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Die Befürchtungen Dr. Wards waren nur zu begründet; bei Goddard brach eine Gehirnentzündung aus, und tagelang schwebte er in Lebensgefahr. Eine erfahrene Pflegerin trat an Stelle der jungen Schwester, und auf Dr. Wards Veranlassung wurde an Goddards Tür eine Wache aufgestellt, die jedermann den Eintritt verweigerte. Angstvolle Tage folgten – und ein jeder schien ihn dem Grabe näher zu bringen.
Ward beugte sich über den Kranken und betrachtete besorgt dessen blasses Gesicht – er wartete auf die Krisis; müde von der langen Nachtwache erhob er sich und streckte seine steifen Glieder.
»Haben Sie etwas Neues über das Verfahren gegen Fräulein Newton gehört?« fragte Schwester Angelika leise.
»Nein, nur daß die Verhandlung vertagt ist.«
»Ich kann nicht an ihre Schuld glauben – wie oft habe ich sie gesehen, wenn sie in den Hospitälern den kranken Soldaten vorlas und den Genesenden Gaben brachte, und dabei habe ich sie bei mancher guten und großmütigen Tat beobachtet – sie kann unmöglich solchen überlegten und kaltblütigen Mord begangen haben.«
»Der Richter Holt fragte mich heute ,...«
Ein Laut vom Bette her unterbrach des Doktors Geflüster und er eilte zu seinem Patienten.
Goddard starrte mit seinen blinden Augen zur Decke empor. »Nelly!« hauchte er, »Nelly!«
»Immer ruft er sie bei Namen,« sagte mitleidig die Schwester, »armer Junge – armes Mädchen!«
»Gott helfe ihnen beiden,« fügte leise der Arzt hinzu, »er hier auf dem Krankenbett und sie im Gefängnis.«
»Nelly!« Goddards schwache Stimme schien lauter zu werden, »weine nicht, Liebste – ich komme.« Ein Lächeln erhellte seine Züge, er drehte sich auf die Seite, schloß die Augen, und mit dem Seufzer eines müden Kindes fiel er in Schlaf.
Wards Hand fühlte nach seinem Puls, berührte die weiße Wange – die Haut war kühl und feucht. Mit freudeglänzenden Augen wandte er sich an die Schwester: »Das Fieber ist vorüber – endlich ist sein Schlaf natürlich.«
Mit einem innigen »Gott sei Dank!« ging die Schwester ans Fenster und ließ das Tageslicht in das Krankenzimmer strömen. – –
Bleiern schlichen die Tage für Nelly dahin – die Ungewißheit und die strenge Haft machten sie zu einem Schatten ihres früheren Selbst; nur der größte Hunger zwang sie dazu, die wenig einladenden, nur halb gekochten Speisen, die ihr von einer schlampigen Negerin gebracht wurden, und das saure Brot zu berühren. Ab und zu gab der Inspektor ihr Nachricht von Goddards Befinden, aber das war auch alles, was sie von der Außenweit vernahm. Der Negerin, welche ihr Zimmer aufräumte, war es verboten, mit ihr zu sprechen, und manchmal hatte Nelly ein geradezu schmerzliches Verlangen nach dem Klange einer befreundeten Stimme; meistens stand sie am Fenster und sah mit sehnsüchtigen Augen nach den anderen Gefangenen hin, denen es erlaubt war, unter Bewachung in den Hof zu gehen. Das Schrecklichste aber waren die Ratten, die sie in den langen schlaflosen Nächten geräuschvoll auf dem nackten Fußboden hin- und herhuschen hörte; angstvoll lag sie wach, immer in der Furcht, eines der widerlichen Tiere könnte über sie hinweglaufen.
Ihrer Tante und Warren dagegen vergingen die Tage nur zu rasch – so viel sie auch suchten, wollte es ihnen doch nicht gelingen, irgend etwas zugunsten Nellys herauszufinden oder einen anderen Schuldigen für das Verbrechen zu entdecken, dessen sie angeklagt war. Stanton blieb taub gegen alle Bitten, ihre Haft zu erleichtern und ihrer Tante zu erlauben, sie zu besuchen. Fräulein Metoaca ließ sich aber durch diese Abweisungen nicht abschrecken und setzte unverdrossen ihre Bemühungen fort, Nelly zu befreien. Sie nahm keinen Anteil an dem Jubel der Stadt über den Fall von Richmond – sie war viel zu bekümmert über das drohende Schicksal ihrer Nichte.
