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In der Hausflur schon begegnete ihm seine Frau. »Dorel, geh' hinein! Lotte, komm' her!« sagte er.
Und als Dorel in die Hinterstube gegangen war, fragte er seine Frau: »Ist es gewiß, daß sich der Schatten Wilhelm versprochen hat mit des Justizrats Mädel zur Heirat?«
»Keller hat es drin laut erzählt, aber vorgestern hat er gesagt …«
»Was? Was?«
»Es sei nicht wahr.«
»Nicht wahr?«
»Es sei eine Klatscherei und gar nichts dran.«
»Ruf' mir geschwind den Walter her!«
Frau Lotte sah ihn mit dem höchsten Erstaunen an und ging. Es war Mittagszeit; drin wurde wieder der Tisch gedeckt, und Walter kam eben aus dem Hofe.
Sie brachte ihn. »Geh', geh'!« sagte er zu ihr, führte Walter an die Haustür und sprach leise in ihn hinein. Walter schrie laut auf, und mit den Worten: »Ich weiß, wo er jetzt ist«, sprang er fort.
»Gehorcht hast du und doch nichts gehört«, sagte er zur Frau Lotte und führte sie in die Hinterstube. »Gleich wirst du es erfahren«, sagte er im Hineingehen. »Lotte, denk' dir nur! Ich bin über den Doktor hinaus, mein Rezept ist noch besser, sieh' mich nur an – ich fühl's, so nur kann's noch gut werden. Kinder, setzt noch einen Teller hin, es kommt ein Gast.«
»Ein Gast?!« riefen Mutter und Töchter wie aus einem Munde.
»Ja, ein Gast – ich denk', wenn er gut ist, wird er kommen.«
Und nun setzte er sich in seinen Lehnstuhl und nahm sein freundlich blickendes Antlitz in beide Hände, als wollte er nachdenken.
Die Mutter, Lorel und Rosel zogen Dorel heftig zum Fenster, halblaut sie mit Fragen bestürmend. Sie erzählte, tief aufgeregt, alle Vorfälle und Begegnungen. Als Schatten Wilhelm an die Reihe kam, erfolgte ein leiser Aufschrei der Zuhörerinnen, und die Mutter sagte: »Darum hat er mich jetzt gleich so gefragt. Kind, Dorel, da geschieht was außerordentliches – der Vater ist umgewandelt.«
Das war er. Und zwar körperlich wie geistig. Der Atem fand keine Beengung, und dessen inne werdend flüsterte er: »'s ist richtig, richtig! Halt nur aus, verstockter Gesell, wirst du auch? Ja doch, ja doch!«
Völlig klar war wohl sein Geist nicht; es fehlte dem Fleischhauer doch an zusammenhängender Gedankenfolge und an Bildung. Aber die Tugend, welche in ihm erwacht war, die Tugend hat ein fröhliches Gewissen, und so blieb er guten Mutes die Viertelstunde lang, während welcher man harrte, zuletzt in völligem Stillschweigen harrte.
Da riß Hanne, diesmal willkommen, die Tür auf, und am Arme Walters erschien der Schatten Wilhelm.
»Ah!« rief die Frauengesellschaft, und Lamprecht stand auf, ging ihm entgegen, streckte ihm beide Hände zu und sagte mit schwankender Stimme: »Ich bitte Sie um Verzeihung. Wir Fleischer sind halt doch ein blutdürstig Handwerk, das verdirbt uns, und das müssen Sie einrechnen. Können Sie so gut sein, mir ehrlich zu verzeihn?«
»Das kann ich« – sagte Wilhelm mit fester Stimme und schlug ein in die dargebotenen Hände.
Lamprecht schien zu schwanken vor Erregung, aber er sagte dabei: »'s tut gut, 's tut gut. Ich bitte« – er hob beide Arme, und da Wilhelm, gerührt von Lamprechts Wesen, auch die seinen erhob, so gab's eine vollständige Umarmung.
