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18.

Lamprecht saß da mit offenem Munde, mit weit geöffneten Augen und fragte sich: Hab' ich's verstanden? Ja. Recht verstanden? Doch wohl. Aber kann ich's? Warum nicht! Ist's wahr, wirklich wahr? Wer weiß das?

Je weniger Bildung der Mensch hat, desto mißtrauischer ist er. Lamprecht sagte sich: Erst schicken sie mir den Geistlichen, dann den Doktor, in mich hineinzureden. Ich soll absolut unrecht haben. Ich hab' aber nicht unrecht. Sie haben mir den Jungen ermordet, und dafür soll ich sie leer ausgehen lassen. Das ist – freilich, darin mag der Doktor die Wahrheit sagen, daß ich dabei selber draufgehe.

Dann pausierte er eine Weile mit seinen Gedanken, endlich aber sagte er sich: Sobald man seiner Sache nicht gewiß ist, was tut man? Man probiert. Ich werd' den Doktor probieren.

Wenn es wahr gewesen, was der Doktor in seiner Erklärung gesagt, dann war's die richtige Medizin: Lamprecht wollte es doch einmal versuchen, seine Rachsucht zu unterdrücken und sich sanftere Empfindungen anzueignen.

Mutter und Tochter hatten draußen ängstlich den Doktor gefragt, und er hatte erwidert: »Widersprecht ihm in nichts, zeigt euch in allem sanft und nachgiebig.«

Jetzt traten sie ein, um doch das Mittagessen abzumachen, und die Frau fragte ihn liebevoll: »Nun, August, wie geht's?«

»So, so« – antwortete er – »ich weiß noch nicht. Morgen werd' ich's wissen.«

Lamprecht saß still da und überlegte, in welcher Weise er probieren könnte. Sanfte Gedanken und Empfindungen also sollte er in sich erwecken. Wie denn? Ei, die Familie, welche da am Tische saß, wäre doch wohl die nächste Gelegenheit. Er betrachtete sie der Reihe nach. Bei den beiden Mädchen, bei der Dorel und der Rosel, verweilte sein Blick. »Ja,« sagte er sich, »mit den beiden versuch' es, indem du ihnen Gutes tust. Sag' ihnen, daß du deinen Widerwillen aufgibst gegen ihre Verheiratung. Das wird sie freuen, und ich erfahre dann, ob ihre Freude mir was nützt gegen meine Krankheit. Fang' mit der Dorel an! Die magst du ja doch am liebsten, da wird es dir also am leichtesten. Sie hat auch wirklich was vom Gottlob. Ihre dumme Geschichte mit dem Schatten Wilhelm war auch wohl nur ein Geklatsch. Die Rosel flüsterte ja kürzlich zur Hanne, und ich hört' es: »Der Schatten Wilhelm heiratet die Stammbachsche.« Ja, mit dem Dorel fang' an! Merkwürdig! Mir kommt's vor, als ob ich jetzt schon bei dem bloßen Vorsatze etwas leichter atmete! Wenn der Doktor recht hätte! Grundgescheit ist er.«

Als nun das Essen zu Ende war, rief er Dorel zu sich und sagte leise zu ihr: »Bleib' du bei mir, Kind, und rede mir zum Guten. Wenn ich – zornig auffahre, dann leg' mir die Hand auf den Mund.«

Die anderen hatten's doch gehört und sahen sich verwundert an. Sie wußten nicht, was das bedeutete? Warum gerade Dorel? Und fast in einem Striche hatte er gesprochen! Nicht mehr so arg stockend.

Dorel nickte freundlich, obwohl ihr traurig genug zumute war. Sie hatte nichts davon erfahren, daß Keller gegen Mittag in der Geschwindigkeit und beiläufig zur Mutter gesagt, die Verheiratung Wilhelms mit der Amélie draußen sei nicht wahr. Die Mutter, den Kopf voll Sorgen um ihren Mann, hatte kaum darauf geachtet, und hatte gegen Dorel nichts davon erwähnt. Dorel war also ohne irgend eine Hoffnung auf Lebensglück; aber sie war tapfer, war kindlich und weiblich. Tapfer, indem sie unter den übelsten Umständen kräftig weiterlebte; kindlich, indem sie am Vater hing, obwohl er ihr Lebensglück zerstört hatte, und weiblich, indem sie helfen wollte, wo nur zu helfen wäre.

