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Alle starrten in bestürztem Schweigen auf den Mann, der so Schreckliches und Unerwartetes verkündete. Stanton faßte sich zuerst.
»Tot!« donnerte er, »wer ermordete ihn?«
»Ich weiß es nicht!«
»Wie kam er denn ums Leben?«
»Auch das weiß ich nicht, Herr Staatssekretär,« wiederholte Symonds dumpf.
»Ist er erschossen oder erstochen worden?«
»Keines von beiden.«
»Dann zum Kuckuck, woran starb er denn?«
Symonds fuhr mit zitternder Hand über sein bleiches Gesicht. »Er lag auf seinem Bett – tot.«
»War er krank?« fragte Lincoln.
»Nicht daß ich wüßte, Herr Präsident. Er schien heute nachmittag wohl und munter zu sein, war aber erschöpft von den ausgestandenen Strapazen. Er sagte mir, er wolle sich ausruhen, und beauftragte mich mit den Vorbereitungen für die Verhaftung dieser Dame.«
»Setzen Sie sich, Symonds,« befahl der Präsident, »und erzählen Sie uns alles, was Sie wissen.«
Symonds gehorchte und wandte sich, noch immer ganz verstört, an Lincoln.
»Nachdem ich dem Herrn Oberst Baker Bericht erstattet hatte, gingen wir hierher, und nach Rücksprache mit dem Herrn Staatssekretär befahl mir der Herr Oberst, Hauptmann Lloyd hierher zu bringen. Als ich die Pension von Frau Lane erreicht hatte, ging ich gleich nach seinem Wohnzimmer, klopfte und klopfte, erhielt aber keine Antwort. Da er vorher geäußert hatte, er würde wohl sehr fest schlafen, dachte ich, ich müßte ihn wecken und versuchte die Tür zu öffnen. Der Drücker gab nach, und ich trat ein. Das Zimmer war dunkel, und das Mondlicht schien durch das Vorderfenster. Die Tür nach dem Schlafzimmer stand offen, und vom Wohnzimmer aus rief ich ihn beim Namen. Da ich wiederum keine Antwort erhielt, trat ich in das stockfinstere Schlafzimmer. Ich stolperte und fiel über einen Körper.«
»Aber Sie erwähnten doch eben, daß Sie ihn tot im Bette fanden?« unterbrach ihn Stanton.
»Jawohl, Herr Staatssekretär.«
»Warum sagen Sie dann, Sie wären über einen Körper gefallen?«
»Es war nicht sein Körper.«
»Weiter, weiter!« drängte Stanton ungeduldig, denn Symonds stockte und drehte unruhig seine Mütze zwischen den Händen. Der Präsident blickte gespannt auf Nelly, die mit angehaltenem Atem der langsamen Rede Symonds lauschte.
»Ich stand erschrocken wieder auf, brannte ein Streichholz an, und nachdem ich einen Gasbrenner angezündet hatte, erkannte ich den Mann am Boden – es war Herr Major Goddard.«
Ein leiser Schreckenslaut entschlüpfte Nellys Lippen – sie schwankte auf ihrem Suhl. Mit grimmiger Befriedigung nahm Stanton ihre Erschütterung wahr. Er hatte ihren verwundbarsten Punkt entdeckt.
»Er war nicht ,... Symonds, sagen Sie nicht, daß er –« Sie hob ihre Hände, wie um etwas Entsetzliches von sich abzuwehren.
»Nein, nein, Fräulein – er war nur durch einen Schlag auf den Kopf betäubt,« sagte Symonds mit ungewöhnlicher Schnelligkeit, betroffen über ihr Aussehen.
Nelly verbarg ihr Gesicht in den Händen – dann kam ihr zum Bewußtsein, daß die vier Männer jede ihrer Bewegungen verfolgten, und sie richtete sich auf, um sich ihnen mit wiedererlangter Selbstbeherrschung zuzuwenden.
»Weiter, Symonds!« rief Stanton aus.
»Ich sah zu meiner Verwunderung, daß der Hauptmann ruhig schlief – wenigstens dachte ich es zunächst, ging an sein Bett und schüttelte ihn tüchtig, denn ich war so aufgeregt über den Anblick des Majors, daß ich nicht das geringste argwöhnte. Bei meinen Bemühungen, ihn aufzuwecken, hatte ich ihn etwas aufgerichtet, als er zu meinem unaussprechlichen Entsetzen schwer zurückfiel und meine Hand zufällig sein kaltes Gesicht berührte. Rasch öffnete ich sein Hemd und horchte nach seinem Herzen. Aber ich vernahm keinen Herzschlag und fühlte auch keinen Puls, als ich sein Handgelenk umspannte. Es dauerte einige Minuten, bis ich mich gefaßt hatte, rief dann die Wirtin, Frau Lane, herbei und sie schickte sofort jemanden zum Generalprofoß. Nach seiner Ankunft ließ ich die Zimmer in seiner Obhut und eilte hierher, um Bericht zu erstatten.«
»Schickten Sie zum Arzt, Symonds?« fragte Lincoln.
