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Lloyd hatte ausnahmsweise zu lange geschlafen, und ärgerlich stieß er einen Stuhl aus dem Wege, um einem fortgekollerten Kragenknopf nachzuspüren, als an seine Tür geklopft wurde. Er öffnete, und eines der Zimmermädchen übergab ihm eine Karte, wobei sie ihm meldete, daß der Herr ihn sofort zu sprechen wünsche.
»So sagen Sie Herrn Oberst Mitchell, er möchte sich heraufbemühen.« Kaum hatte er seine Toilette beendet, als auch schon der Erwartete an seine Türe pochte.
»Guten Morgen, Mitchell,« begrüßte er freundlich den Offizier, »wir sind hier ungestört, nehmen Sie Platz und rauchen Sie eine Zigarre.« Dabei bot er ihm eine an.
Aber der Oberst, der stehen geblieben war, dankte mit einer abwehrenden Handbewegung und fragte hastig:
»Haben Sie Fräulein Newton abgefaßt?«
»Wir folgten ihr allerdings gestern abend, konnten aber nichts gegen sie unternehmen.«
»Wieso?«
»Da wir nichts Verdächtiges fanden, konnte ich sie leider nicht verhaften.«
»So ist sie noch auf freiem Fuße?«
»Allerdings, da ich keine Beweise gegen sie habe.«
»Haben Sie ihr nicht den Bericht abgenommen?«
»Also hat sie ihn noch!« und bleich und zitternd fiel Mitchell in einen Stuhl.
»So vermute ich – aber, Mensch, um Himmels willen, was liegt daran? Nehmen Sie sich zusammen,« fuhr Lloyd ernst fort, »selbst wenn sie ihn Lee zuschickt, kann es ja nichts schaden, da er falsche Angaben enthält.«
Zweimal versuchte Mitchell zu sprechen, schließlich stammelte er: »Durch irgendeinen unglücklichen Zufall habe ich statt des erfundenen einen richtigen Bericht fallen lassen!«
Mit starren Augen sah Lloyd auf den unglücklichen Offizier, während er diese erstaunliche Nachricht empfing. Dann griff er sofort nach Mantel und Hut und ging auf die Türe zu. »Wenn ich denke, daß ich dieses Mädchen habe nach Virginia fahren lassen, mit diesem Bericht in der Tasche! Zum Henker!« Und er verschwand eilig ohne Gruß, heftig die Tür hinter sich zuschlagend.
* * *
Goddard erhob sich früh an diesem Morgen und in bester Laune; von Lloyd hatte er sich schon am vorhergehenden Abend mit herzlichem Danke für seine Gastfreundschaft verabschiedet. Nun eilte er davon, um mit den Newtons bei ihrem Hause zusammenzutreffen, wo die Damen die harrende Mietskutsche bestiegen, in welcher auch mit Hilfe des Dieners ihr zahlreiches Handgepäck untergebracht wurde, während Goddard sich zum Kutscher setzte. Kurz vor Abgang des Zuges kamen sie am Bahnhof an und erhielten glücklicherweise ein leeres Kupee, so daß Tante Metoaca sich mit ihrem ganzen Gepäck umgeben konnte, das sie beständig unter Augen haben wollte. Dann kündigte sie an, daß sie ein kurzes Schläfchen machen wolle, und mit einem Seufzer der Befriedigung sank Goddard in den Sitz neben Nelly. Im Augenblick der Abfahrt schwang sich ein Mann auf die hintere Plattform und schlüpfte in den letzten Wagen, ohne von jemand bemerkt worden zu sein.
»Sie sehen ermüdet aus,« bemerkte Goddard und blickte angelegentlich in Nellys blasses Gesicht.
»Ich bin es auch, aber auch Sie, Herr Major, sehen keineswegs sehr frisch aus.«
Das war richtig. Goddard hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Er konnte und wollte nicht an Lloyds Beschuldigungen glauben, der überdies große Feindseligkeit gegen Nelly an den Tag gelegt hatte; gab es doch noch mehr Mädchen mit goldblonden Haaren, und mit der ganzen Ritterlichkeit seiner Natur lehnte er sich gegen die kaltherzigen Pläne des Detektivs auf, dem jungen Mädchen Schlingen zu legen.