Es wurde ein sonniger Tag im Spätherbste, dieser Montag. Die Sonne lag breit draußen im Lamprechtschen Hofe, und Dorel, die allein mit dem Vater geblieben, blickte sehnsüchtig da hinaus. Indessen sofort an den Vater denkend, fragte sie, ob sie nicht das von ihm entfernteste Fenster öffnen dürfte. Er nickte. Dann ging sie hinaus und kam bald darauf mit einem großen hölzernen Vogelbauer zurück. Sie stellte ihn auf das Fensterbrett, welches dem Vater zunächst war. Das geschah, weil sie doch auch weiblich schlau war.

»Was bringst du denn da?« fragte der Vater.

»Den Matz, Gottlobs Star.«

»Gottlobs?«

»Ja, den er vom Förster in Wittendorf bekommen, und den er so lieb hatte. Er hat sich noch den letzten Tag viel mit ihm zu tun gemacht.«

»Munter, munter, munter!« – rief der Star.

»Hei! Er spricht?«

»Freilich! Die Zunge ist ihm gelöst, und Gottlob hat ihm die Worte eingelernt.«

»Munter, munter, munter!«

»Munter! sagt der Kerl – wer's sein könnte!«

»Er kann noch mehr. Gottlob hat ihm noch mühsam einen Namen eingelernt für den Schatten Wilhelm.«

»He!« – Und dies He! brachte einen schmerzhaften Ruck in ihm hervor.

Sie legte dem aufbrausenden Vater die Hand auf den Mund und fuhr ruhig fort: »Er hatte dem Schatten Wilhelm den Matz versprochen zum Geburtstage.«

»Illem! Illem! Illem!« rief jetzt der Star.

»Was heißt das?«

»Den Buchstaben W bringt Matz nicht heraus, es soll also –«

»Wilhelm heißen?«

»Ja.«

»Das ist,« sprach er heftig, »das ist von dir, und –« der Atem versagte.

»Nein, 's ist von Gottlob. Gottlob hat dem Star den Namen Wilhelm eingelernt. Der Schatten Wilhelm war ja sein bester Freund.«

»Und hat ihn ins Wasser gelockt!« sagte er nach einer Pause.

»Nein, am Unglückstage hat er's ihm ausdrücklich verboten. Fragen Sie nur den Keller Karl.«

»Wenn er ihn nicht schwimmen gelehrt, und so schlecht gelehrt, dann lebte –«

Dorel hielt ihm eilig den Mund zu und sagte leise: »Gott hat's gewollt, und da wär's auch auf andere Weise geschehn. Außer uns leidet auch kein Mensch so davon wie Schatten Wilhelm. Er hat bitterlich geweint, und aufs Grab draußen hat er ihm eine junge Trauerweide gepflanzt.«

»Wer?«

»Der Schatten Wilhelm.«

»Illem! Illem! Illem!« rief Matz.

Dorel hatte ihr gut Teil daran, daß der Star Illem sagen konnte; das verschwieg sie. Wenn auch der Bräutigam Amélies, für den sie Wilhelm hielt, verloren war für sie – eine Versöhnung hätte ihr doch so wohl getan, und deshalb ging sie herzhaft los auf das Gemüt des Vaters.

Er schwieg jetzt lange. Sie streichelte ihm die Wangen. Er gestand sich, daß sein Atem immer sogleich stockte, wenn er aufbrauste, daß die Sanftmut des Mädchens immer lindernd wirkte, sobald er selbst sich sänftigte. »Vorwärts! Vorwärts!« sagte er zu sich, und er nahm ihre Hand, legte sie auf seine Brust und blickte ihr freundlich in die Augen.

»So gut haben Sie lange nicht ausgesehen, Vater.«

»So gut – es tut mir auch gut. – Der Doktor ist ein Tausendsassa! – Faß mir unter die Arme. Vielleicht geht's. Mir ist, als könnt ich ein wenig in der Stube herumgehen.«

Es ging. Und ans offene Fenster tretend, holte er tief Atem. Auch das gelang.

»Die Sonne! die Sonne! die Luft!«

»Nicht wahr, die tun gut, Vater? Die werden Sie bald heilen, und dann werden wir alle wieder glücklich werden.«

»Du auch? Was fehlt dir zu deinem Glücke?«

»Nichts als Ihre Gesundheit.«

»Gutes Kind!« –

Es wurde ihm immer leichter. Sie führte ihn wirklich einigemal im Zimmer umher und klatschte in die Hände, als er's zuwege brachte.

Und da sagte er: »Deine Freude nützt mir, braves Dorel. Es ist was dran.«

»Woran denn?«

»Morgen, Kind, werd' ich's genauer wissen. Jetzt bin ich müde. Aber nicht garstig müde – nein, angenehm. Führe mich in die Vorderstube – ich will schlafen, lange schlafen – da wird sich alles ausdehnen in mir – ich fühl's.«

Die Mutter kam zu Hilfe, und da sie auch sehr erbaut war über seine Rüstigkeit, so kam er ins Bett unter lauter günstigen Eindrücken.