»Jawohl, Herr Präsident. Dr. Ward kam sofort und erklärte, daß der Hauptmann Lloyd augenscheinlich seit mehreren Stunden tot war und der Major infolge eines Schlages auf den Kopf besinnungslos wäre.«
»Und forschte er nach der Todesursache?« erkundigte sich Stanton.
»Nein, Herr Staatssekretär. Er sagte, da wäre keine Hilfe mehr möglich, und der Major bedürfe dringend der Aufmerksamkeit. Er verband also sofort die Wunde des Majors, und wir beide legten ihn hierauf, noch immer bewußtlos, auf das andere Bett. Er hatte sehr viel Blut verloren, und der Arzt meinte, es könnten Stunden vergehen, ehe er wieder zu sich käme – ich glaube, er befürchtete eine Gehirnerschütterung,« fügte er nachdenklich hinzu.
Ein leiser Seufzer kam von Nellys Lippen; doch nur der Präsident bemerkte ihre Bewegung, die andern, ganz in Anspruch genommen von Symonds Erzählung, hatten ihre Gegenwart vergessen.
»Der Generalprofoß ließ eine Wache vor dem Hause aufstellen und erklärte sämtliche Bewohner für vorläufig verhaftet, solange die Untersuchung noch schwebte.«
»Er tat sehr recht daran,« war Stantons kurzes Urteil. »Diese Sache ist sehr rätselhaft; trug das Zimmer Spuren eines Kampfes?«
»Nein, Herr Staatssekretär. Major Goddards Kopf lag in einer Blutlache, aber sonst war nicht einmal ein Suhl verrückt. Hauptmann Lloyd lag wie schlafend, mit einer Steppdecke zugedeckt, im Bett.«
»Sonderbar!« murmelte Stanton und sah nach dem Präsidenten hin, der unter gesenkten Lidern alle Vorgänge scharf beobachtete, ohne jedoch eine Bemerkung zu machen. Auch Warren schwieg, und so fuhr Stanton lebhafter fort:
»Der Major wird gewiß Aufklärung darüber geben können, was vor Lloyds Tode in dem Zimmer vorfiel und wer sein Angreifer war, sobald er erst wieder bei Bewußtsein ist. Wir haben heute abend eine dringendere Angelegenheit zu erledigen.« Er machte eine Handbewegung nach Nelly hin. »Zeigte Ihnen Hauptmann Lloyd nicht eine Depesche in Geheimschrift, geschrieben von dieser jungen Dame?«
»Ja, Herr Staatssekretär,« gab Symonds zu, »er zeigte mir ein solches Papier.«
»Dachten Sie nicht daran, Symonds, sich dieses Schriftstückes zu bemächtigen, ehe es in andere Hände fiel?«
»Gewiß dachte ich daran.«
»Gut, dann geben Sie es mir,« und Stanton streckte rasch seine Hand aus.
»Ich – ich – kann das nicht, Herr Staatssekretär,« stotterte der Beamte. »Ich durchsuchte die ganzen Habseligkeiten des Hauptmanns, ehe der Generalprofoß eintraf, doch die Brieftasche, in welcher sich jene Depesche befand, war verschwunden.«
Stantons Gesicht verfinsterte sich, und er drehte sich zu Nelly herum: »Wo ist jenes Papier?« fragte er barsch.