Die ganze Versammlung weinte. Lamprecht auch, aber er wischte sich lächelnd die Tränen ab, und mit einem Tone, welcher fast scherzhaft klang, sagte er: »Übrigens, Herr Baumeister, hätte ich vielleicht ein Geschenk für Sie in Ihr neues Haus, wenn's Ihnen recht wäre, die Dorel da!«
Alle schrien, Dorel aber rief unter Schluchzen: »Das ist ja zu spät! Wilhelm hat sich ja in der Not mit dem Fräulein in der ›Krone‹ draußen versprochen.«
»Wer sagt das?« rief Wilhelm, nein, er schrie es – »das ist ja Unsinn; das ist ja nicht wahr. Nicht im Traume habe ich an jenes Mädchen gedacht. Das ist eine alberne Klatscherei.«
So hatte Dorel in ihrem Leben nicht geschrien vor Freude wie jetzt, und im Nu hing sie an seinem Halse, und ohne Rücksicht auf das zuschauende Publikum küßten sich beide.
»Mein Rezept ist gut in alle Wege«, sagte Lamprecht und lachte, er lachte wirklich und laut, er konnte sich wieder ehrlich freuen. Freuen ist die beste Medizin.
Was wäre nun noch zu sagen. Was stünde dem Glücke noch im Wege. – Doch! – Eines stand noch im Wege: der alte Grimmbart draußen in Gelsendorf.
Er war jedoch gefesselt, gefesselt durch die hohen Prozeßkosten, welche er auch mit Wilhelms Hilfe kaum erschwingen konnte, und der fragliche Ausgang einer neuen Instanz kam dazu – er war gelähmt.
Das benützte der kundige Pfefferküchler Keller, als Grimmbart eines Morgens am Baumgarten vorüberging. Er sprach ihm von der stattlichen Mitgift, welche Dorel Lamprecht seinem Sohne mitbringen werde. Sie sei ausreichend auch für hohe Prozeßkosten. Es war nicht einmal wahr, auch die wohlhabenden Bürger verfügten nicht über ein Barvermögen, welches eine größere Geldsumme abgeworfen hätte, zur Mitgift der Kinder. Aber der alte Schatten glaubte daran und sagte endlich, gedrückt von seiner Lage: »Na, meinetwegen!«
Nun war alles in Ordnung für Aufgebot und Hochzeit. Nein, noch immer nicht. Wofür hätte es einen Wachmeister Kiesel gegeben? Er mußte doch seine ruhmvolle Laufbahn mit irgend einer geistvollen Beschädigung seiner Nebenmenschen schließen.
Er wollte zum Abschlusse seines öffentlichen Waltens sich noch hervortun, und da seine Furcht vor dem wilden Lamprecht durch die Begegnung im Zwinger verscheucht war, so hatte er sich jetzt mit Behagen den Wirtshäusern in der Vorstadt zugewendet, wo der Korn besonders schmackhaft und wo der Verkehr gemeiner Leute besonders geeignet war, Unzukömmlichkeiten und Ausschweifungen zu erregen.
Draußen bei der Mühle auf dem Hügel am Strome gab's ein Einkehrhaus, zur »Quetsche« genannt, wo zuweilen ein unsicherer Handwerksbursch einkehrte und Befremdliches erzählte. Dort hatte er denn auch an einem Abende eine schlimme Entdeckung gemacht. Sie betraf das Haus Lamprecht und den dahin gehörenden Bräutigam, den Schatten Wilhelm.
Am nächsten Morgen verfügte er sich nach dem Lamprechtschen Hause. Es waren etwa acht Tage nach der großen Aussöhnung verflossen, und die kirchlichen Spannungen hatten nachgelassen. Die Evangelischen hatten mäßig triumphiert, weil die Katholischen sagten, es hat aber doch sehr lange gedauert und ist recht zäh hergegangen mit der Wirkung des Primarius, und der Doktor Knopf soll die Hauptperson geworden sein. Aber sie hatten das auch mit einiger Bescheidenheit gesagt – kurz, es herrschte wieder Friede. Man erwartete für nächsten Sonntag das erste Aufgebot.
Da trat der Wachmeister – es war trübes Herbstwetter – in den Lamprechtschen Hausflur und begehrte erschreckend ernsthaft von der Hanne, welche mit dem Kehrbesen hantierte, sie möchte die Frau und die Jungfer Dorel rufen, er habe beiden eine wichtige Anzeige zu machen.