»Es ist was dran, es ist was dran!« sagte er sich vor dem Einschlafen, und er schlief mit dem festen Vorsatze ein, von jetzt an nur milde, sanfte Vorstellungen in sich zu erregen. »Vielleicht«, flüsterte er, »wird der Traum weiterhelfen.« Und wirklich, der Traum half. Er soll ja auch ein Schattenbild unserer Gedanken und Hoffnungen sein.

Ihm träumte, der Himmel öffne sich über dem großen Ratsturme, und vom Turme herunter schwebe auf einer weißen Wolke sein Gottlob, zwei kleine Flügel an den Schultern. – »Gottlob, wo kommst du her?« – »Aus dem Himmel, Vater. O, dort ist es schön, viel schöner als hier unten in der Stadt. Meine Kameraden sind lauter Engel, und wir spielen den ganzen Tag. Der dickste ist mir der liebste. Der hat mir erzählt, wenn ich nicht so glücklich und leicht ertrunken wäre – denn das ging ganz, ganz schnell und leicht – so wäre ich den nächsten Tag in eine schwere Krankheit verfallen und wäre unter großen Schmerzen langsam gestorben. Die Mordlache hat mir also Glück gebracht. Das wollt' ich dir nur geschwind sagen, denn ich muß rasch zurück in den Himmel. Heute ist großes Kußfest. Da küssen wir uns alle eine ganze Stunde lang, weil wir einander so lieb haben. Das Sichliebhaben ist doch das Allerschönste.«

Da wachte Lamprecht auf, weil die große Glocke auf dem Rathausturme zwölf schlug und der Westwind den Schall in sein Bette wehte. Es war ihm sehr wohl zumute, und »Sichliebhaben« lallend, schlief er bald wieder ein und hatte nun einen geradezu lustigen Traum: Draußen beim Kirchel standen zwei Männer einander gegenüber. Der eine hatte einen schneeweißen Bart, welcher bis auf den Erdboden reichte. Dieser bärtige Mann lachte so, daß ihm der Bauch wackelte, und er sprach zu dem andern: Allerdings bin ich's. Der andere aber war der Wachmeister Kiesel. Dieser zog sein Seitengewehr mühsam aus der Scheide, hielt den verrosteten Sarras in gemessener Entfernung dem Weißbärtigen entgegen und sprach in furchtsamem Tone: Wertvoller Herr Schinderhannes, ich bin beauftragt von Bürgermeister und Rat, Sie zu verhaften. Folgen Sie mir in die Bürgerstube, welche ein sehr anständiges Lokal ist.

Darüber hatte Lamprecht im Traume herzhaft gelacht, und das war ihm äußerst nützlich gewesen, denn als er aufwachte – die Sonne stand schon hoch – fühlte er sich so kräftig, daß er ohne jegliche Hilfe aufstehen, sich selber ankleiden und leidlich fest in die Hinterstube gehen konnte, um dort zu frühstücken.

Leider führten ihn da wieder seine Gedanken irre. Sie sagten ihm: Der gute Schlaf stellt dich also her, nicht das Rezept des groben Doktors.

Die Familie empfing ihn mit Jubel. Ein fast echter Kaffee wurde gebracht, und Mutter Lotte bestrich ihm die graue Semmel mit Butter an einem gemeinen Wochentage.

»Ja,« sagte er, »es wird mir besser, ohne Doktor! Vielleicht kann ich schon hinaus, seht nur, wie schön die Sonne in den Hof scheint so spät im Jahre.«

»Weil der Altweibersommer da ist«, sprach Frau Lotte.

»Auch für alte Männer ist er da, Lotte!« – und er versuchte zu lachen. Es ging auch beinahe.

Da stürzte wieder einmal Hanne herein und verdarb ihm dadurch die gute Laune. In der einen Hand trug sie ein Waschkleid Rosels, in der andern hielt sie einen Brief, und sie trompetete: »Das Kleid Rosels soll in die Wäsche, und in der Tasche steckt der Brief da!«

»Herr Gott!« rief Rosel, »den hab' ich vergessen. Jetzt besinne ich mich. Den hat mir der Wachmeister für den Vater übergeben, und da kam gerade Gottlobs Leiche. Im Schreck darüber mag ich den Brief in die Tasche gesteckt haben, und dann hab' ich mit keiner Silbe mehr daran gedacht, weil ich den Tag darauf ein dunkles Kleid angezogen und später das Trauerkleid bekommen habe.«

»Von dem Kerl, dem Wachmeister, dessen Junge –« sagte Lamprecht mit gerunzelter Stirne.