Am Nachmittag des achten April entledigte sie sich in ihrem Zimmer ziemlich niedergeschlagen ihres Umhanges – sie hatte soeben Doktor Ward besucht, und dieser hatte ihr höflich aber fest ihre Bitte abgeschlagen, mit Goddard sprechen zu dürfen. Jetzt meldete ihr Jonas den Besuch von Frau Arnold und Frau Bennett, die sie hätten ins Haus gehen sehen, so daß er sie nicht hätte abweisen können. Fräulein Metoaca dachte einen Augenblick nach; sie kannte Nellys verdacht gegen Frau Bennett und hatte deshalb ihre Besuche bisher immer abgewiesen – aber nun war sie bereits im Hause und spähte vielleicht schon überall umher – so entschloß sie sich kurz und begab sich zu den beiden Damen in den Salon.
»Mein liebes Fräulein Metoaca,« begann Frau Arnold hochtrabend, doch der Ausdruck in den geröteten Augen der alten Dame ging ihr zu Herzen, und sie umarmte sie bewegt ohne ein weiteres Wort.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, herzukommen,« sagte Fräulein Metoaca gerührt, »ich war gerade sehr niedergeschlagen.«
»Kein Wunder,« warf Frau Bennett ein und führte ein duftendes Taschentuch an ihre Augen. »Sie können unserer tiefsten Teilnahme gewiß sein.«
»Du Krokodil,« dachte das Fräulein; laut sagte sie: »Es ist zu grausam – niemals hat Nelly dies Verbrechen begangen.«
Die beiden Damen wechselten zweifelnde Blicke.
»Dürfen Sie Ihre Nichte besuchen?« fragte Frau Bennett.
»Nein; ich bin auch überzeugt, daß sie weder die Kleider noch die Lebensmittel, die ich ihr schickte, erhalten hat.«
»Haben Sie sich nicht an den Präsidenten gewandt? Er ist doch sonst sehr zu Begnadigungen geneigt.«
»Diesmal scheint er es nicht zu sein,« war die trockene Antwort. »ich habe den armen Mann fast zu Tode gequält, aber er bleibt dabei, daß eine öffentliche Verhandlung das Beste für Nelly sei und daß sie am raschesten zur Entdeckung des Mörders führen würde.«
»Arbeitet Sam jetzt für Sie?« erkundigte sich Frau Arnold nach einer kleinen Pause.
»Sam?« wiederholte Fräulein Metoaca mit vor Ueberraschung erhobener Stimme.
Da sie sah, daß Frau Arnold über den sichtbaren Eindruck, den ihre unschuldige Frage auf das alte Fräulein machte, bestürzt schien, antwortete Frau Bennett an ihrer Stelle: »Mein Mann und ich beobachteten Nelly, wie sie sich mit dem Neger Sam unterhielt – es war ungefähr um sechs Uhr an jenem Nachmittage, als Hauptmann Loyd ,... starb.«
Die blauen Augen Fräulein Newtons begegneten offen dem forschenden Blicke der andern – sie verrieten nichts. »Nelly erzählte uns dann, daß Sam, den ich oft beschäftigt habe, gern eine Stelle in einem Privathause annehmen möchte ,...«
»Und da ich noch einen Diener brauche,« unterbrach sie hier Frau Arnold, »so kam ich her, um mich nach Sam zu erkundigen.«
»Wie schade,« rief Fräulein Metoaca, sich zusammennehmend, »hätte ich das nur eher gewußt, meine Liebe – Sam wandte sich an mich, und da meine Cousine, Frau Hillen in Baltimore, jemanden suchte, so habe ich ihn dorthin geschickt.« Hinter ihren ruhigen Worten verbarg sich jedoch ein ängstlich pochendes Herz – was wußte Frau Bennett über Sam, und woher konnte sie etwas erfahren haben?
»Mein Gott – was ist denn das?« Frau Bennett fuhr erschrocken aus ihrer gewohnten Ruhe auf, als ein langgezogenes Geheul aus dem Hause drang.