Sie kamen beide verwundert. Er zeigte auf die Tür der Vorderstube; der Hausflur sei nicht geeignet für seine Mitteilung. Alle traten in die Vorderstube und er sprach: »Es schmerzt mich, sagen zu müssen, was ich zu sagen habe, aber es ist unerläßlich, mein Amt gebietet mir, bürgerliches Unglück zu verhüten.«
»Was denn? Was denn?«
»Gestern abend traf ich draußen in der ›Quetsche‹ Ihren früheren Gesellen Traugott, den Meister Lamprecht fortgejagt hat. Er ist in der nächsten Stadt untergekommen als Geselle und hat bis jetzt dort gearbeitet. Jetzt will er weiter. Er trank zwar Schnaps, war aber bei gutem Verstande und sprach zu mir folgendermaßen: ›Hier bei euch geht's ja lustig zu. Der Schatten Wilhelm soll die Dorel heiraten. Das schickt sich schlecht.‹ – ›Wieso?‹ frage ich. – ›Wieso?‹ antwortete er. ›Drüben in der nächsten Stadt, von wo ich komme, ist der junge Herr Schatten ganz kurios verplempert. Dort unterhält er ein Frauenzimmer und hat ein Kind in Kost gegeben bei einer armen Bürgersfrau.‹«
Mutter und Tochter schrien auf.
»›Traugott,‹ sag' ich hierauf, ›könnt Ihr das beweisen?‹ – ›Freilich!‹ sagte er. ›Das Frauenzimmer zwar‹, fährt er fort, ›kenn' ich nicht, aber das Kind und die Bürgersfrau kenn' ich. Ich hab' mir's auf einen Zettel aufschreiben lassen, wo sie wohnen. Den Zettel schenke ich Ihnen, Herr Wachmeister.‹ – Frau Lamprechtin, hier ist der Zettel.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Dorel, obwohl sie ganz blaß geworden.
»Tun Sie mir den Gefallen, Herr Wachmeister,« sprach mit bewegter Stimme die Mutter, »Herrn Schatten Wilhelm aufzusuchen und sogleich hierher zu bescheiden. Ich ließe ihn bitten. Von der Sache selbst aber sagen Sie ihm nichts.«
Der Wachmeister nickte verständnisinnig und ging. Er fand auch glücklich Wilhelm daheim, denn dieser war jetzt Tag für Tag mit Einrichtung des Zimmers für seine Dorel beschäftigt.
Mutter und Tochter warteten stumm. Sie waren sehr betroffen, aber endlich sagte Dorel doch: »Ich hab' ihm einmal unrecht getan, indem ich an seinen Verspruch mit dem Fräulein geglaubt und bin beschämt worden, ich tu's nicht wieder. Warten wir.«
Wilhelm trat wohlgemut ein. Der Wachmeister mußte anstandshalber im Hausflur bleiben. Er rieb sich zufrieden die Hände, denn er fühlte sich wieder einmal amtsmäßig wirksam.
»Sprich du, Dorel!« sagte die Mutter.
»Nein, das kann ich nicht; ich glaub's ja nicht.«
»Also ich; Herr Schatten, haben Sie drüben in der nächsten Stadt Bekanntschaften?«
»Jawohl; jetzt leider weniger.«
»Die Hauptsache: Haben Sie da drüben ein Kind in der Kost?«
»Ja.«
Nun fuhren Mutter und Tochter entsetzt zusammen. Die Mutter gab ihm den Zettel.