»Wie sollte ich das wissen?«
»Genug Zeit habe ich an Sie verschwendet,« fuhr er sie heftig an. »Baker, bringen Sie Fräulein Newton nach dem Alten Kapitolgefängnis und halten Sie sie in strenger Haft!«
»Halt!« Der Senator erhob sich. »Entschuldigen Sie, Herr Staatssekretär, aber bis jetzt haben Sie noch keinen Beweis für Ihre Anklage gegen Fräulein Newton vorgebracht, und ich verlange deshalb ihre augenblickliche Freilassung.«
»Es ist mir unmöglich, Ihrer Forderung zu willfahren. Die Dame ist zu gefährlich, um sich selbst überlassen zu bleiben. Sie wird Gelegenheit haben, vor einem Kriegsgericht ihre Unschuld betreffs der gegen sie schwebenden Anklagen zu beweisen.«
»Anklagen?« sagte Nelly in fragendem Tone, während sie auf ein Zeichen Bakers ihren Umhang aufnahm. »Anklagen sagen Sie, Herr Staatssekretär? Ihre Drohungen vermehren sich mit Blitzesschnelle!«
»Jawohl, mein Fräulein; Anklage wegen Spionage, und im Zusammenhang damit die Beschuldigung, den Tod des Hauptmann Lloyd veranlaßt zu haben, und ebenso den Diebstahl jenes Schriftstückes, das Ihre Schuld beweist.«
»Das ist ungeheuerlich!« rief Nelly ungestüm. »Nach Symonds eigenen Worten starb Hauptmann Lloyd ruhig in seinem Bett. Was das Papier anbelangt, so weiß ich nichts darüber. Es ist wohl nichts weiter als ein Produkt der erhitzten Phantasie dieses Mannes da. Sie haben nur sein Wort gegen das meine, daß es überhaupt vorhanden ist.«
»Ganz recht, mein Fräulein; aber ich ziehe es vor, auf sein Wort zu vertrauen.«
Nellys Blut kochte bei seinem Tone, und sie preßte die Hände zusammen. »Herr Präsident, im Namen der Gerechtigkeit, schützen Sie mich!« wandte sie sich flehend an Lincoln.
Dieser erhob sich schwerfällig. »Da ist noch so manches aufzuklären, Fräulein Nelly, und ich halte den Standpunkt von Staatssekretär Stanton für richtig,« gab er sichtlich widerstrebend zu – wie gern hätte er anders gesprochen! »Ich kann mich hier nicht hineinmischen.« Als er aber sah, daß das junge Mädchen erbleichte und sich auf die Lippen biß, um deren Zittern zu verbergen, trat ein zärtlicher Ausdruck in sein sorgenvolles, unschönes Gesicht. »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie ein gerechtes und unparteiisches Urteil haben sollen. Warren, begleiten Sie Baker und sehen Sie zu, ob Sie etwas für die Erleichterung von Fräulein Nellys Lage tun können.«
»Ich danke Ihnen, Herr Präsident,« hauchte Nelly; aber Lincoln hatte sich herumgedreht und bemerkte weder ihre halbausgestreckte Hand noch hörte er ihre stockende Stimme. Sie ließ ihre Hand sinken, und während sie ein Aufschluchzen mühsam unterdrückte, folgte sie dem Senator und Baker aus dem Zimmer.
Was nun folgte, erschien Nelly wie ein wüster Traum: die Fahrt nach dem Bureau des Generalprofoß, seine Fragen, das Kreuzverhör, das Unterzeichnen von Papieren, wie ein fürchterlicher Alpdruck, von dem sie bald erwachen mußte. Von dort aus wurde die Fahrt fortgesetzt, und der rasche Hufschlag der Pferde hielt Takt mit dem Hämmern ihres Herzens.
»Wir sind angelangt, Nelly.« Warren berührte ihre Schulter, als sie vor dem Gefängnis hielten. Baker sprang heraus und rief einen Soldaten an, der vor dem Tore stand. Langsamer folgte ihm Nelly; sie sah einen Augenblick zu den funkelnden Sternen auf und sog die kalte, frische Luft ein, die ihr die heißen Wangen kühlte.
»Kommen Sie!« Nelly schauderte unwillkürlich, als Baker sie fest am Arm packte; sie betraten eine weite Halle.
Eine Anzahl Soldaten lag müßig auf den Bänken umher, welche zu beiden Seiten an den Wänden standen. Als sie Baker erkannten, erhoben sie sich und nahmen Stellung.
»Bitte, diesen Weg, Herr Oberst,« sagte der Unteroffizier der Wache und schritt ihnen voran, die Halle entlang nach dem Zimmer des Gefängnisinspektors Wood. Apathisch beantwortete Nelly alle Fragen, die dieser an sie stellte.
»Zelle Nr. 10, zweiter Stock, Frauen-Abteilung,« sagte er zu einer Ordonnanz, als er das Protokoll schloß und seine Papiere fortlegte; »sorgen Sie sofort für frisches Bettzeug.«
Der Soldat salutierte und eilte aus dem Zimmer.