»Mach' ihn auf und lies ihn vor.«

Frau Lotte sah mit Besorgnis auf ihren Mann, dessen Gesichtszüge sich ganz verändert hatten, aber Rosel las tapfer:

»Laut Übereinkommen zeigt hiermit pflichtschuldig an, daß gestern bei stockfinsterer Nacht Jungfer Dorothea Lamprecht vor dem Brauhause eine Zusammenkunft abgehalten hat mit dem bewußten Baumeister Schatten Wilhelm. Augenzeuge hiervon ist gewesen mein leiblicher ehelicher Sohn Fritz Kiesel. Der Stadtwachmeister Carolus Kiesel.«

Ein grimmiger Schrei Lamprechts verkündete, daß alle Sanftmut und Mäßigung in die Luft geflogen. Er sprang auf und rief stoßweise: »Ein anständiges Bürgermädchen – meine Tochter – in finsterer Nacht mit diesem Mannsbilde – und die Fritzecanaille dabei –«

Der Brustkrampf in arger Macht trat ein, er sank zurück, und seine Frau mußte beispringen, daß er nicht auf die Erde fiel, sondern auf den Stuhl.

Alle Besserung schien vernichtet. Der ehrsame Bürgersinn in bezug auf ein wohlerzogenes Mädchen hatte sich empört, und daß die verhaßten Namen des Schatten Wilhelm und des Kiesel Fritze dabei mitspielten, hatte die alte Wut entfesselt.

Hanne wurde sogleich nach dem Doktor geschickt. Lamprecht atmete schwer und schien zu ersticken. Zuckend deutete er auf die Stubentür. Man verstand es dahin, daß er wieder in die Vorderstube gebracht sein wollte. Das geschah mit Hilfe des herzugerufenen Walter. Ins Bett wollte er jedoch nicht, er blieb im Lehnstuhle und ächzte einmal mühsam: »Der Doktor?!«

Ach, Hanne brachte die Nachricht, der Doktor wäre nicht zu Hause. So saß er im traurigsten Zustande da, bis die Dämmerung eintrat und Frau Lotte nun selbst in Todesangst ins Nachbarhaus des Doktors eilte.

Bestürzt kam sie zurück. »Dagewesen sei er jetzt,« sprach sie, »aber was habe er gesagt? Sie habe es nicht verstanden. Helfen könne er dem Lamprecht nicht, und er wolle auch nicht. Was heißt das? Der sonst so gute Doktor! Lamprecht kenne das Rezept, und wenn er es nicht befolge, so solle er eben leiden und sterben. Gut sein, habe er zuletzt gesagt, heiße gesund werden, wenigstens besser werden – was um Gottes willen heißt denn das? Ich verstehe es nicht.«

»Ich versteh's«, lallte Lamprecht und winkte schwach mit der Hand, man möchte fortgehen.

»Dich allein lassen in solcher Not?« fragte die Frau.

Er nickte und flüsterte: »Dorel – dableiben!«

Man gehorchte ihm. Dorel, die schwer Betroffene stand fern von ihm am Fenster. Es folgte ein langes Schweigen.

In dem kranken Manne drängten sich alle Gedanken auf den einen Punkt: sein Gemüt in Sanftmut zu sammeln, denn der Doktor habe vollständig recht. Aber wie denn sammeln? Mit Hilfe Dorels. Gegen sie sei er wieder losgebrochen, gegen sie müsse er Buße tun, dann könne wohl die Ruhe wieder einkehren in seine stürmende Brust.

Es schien zu gelingen; das Röcheln verstummte allmählich, und nach einer Viertelstunde konnte er Dorel andeuten, sie möge einen Stuhl neben ihn hin und sich zu ihm setzen.

Dorel tat es mit einiger Scheu. Auch jetzt schwieg er noch lange. Er betrachtete sie und sagte dann:

»Mache Licht.«

Dorel stand auf und ging zum Ofen, neben welchem ein Talglicht und ein Feuerzeug auf einem kleinen Tische standen. Dieses Feuerzeug war eine viereckige niedrige Blechschachtel. Darin lag schwarzer Zunder, verbrannte Leinwand. Daneben ein kleiner Stahl, ein Feuerstein und ein Schwefelfaden. Mit dem Stahl und Steine schlug sie Funken über dem Zunder, und als einer auf dem Zunder ein rotes Fleckchen zündend hervorbrachte, hielt sie den Schwefelfaden über dieses Fleckchen und blies ihren Atem darauf. So verbreitete sich das rote Fleckchen und entwickelte durch das Blasen ein Flämmchen, welches sich dem Schwefelfaden mitteilte. Er brannte blau, und mit ihm zündete sie die Talgkerze an. So war das damalige Feuerzeug beschaffen.