Er machte mit der Hand eine beschwichtigende Bewegung und sagte: »Ich will's Ihnen erklären. Während meines längeren Aufenthaltes in Berlin wohnte ich mit einem schon weit vorgerückten Studenten zusammen, welcher Naturwissenschaften, besonders Chirurgie studierte. Er hieß Karl Regel und war ein seelensguter Mensch, für mich ein Freund im besten Sinne des Wortes. Wie freute ich mich, als er mir im vergangenen Frühjahre anzeigte, er habe drüben in der nächsten Stadt eine ärztliche Anstellung gefunden und sich verheiratet. Es ginge ihm sehr gut und ich möchte ihn doch besuchen. Das tat ich denn auch, und als ich ein Pferd brauchte, nahm ich ihn, wie so oft, mit seinem Rate in Anspruch. Er suchte mir auch mein treffliches Tier sorgfältig aus, denn er war sehr kundig in Tierwissenschaft. Neulich jedoch kommt ein eigener Bote von ihm zu mir und überbringt mir ein Billett. Darin stand: ›Wenn du irgend kannst, lieber Wilhelm, so komm' eilig zu mir, ich bedarf deiner Hilfe.‹ Natürlich ritt ich sogleich hinüber, und was fand ich? Er lag im Bette und sagte zu meinem Schrecken: ›Wilhelm, ich hab' kaum noch ein paar Stunden zu leben. An einer alten Leiche hab' ich mich in den Daumen geschnitten und mir das Leichengift tief eingeimpft. Übernimm meine Sorgen. Dort im Nebenzimmer hat meine Frau heute nacht ein Mädchen geboren, und an den Folgen der Entbindung ist sie heute morgen gestorben. Sorge, daß das Kind sogleich eine Amme kriegt, und nimm dich der Waise später an. Du wirst es, denn wir sind Freunde. Hier neben mir im Schreibtische liegt einige Barschaft. Bestreite davon unser Begräbnis‹ – so weit hatte er gesprochen, da wurde er ohnmächtig und – ist nicht wieder zu sich gekommen. Was soll ich weiter sagen? Ich habe beide begraben und habe das Kind untergebracht. Der Zettel, den Sie mir da gereicht, enthält die richtige Adresse.«
Dorel sank an seine Brust und weinte. »Ich hab' nichts geglaubt,« schluchzte sie, »frag' die Mutter!« und sich aufrichtend, setzte sie fast fröhlich hinzu: »Wilhelm, das Mädchen bringst du mir, das ziehen wir auf.«
Aus Enttäuschungen besteht das Leben! dachte wie herkömmlich der Wachmeister, als Frau Lamprechtin die Tür öffnete und ihm zurief: »Wieder einmal, Herr Wachmeister, haben Sie sich garstig geirrt.«
»Wieso?«
Sie erzählte ihm bündig den Zusammenhang, und er ging wehmütig hinweg, vor sich hinsagend mit heldenmäßiger Überwindung: »Du mußt ausscheiden, Carolus Kiesel, denn du hast kein Glück, sondern bist ein Spielball der unterirdischen Mächte, des gemeinen Zufalles. Scheide aus und zieh' dich in den Spittel zurück, die Nachwelt wird dich würdigen.«
Übrigens nahmen die Dinge von nun an ihren regelmäßigen Verlauf. Die Aufgebote fanden statt, und man hatte nichts dagegen, als Rosel rief: »Aber nicht mehr ganz schwarz bei der Hochzeit! Diesmal weiße Halskrausen, und die Mutter eine weiße Haube!«
Die Stimmung war herrlich, und Lamprecht schwamm in ihr. Er trachtete nach lauter Wohltaten, weil ihm dies sehr gut bekam in Sachen des Herzleidens und weil die Ahnung in ihm mächtig blieb: Gut sein bringt Balsam des Himmels. »Was wollt ihr!« rief er, »selbst der boshafte Doktor lächelt, wenn er mir den Puls fühlt.«
Da ereignete sich am Tage der Trauung noch etwas: Hanne riß wieder einmal die Tür auf, und herein flatterte Amélie Stammbach. Dorel, welche neben Wilhelm saß, sprang erschrocken auf, eine neue Szene fürchtend. Die Szene kam auch.
Amélie grüßte nach allen Seiten mit Grazie, und dann schritt sie stracks auf Wilhelm zu. Was geschieht? Sie nimmt ihn flugs beim Kopfe und drückt ihm herzhaft einen Kuß auf die Lippen. Allgemeiner leiser Ausruf des Erstaunens und der Mißbilligung. Dorel ist blutrot geworden.