»Das ist Misery – das arme Tier grämt sich so sehr wegen Nelly; Jonas hat ihn wohl vergessen und ihn im Wohnzimmer eingeschlossen.« Sie wollte sich erheben.
»Bitte, bleiben Sie nur, ich will selber gehen und Misery befreien.« Und ehe das alte Fräulein sie daran hindern konnte, war Frau Bennett aus dem Zimmer geeilt.
»Da ist ja Senator Warren,« bemerkte Frau Arnold jetzt, als sie ihn durch das Fenster die Stufen heraufkommen sah, und Fräulein Metoaca, alles andere vergessend, ging ihm eilends entgegen, von Frau Arnold gefolgt.
Draußen erklangen jetzt schrille Schreie: »Extrablatt! Extrablatt!« und Warren rief einen der Knaben heran; die beiden Damen lasen über seine Schulter fort die überwältigende Nachricht:
Aufregende Neuigkeiten von der Front!
Lee überwältigt!
Grant vernichtet ihn im Osten!!
Sheridan im Westen!!!
Warren nahm ergriffen feinen Hut ab: »Das Ende ist nahe! Gott sei Lob und Preis!«
»Auch ich danke Gott, daß dieser grausame Krieg ein Ende nimmt!« preßte Fräulein Metoaca hervor, »lassen Sie uns hineingehen.« Und sie führte ihre Besucher in die Halle, wo Warren sie zurückhielt.
»Ich kam nur her, um Ihnen mitzuteilen, daß die militärische Gerichtskommission am zehnten, also übermorgen, zusammentritt, um gegen Nelly zu verhandeln.«
Die alte Dame tat einen tiefen Atemzug. »Alles ist besser als diese Ungewißheit!«
Warren nickte verständnisvoll. »Morgen werde ich Nelly sehen. Erlaubte Ihnen heute ward, mit Goddard zu sprechen?«
»Nein.«
»Seltsam!« rief Frau Bennett aus, die sich inzwischen wieder zu ihnen gesellt hatte, »ich habe gehört, daß der Major fast ganz wieder hergestellt ist, und finde, daß Doktor Ward etwas eigentümlich mit Bezug auf ihn verfährt, indem er niemandem erlaubt, sein Zimmer zu betreten. Auch andere denken so – Oberst Baker ist zum Beispiel überzeugt, daß Goddard, als er das letztemal mit ihm sprach, wieder sehen konnte.«
»Wäre das möglich?« Der Senator sah ungläubig drein; »ich werde mich jedenfalls erkundigen. Guten Abend, meine Damen, ich muß fort.«
Auch die beiden Besucherinnen verabschiedeten sich nun mit herzlichen Worten und wurden von dem Fräulein mit einem Lächeln entlassen – doch kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, so verschwand dieses wieder, und sie sah traurig und erschöpft aus. In tiefe Gedanken versunken, trat sie an ihren Schreibtisch, der sich in einem an das Eßzimmer anstoßenden Zimmer befand, um einige Zeilen an ihre Cousine, Frau Hillen, zu schreiben.
Einem oberflächlichen Auge mochte es scheinen, als ob der Schreibtisch sich in demselben Zustand befand, in dem sie ihn vor zwei Stunden verlassen hatte, aber ihre Ordnungsliebe und ihr scharfes Auge waren der Schrecken ihrer Dienstboten, und so bemerkte sie sofort, daß die Sachen auf dem Schreibtisch von ihrem Platze gerückt worden waren. Sie ließ ihre Feder fallen und öffnete mehrere Schubladen – ein Blick genügte, um ihr zu zeigen, daß deren Inhalt durchwühlt worden war; mit fiebernder Hand durchsuchte sie nun die übrigen – hier schien nichts angerührt worden zu sein. Schon wollte sie erleichtert aufatmen, als ihre Finger auf ein Notizbuch stießen, welches unter Papieren versteckt in der untersten Schublade lag – es war von Nelly für Marktrechnungen und ähnliche Eintragungen benutzt worden. Hastig durchblätterte sie es – fünf Seiten waren herausgerissen! Das Buch fiel unbeachtet auf den Boden, als sie ihr Gesicht in den zitternden Händen verbarg.