»Sind Sie in Washington geboren, Fräulein Newton?« fuhr er fort, da sie unter seinen eindringlichen Blicken unruhig zu werden begann.
»Nein, ich bin aus Richmond und auch dort erzogen; meine Mutter starb sehr früh, aber erst nach dem vor drei Jahren erfolgten Tode meines Vaters brachte mich meine alte Kinderfrau, Tante Polly, nach dem Norden zu Tante Metoaca. Ich wünschte, Sie hätten meinen lieben Vater gekannt, Herr Major; sein einnehmendes Wesen und sein warmes Herz gewannen ihm viele Freunde. Allerdings war es eine Enttäuschung für ihn, keinen Sohn und Erben zu haben, denn ich bin sein einziges Kind und die letzte eines kriegerischen Stammes. Doch wir waren einander alles, er war mein Lehrer und ständiger Begleiter, und Sie glauben nicht, wie ich ihn mehr und mehr vermisse.«
Goddard nickte verständnisvoll, und als er sah, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten, fügte er hinzu: »Ich kann mit Ihnen fühlen, denn auch ich bin eine Waise, war aber nicht in so guter Hut, wie Sie es jetzt sind.«
»Ja, Tante Metoaca ist mir zugleich Vater und Mutter, Gott segne sie –« Das Mädchen sah mit Liebe auf das nickende graue Haupt ihr gegenüber. »Sie und Dr. Boyd sind meine einzigen Freunde.«
»O nein, Sie haben sicher eine Menge ,...«
»Ja, Bekannte,« schaltete Nelly geschwind ein – »aber in der letzten Zeit ,...«
»Nun?« fragte Goddard, als sie zögerte.
»Bemerkte ich eine Aenderung in ihrem Benehmen; nichts Handgreifliches, aber ich begegnete kühlen Mienen und vernahm versteckte Andeutungen.«
»Kümmern Sie sich nicht darum, es wird wohl Eifersucht bei den Frauen im Spiele sein – fragen Sie nur Ihren Spiegel –« und mit offener Bewunderung sah er in ihr reizendes Gesicht.
»Es sind nicht immer Frauen,« begann Nelly wieder zögernd; »es gibt einen Mann in Washington, der mich zu lieben vorgab, doch da ich seine Werbung nicht ermutigte, so rächt er sich, indem er über mich spricht ,...«
»Der Schurke! Warum sagen Sie ihm nicht, daß er ein Feigling und Lügner ist?«
»Ich bin doch nur ein Weib.«
»Ich wollte, Sie gäben mir ein Recht, Sie zu beschützen,« flüsterte Goddard, von dem sehnsüchtigen Ausdrucke ihrer großen beredten Augen hingerissen.
»Herr Major, das ist nicht recht, wir kennen uns ja kaum –« Nelly bog sich zurück, durch den Ausbruch seiner Gefühle erschreckt.
»Ich will aber so rasch wie möglich vorwärts kommen,« erwiderte Goddard kühn, und sein Herz hämmerte, als er ihre Verwirrung sah. »Fräulein Nelly, vertrauen Sie mir und nennen Sie mir den Namen dieses Schurken.«
Unwillkürlich hatte er die Stimme erhoben, wodurch Tante Metoaca aus ihrem Schlummer erwachte. »Nun, junges Volk, Ihr seid gewiß hungrig; was würdet Ihr dazu sagen, wenn wir unsern Frühstückskorb untersuchten?«
Nur widerstrebend erhob sich Goddard und half den Damen die Vorräte auspacken; doch dann ließen sie alle drei den guten Dingen, mit denen Tante Metoacas ausgezeichneter Koch sie versorgt hatte, volle Gerechtigkeit widerfahren, und das Frühstück zog sich hin, bis der Zug die Eisenbahnbrücke erreichte, die den Potomac an der Vereinigungsstelle mit dem Shenandoahflusse überspannte.
Als der Zug an dem Bahnhof von Harpers Fähre hielt, wurde ihr Wagen von einem Trupp Soldaten umringt; ein Infanterieleutnant sprang auf die vordere Plattform und redete mit dem Schaffner.