»Zürnen Sie mir nicht, glückliches Dorel« – spricht Amélie – »ich konnt' nicht anders. Ich habe Ihren Bräutigam immer sehr liebenswürdig gefunden und hab's ihn auch deutlich merken lassen. Er aber hat mir immer den Rücken zugekehrt. Nun verheiratet er sich, nun ist der letzte Augenblick da, ihm doch einmal unsträflich einen Kuß geben zu können. Das ist jetzt geschehen, und mein Herz ist befriedigt. Verzeihen Sie mir die Dreistigkeit, es soll nie wieder geschehen. Ich bitte sogar um noch mehr. Laden Sie mich für morgen zu Ihrer Hochzeit ein! Ich sehe so gern glückliche Menschen, besonders glücklich Liebende. Eifersüchtig bin ich gar nicht, und ich möchte so gern morgen anschauen, wie Herr Wilhelm und Sie und Ihre ganze Familie im Glücke herumschwimmen.«
Was war da zu sagen? Die Familie lachte, Lamprecht zuerst und Dorel am Ende auch.
Kurz, sie saß am nächsten Mittag an der Hochzeitstafel und belebte die Gesellschaft durch ihre lustigen Bemerkungen. Ratsherr Klaus saß neben ihr, und sie gefiel ihm sehr. Seine Frau gegenüber litt. Lamprecht hatte all seine neue Güte in Anspruch genommen, die Hochnase einzuladen. Keller und Frau fehlten natürlich nicht, und ihr Karl trug ein »bescheiden Essen« von Dorel zu Mutter Schönfeldern. Ja, auch die alte Mutter Wilhelms saß da, eine seltsame Erscheinung in veralteter Kleidung, in furchtsamer Haltung, mit ihrem verschwommenen Antlitze. Sie sprach gar nicht. Wenn sie aber angeredet wurde, so erwiderte sie immer dieselben Worte: »Zum ersten Male in meinem Leben erfahre ich, daß man so glücklich sein kann auf dieser Welt, und daß man vor Glück flennen muß.«
Flennen bedeutet Weinen. Der alte Schatten war nicht da. »So was hätte mir gefehlt!« hatte er gesagt. Bruder Christoph jedoch saß neben der Mutter und schalt öfter in sie hinein, wenn sie beim Tellerwechseln Verwirrung anrichtete. Er selbst aß und trank ununterbrochen.
Erst gegen Ende der Tafel kam der Doktor Knopf. Er speiste nie auswärts, weil niemand so kochen und braten könne, wie seine Haushälterin Rosine. Verheiratet war er nie gewesen. Er trat vor Lamprecht hin, sah ihn schweigend an und sprach dann leise: »Bravo! Seid über mein Rezept hinaus. So ist es recht. Liebe allein hält die Welt zusammen, auch einen blutdürstigen Fleischer.«
Und die Liebe hielt Wort: sie wurden alle glücklich. Wilhelm und Dorel, das musterhafteste Ehepaar der Stadt, erlebten nur das Leid, daß Regels kleines Töchterlein frühzeitig starb.
Dafür erschien eines Morgens – es war ein Jahr vergangen – der kleine Doktor beim Lamprecht, streckte ihm sein spanisch Rohr wie einen Spieß entgegen und sprach: »Na, Alter, hab' ich nicht immer gesagt, daß die Natur in jeder Sekunde zeugt und gebiert, und alle entstandenen Lücken ausfüllt, he? Da bring' ich den Beweis. Dorel hat, fast ganz ohne meine Hilfe, heute nacht einen pausbackigen Knaben geboren.«
»Ah?!«
»Ja. Der wird natürlich Gottlob getauft, schon weil er eurem seligen Gottlob ähnlich sieht wie ein Ei dem anderen. Da habt Ihr also Euren Jungen wieder, und mit jedem Jahre wird er Euch in das gesund werdende Herz hineinwachsen, wenn Euer Herz ein liebendes bleibt.«
Frau Lotte erwiderte: »Es bleibt. O, unser August ist so gut geworden!«
Während dieses Jahres hatte auch Rosel einen Mann erwählt, einen sehr hübschen. Er fertigte die elegantesten Stiefel in der Stadt, in erster Linie die des Doktors mit braungelben Stulpen.