»Und nun, Fräulein Newton, folgen Sie mir.« Wood geleitete sie in ein kleineres Zimmer, in welchem eine dicke alte Frau und zwei farbige Gehilfinnen wartend standen. »Man wird Sie untersuchen – benachrichtigen Sie mich, sobald Sie fertig sind,« und er schlug die Tür hinter sich zu.
Nelly ließ alles ruhig über sich ergehen, ihre Gedanken waren weitab. Bald wurde ihr erlaubt, ihre Kleider wieder anzulegen, und die alte Frau führte sie in die Halle, wo der Senator und Baker ihrer harrten.
»Ich habe zu Ihrer Tante wegen der nötigen Kleidung für Sie geschickt, Nelly, und der Herr Inspektor hat mir zugesichert, sie würde Ihnen sofort noch der Rückkehr des Boten ausgehändigt werden.«
»Nachdem diese ebenfalls durchsucht worden ist,« warf Wood mürrisch ein. »Sie kommen in das sogenannte Carrolgefängnis, wo die Frauen gefangen gehalten werden.« Er zeigte auf eine schmutzige Treppe, und Nelly schritt diese müde empor, während der Unteroffizier voran ging und sie einen langen Gang entlang führte, in dessen Mitte er vor einer offenen Tür stehen blieb und ihr bedeutete, einzutreten.
»Hier bin ich leider gezwungen, Sie zu verlassen,« sagte der Senator vortretend, und als er den gehetzten Ausdruck in Nellys traurigen Augen wahrnahm, fügte er mitleidig hinzu: »Sorgen Sie sich nicht, liebes Kind, und bleiben Sie tapfer. Ihrer Tante und mir wird es schon gelingen, Sie zu befreien.«
Nelly wandte sich um und umarmte ihn bewegt: »Sie lieber, treuer Freund,« murmelte sie gebrochen.
»Na, na.« Die Augen wurden ihm feucht, und er strich über ihr weiches Haar. Er mußte an sein eigenes Töchterchen denken, das sorgfältig zu Hause von einer wachsamen Mutter behütet war.
»Herr Senator –« Nellys Stimme war so leise, daß er kaum ihre zögernden Worte vernahm – »nicht wahr – Sie schicken mir auf jeden Fall morgen Nachricht über ,...«
»Ueber was, Kind?«
»Ueber Herrn Major Goddards Befinden; ich – ich – muß es wissen –« Tapfer und ohne Scheu blickte sie ihn an, und seine klugen Augen wurden feucht, als er die Geschichte ihrer heimlichen Liebe in ihrem errötenden Antlitz las.
Noch eine Sekunde und die Tür schlug zu – der Riegel wurde vorgeschoben, und Nelly starrte bei dem Licht einer halb abgebrannten Kerze mit großen Augen auf ihre neue Umgebung.
Die Zelle war klein und unsagbar schmutzig; eine hölzerne Bettstelle mit einer Strohmatratze stand in der am weitesten vom Fenster gelegenen Ecke, ein wackeliger Waschtisch mit einer Blechschlüssel nahm eine andere Ecke ein, und ein Holzstuhl ohne Lehne befand sich in der Mitte des Raumes. Während sie noch ihre Einrichtung musterte, wurde die Tür geöffnet, und ein Bündel mit Kleidern wurde ohne viel Umstände hineingeworfen; sie wartete, bis die Tür wieder verschlossen wurde, und nahm dann ihre Sachen vom Boden auf. Sie waren arg zerknittert durch die Untersuchung; an der Wand befanden sich einige Nägel, an die sie Nelly aufhing. Dann trat sie ans Fenster.
Ihre Zelle ging auf einen Hof hinaus, der von den Flügeln des Gebäudes gebildet wurde. Ein hoher Wallgang, breit genug, daß zwei Menschen aneinander vorbeigehen konnten, befand sich neben der Umfassungsmauer des Gefängnisses, und sie konnte das Glitzern des Mondlichtes auf den glänzenden Bajonetten der Schildwachen erkennen. Ihr Fenster besaß keinen Vorhang, und der Schmutz auf den Fensterscheiben war ihr einziger Schutz gegen spähende Augen. So blies sie das Licht aus, ehe sie sich niederlegte. Lange aber noch horchte sie auf das unaufhörliche Kommen und Gehen der Wache auf den Korridoren, bis plötzlich ein Ablösungsruf von draußen die Stille unterbrach:
»Posten Nummer 1! Zwei Uhr!«
Als der Ruf von Posten zu Posten weitergegeben wurde, verbarg Nelly ihr Gesicht in der harten Matratze:
»Bob, Bob,« stöhnte sie, »was für ein böses Schicksal führte Dich in jenes Zimmer!«