»Dort ist die Gesellschaft,« sagte hierauf der letztere und deutete durch die offene Tür auf Tante Metoaca und Nelly; der Offizier trat in den Wagen und fragte, während er seine Mütze berührte:
»Sind Sie Fräulein Newton und Nichte aus Washington?«
»Jawohl, mein Herr, und was wünschen Sie?« entgegnete Tante Metoaca.
»Ich habe Befehl, Sie beide in Harpers Fähre zurückzuhalten; bitte, folgen Sie mir,« und hiermit wandte er sich, um den Wagen zu verlassen.
»Auf wessen Befehl und warum?« fragte Goddard jetzt hitzig und trat schützend vor die beiden erschrockenen Damen.
»Sind Sie Herr Major Goddard?«
»Der bin ich.«
»General Stevenson ist von Washington telegraphisch angewiesen worden, diese Damen bei ihrer Ankunft festzuhalten – mehr weiß ich nicht, Herr Major,« versetzte der junge Mann höflich.
»Und wie lange wird das dauern?« fragte jetzt Nelly, die sich langsam von ihrer Ueberraschung erholte.
»Bis weitere Befehle eintreffen, gnädiges Fräulein.«
»Nun, ich habe nicht die leiseste Absicht hier zu bleiben,« verkündigte Tante Metoaca mit wachsender Entrüstung; »wir haben Pässe vom Präsidenten bis Winchester.« Sie setzte sich bequem zurecht. »Nun, junger Mann, Sie werden mich schon heraustragen müssen, denn ich gedenke sitzen zu bleiben, bis ich meinen Bestimmungsort erreicht habe.«
Doch der Leutnant zeigte sich der Sachlage gewachsen. »Vorwärts, Schaffner,« befahl er, »sorgen Sie dafür, daß dieser Wagen auf ein Nebengleis geschoben und abgehängt wird. Führen Sie die übrigen Reisenden in den nächsten Wagen.«
»Bitte, warten Sie noch,« sagte jetzt das junge Mädchen, »ich glaube bestimmt, daß sich alles aufklären wird, darum laß uns ruhig mit diesem Herrn gehen, liebe Tante, und dieses Ungemach mit Würde tragen.«
Doch Tante Metoaca wollte lange nichts davon hören; erst als Nelly ihr leise etwas ins Ohr flüsterte, hellte sich das Gesicht der alten Dame auf, und sie erklärte dem erstaunten Offizier ganz freundlich ihre Bereitwilligkeit mitzugehen. Sie verließen den Zug, und dieser donnerte mit Getöse aus dem Bahnhof; hierauf führte der Leutnant die beiden Damen, gefolgt von Goddard und von Soldaten umgeben, nach dem Wartezimmer. Es wurde ihnen nun bedeutet, daß sie bis zur Ankunft eines Offiziers, den man mit einem Extrazuge aus Washington erwartete, hier unter Bewachung zu bleiben hätten, um alsdann verhört zu werden.
»Wissen Sie den Namen dieses Offiziers?« fragte Goddard.
»Es ist Herr Hauptmann Lloyd von der Geheimen Staatspolizei.«
Goddard wollte sich den Damen anschließen, wurde aber von dem Leutnant daran verhindert. »Bitte, kommen Sie mit mir, Herr Major, ich habe Befehl, keinerlei Verkehr zwischen Ihnen zu gestatten.«
Goddard stand wie angewurzelt und starrte den sichtlich verlegenen jungen Mann an. Der stille Reisende, der sich bis dahin sorgfältig im Hintergrunde gehalten hatte, war den beiden Männern gefolgt, begierig, etwas von ihrer Unterredung zu hören, und stieß jetzt heftig mit Goddard zusammen. Dieser packte ihn beim Kragen. »Zum Kuckuck!« rief er aus, seiner Wut freien Lauf lassend, »Sie – Symonds,« – er gab den Mann frei, als er ihn erkannte – »was führt Sie denn hierher?«
»Befehl von Herrn Hauptmann Lloyd, Herr Major,« antwortete Symonds mit respektvollem Gruße.