Und alle lebten lange. Auch Lamprecht, weil er brav blieb. Der alte Schatten schien gar nicht sterben zu wollen, oder richtiger, nicht zu können. Denn er selbst hatte es satt inmitten der achtziger. Ärgerlich pflegte er zu sagen: »Der Herrgott hat mich am Ende vergessen, und doch – seht mich nur an! – bin ich nichts mehr als Haut und Knochen, und nichts schmeckt mir mehr als die Pfeife, wenn sie einmal Luft hat. Wozu bin ich noch da? Insbesondere, weil der gefräßige Christoph die Johnsdörferin doch nicht gekriegt, sondern die Kuhmagd hat heiraten müssen.«
Dieser ausbleibende Tod erregte ernstliche Zweifel über den herkömmlichen Verlauf jedweden Menschenlebens. Der Wachmeister sagte bei dieser Gelegenheit: »Man kann nicht wissen!«
Offenbar war der Prozeß schuld, daß der Alte so lange lebte, denn er hatte ihn in letzter Instanz gewonnen. Daß er am Ende doch recht behalten, das hatte ihn geradezu verjüngt. Stammbach war mit seinem vergessenen Grunde durchgedrungen, mit dem Grunde: das Königsrecht des Staates ist nur anwendbar auf Metalle unter der Erde, der Eisenstein in Gelsendorf liegt aber auf der Erde.
Der scharfsinnige Justizrat wurde auch anderwärts für seine Erfindung belohnt. Julius, der frühere Referendarius, jetzt Assessor, holte sich die Amélie zur Frau. Er hatte draußen doch keine schönere gefunden.
Der Herr Baron war schon im zweiten Jahre zu allgemeinem Bedauern aus der Stadt verschwunden. Er hatte einen andern kleinen Ort entdeckt, welcher es noch dringender bedurfte, glücklich gemacht zu werden.
Endlich der würdevolle Wachmeister! Auch er lebte als Inspektor des Spittels noch lange, gepflegt von seiner Jette, die immer magerer wurde. Er konnte den Herrn spielen und verstand es glücklicherweise nicht, wenn Dorel über ihn lachte. Mutter Schönfeldern war nämlich auch in den Spittel gekommen, und Dorel brachte ihr zuweilen angenehme Nahrungsmittel. Ihm selbst brachte sie auch eines Tages Kunde über seinen verschwundenen Fritze. Vom Tuchmacher Bitter war ein Sohn nach Amerika geraten, und er hatte einen Brief geschrieben. Darin stand: Auch den durchgegangenen Kiesel Fritze habe ich gestern gesehen. Er heißt jetzt Kieselmann und ist Schwimmeister draußen am Hudsonsstrome. Er soll ein Schwimmkünstler sein, und übrigens ist er auch Agent für den Verkauf schwarzer Sklaven.
»Agent!« – schrie Vater Kiesel – »Agent! Da hörst du's, Jette, was ich immer gesagt. Hinaus muß das Genie kommen, hinaus. In unserer ganzen Stadt führt niemand den stolzen Titel: Agent!«
Sollte man's glauben! Diese kleine Stadt ist heute nach siebzig und einigen Jahren gar nicht wieder zu erkennen. Sie ist um das Dreifache gewachsen im Umfange und an Einwohnern, sie besitzt Klaviere – fast zuviele! – und Billards, ein Möbel, welches damals selbst dem Namen nach unbekannt war; sie hat Fabriken und Handel und Wandel, sogar eine Eisenbahn; sie hat Kutschen und Reitpferde, sie hat eine Buchdruckerei und eine Zeitung, sie hat sogar Spaziergänge, und im Neunundvierziger Jahre soll ein Steuerverweigerer in ihrer Mitte aufgestanden sein. Kurz, sie ist total verändert und eine sehr achtungswerte Stadt geworden. Ja, der Fortschritt! Er hat Siebenmeilenstiefel.
Nur in einem Punkte ist sie unverändert geblieben, zu ihrem Vorteile und zu ihrer Ehre: sie regiert sich immer noch selbst vermittelst Bürgermeister, Rat und Stadtverordneten. Heute noch wie damals rechtschaffen und tüchtig, ein Ruhmespreis für die Städteordnung, welche damals erst ein paar Jahre alt und durch den Freiherrn v. Stein eingeführt worden war.
Ende.
Druck von Hesse & Becker in Leipzig.