftet wäre, denn er würde schlafen wie ein Toter.«
Hier sah Nelly ängstlich auf Warren, denn der Eindruck dieser Worte auf den Gerichtshof war nur zu offenkundig, aber der Senator blickte den Zeugen aufmerksam an – und mit einem tiefen Seufzer lehnte sie sich zurück.
»Glauben Sie, daß jemand diese letzten Bemerkungen des Hauptmanns gehört haben konnte?«
»Gewiß, Herr Hauptmann.«
»Was ereignete sich weiter?«
Symonds erzählte, wie die Befehle des Hauptmanns ausgeführt worden wären und wie er selbst am Abend in die Wohnung Lloyds zurückgekehrt sei, um ihn zu holen; es folgte dann eine dramatische Schilderung der Entdeckung seines Todes wie der Auffindung des bewußtlosen Goddard. Im Zimmer hätten sich nicht die geringsten Anzeichen eines Kampfes vorgefunden; weder Stühle noch Tische wären umgestürzt worden.
»Suchten Sie nicht nach der wichtigen Depesche?«
»Ja, sofort, doch konnte ich weder von dieser noch von der Brieftasche eine Spur finden.«
»Wo befand sich der Rock, den der Hauptmann am Nachmittag getragen hatte?«
»Er hing über einem Stuhl vor seinem Bett.«
»Was taten Sie nach der Ankunft des Generalprofoß?«
Ich übergab ihm die Zimmer, ließ den Major in der Obhut von Doktor Ward und begab mich ins Kriegsministerium.«
Foster hatte eine kurze Unterredung mit Oberst Andrews und wandte sich dann höflich an Warren: »Ich bin fertig, Herr Senator; wünschen Sie ein Kreuzverhör mit dem Zeugen anzustellen?«
Warren nickte, sah seine Aufzeichnungen durch und übergab Foster einen Streifen Papier, von welchem der Hauptmann laut die Frage ablas:
»Welchen Beweis haben Sie, abgesehen von Lloyds Aussage, daß er die Depesche bei dem toten Rebellen, Major Pegram, vorfand?«
»Keinen, Herr Hauptmann,« versetzte Symonds sehr erstaunt.
»Wollen Sie das Wort eines toten Mannes anzweifeln, Herr Senator?« fragte Foster scharf.
»Ja, ich werde dies tun, Herr Hauptmann,« erklärte Warren fest. Er erhob sich und kehrte sich dem Vorsitzenden zu. »Ich lege vor diesem Gerichtshof hierdurch Verwahrung ein und erhebe gesetzlichen Einspruch gegen alle Zeugnisse, die sich nur auf Hörensagen stützen.«
»Und ich behaupte,« erklärte Foster, »daß Symonds Aussage ein vollgültiger Beweis ist – er hat die Depesche in der Hand von Lloyd gesehen.«
»Darin haben Sie Recht, Herr Hauptmann,« erwiderte Warren ruhig, »aber er hat nicht gesehen, ob der Hauptmann sie an dem Körper des toten Konföderisten vorfand; er glaubt dies nur, weil Lloyd ihm dies sagte, und das, Herr Hauptmann, ist ein Beweis vom Hörensagen. Und im Interesse meiner Klientin, deren Leben auf dem Spiele steht, muß ich fordern, daß ein solcher bei dieser Verhandlung nicht berücksichtigt wird.«
Einer der Offiziere der Kommission, Major Lane, schrieb hastig einige Zeilen und überreichte sie Foster, der laut las: »Was führt Sie dazu, Herr Senator, zu glauben, Hauptmann Lloyd, ein unbescholtener, ehrenwerter Mann, hätte falsches Zeugnis gegen die Angeklagte vorgebracht?«
»Wegen seiner bekannten Voreingenommenheit gegen sie, von der ich dem Gerichtshof vollgültige Beweise vorlegen kann.«
Foster blieb aber bei seiner Meinung, und es entspann sich eine hitzige Debatte. Schließlich hob der Vorsitzende die Verhandlung einstweilen auf, um über den Einspruch des Senators mit der Kommission einen Gerichtsbeschluß herbeiführen zu können. Das Zimmer wurde geräumt, Nelly wurde in ein leeres Zimmerchen geführt, und die Zuschauer mußten sich in den Vorraum zurückziehen. Man empfand die frische Luft nach der Schwüle des Gerichtszimmers besonders angenehm, und Frau Warren und ihre beiden Freundinnen lehnten an einem geöffneten Fenster.
»Ich fürchte, Nelly ist tief in diese geheimnisvolle Tragödie verwickelt,« flüsterte Frau Bennett.
»Es hat wirklich so den Anschein,« bemerkte Frau Warren traurig; »aber ich glaube fest an ihre Unschuld; erkennt der Gerichtshof Aussagen vom Hörensagen nicht als gültig an, so kann man Nelly auch keinen Beweggrund nachweisen, weshalb sie den Hauptmann getötet haben sollte.«
»Mein Mann behauptet, daß ein Kriegsgericht am unparteiischsten und gerechtesten von allen Gerichtshöfen der Welt urteile,« fuhr Frau Bennett fort. Die Damen tauschten so noch eine Zeitlang ihre Meinungen aus; dann wurden die Türen des Saales wieder geöffnet, da die Geheimberatung vorüber war, und jeder nahm seinen Platz wieder ein.
»Der Gerichtshof hat, da es sich um so schwerwiegende Beschuldigungen handelt, beschlossen, kein Zeugnis nur vom Hörensagen anzunehmen,« erklärte der Vorsitzende, nachdem Stille eingetreten war.
Warren atmete erleichtert auf. »Dann fordere ich, daß das Zeugnis Symonds, die Depesche betreffend, aus dem Protokoll gestrichen wird.«
»Nicht so rasch, Herr Senator,« verwarnte streng der Oberst, »es ist uns wohl möglich einen gültigen Beweis betreffend den Fund jener Depesche zu erbringen – Sie vergessen, daß Lloyd von Belden, einem von Oberst Youngs Kundschaftern, begleitet war. Herr Ankläger, telegraphieren Sie an General Sheridan im Hauptquartier, daß der besagte Belden sofort hierher geschickt werde, um vor diesem Gerichtshof als Zeuge zu erscheinen oder, falls dies nicht möglich ist, daß uns seine Aussage in dieser Angelegenheit zugestellt werde. Es ist drei Uhr, meine Herren, die Sitzung wird auf morgen früh vertagt!«