Sie blieb stehen neben dem nun brennenden Lichte – das Wort Kerze war unbekannt – welches die Stube schwach erleuchtete.

Er winkte ihr, sich wieder neben ihn zu setzen. Sie tat es. Lange, lange schwieg er noch. Seine Augen ruhten auf ihr, und seine Gesichtszüge wurden allmählich ruhig, ja freundlich. Er zwang offenbar mit festem Willen sein Gemüt zu sanften Regungen, und endlich fand er auch so viel Atem, um einzelne Worte hervorzubringen. Sie lauteten: »Vergib mir, Kind – meine Heftigkeit – Übereilung. – Dein Herz hat – Liebe. Liebe ist gut – ich liebe dich auch. Erzähle mir – deine Liebesgeschichte.«

»Vater!«

»Ja – das wird mir wohl tun. – Erzähl' getrost! – Ich sag's – keinem Menschen – recht ehrlich – und ganz herzlich. – Das Herzlichste ist mir – Labsal.«

Dorel wußte dies nicht zu fassen. Sie fragte ängstlich, ob sie recht verstanden, und aus kleinen Äußerungen, welche er zwischen ihre Fragen einschob mit der sanftesten Betonung, erriet sie allmählich mit ihrem guten Verstande nicht nur, daß er ihr wirklich wohl wollte, sondern auch, daß die Anhörung von Liebesdingen sein Gemüt und sein Herzweh erleichterten.

So erzählte sie denn herzhaft, und im Erzählen immer herzhafter werdend, weil er freundlich dazu lächelte, die ganze Entstehung und den stillen Fortgang ihrer Neigung zu Wilhelm – so bloß nannte sie ihn – von der Wagenfahrt an nach dem Doppelbiere in Stromau bis zur Szene im Hochwalde und bis zur glückseligen Viertelstunde auf dem Bänkchen vor dem Brauhause.

Er war ihr aufmerksam gefolgt, hatte nur einige Male gezuckt, sie aber doch mit einzelnen guten Worten ergänzt, wo sie ins Stocken geraten, und als sie fertig war, zog er ihren Kopf sanft an seine Brust.

Es entstand eine Pause. Seine Brust atmete jetzt leichter, viel leichter. Dann sagte er leise: »Aber – er – er ist dir nicht – treu geblieben – er heiratet ja – das fremde Mädchen.«

»Weil wir gar keine Aussicht haben, einander zu gehören.«

»Das tut dir – sehr weh?«

»Ja.«

»Und du bist nun – böse auf ihn.«

»O nein.«

»Du liebst ihn – immer noch?«

»Immer noch.«

Hier atmete er tief, und er fand in der Tiefe den Atem. Solche Fülle von Liebe ging wie Frühlingsodem durch seine Brust.

Frau Lotte hielt es nicht länger aus, sie trat ein. Welche Freude! Er war ja sehr zum Vorteile verändert und ließ sich ruhig zu Bette bringen.

Auch darüber war er jetzt im klaren, warum er vergangene Nacht so angenehme Träume gehabt. Weil er sanften Gemütes eingeschlafen. Danach trachtete er denn auch heute, und er verlangte, Dorel solle dableiben, bis er eingeschlafen wäre.

Da kam Dorel eine ganz neue Idee. Sie fragte, ob sie ihm was hübsches vorlesen dürfte.

Vorlesen? Das war ein unerhörter Begriff. Lächelnd sagte er: »Warum nicht? Ich bin neugierig.«

Nun holte sie eilig ihr Büchlein der Goetheschen Lieder herunter, setzte sich an sein Bett und las ihm oder vielmehr sprach ihm diejenigen vor, welche sie auswendig wußte. Dazu reichte der Schimmer des fern auf dem Ofen stehenden Lichtes.

»Noch einmal! Noch einmal!« sprach er nach jedem Liede, denn so schnell verstand er die Verse nicht, aber ihr Wohllaut behagte ihm gleich. Zuletzt las sie ihm das »Lied an den Mond«, und da sagte er:

»Nur den einen Vers noch einmal, den vorletzten!«

»Den: Selig, wer sich vor der Welt?«

»Ja, ja, den!«

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt.

Dann nickte er mehrmals mit dem Haupte, flüsterte: »Ohne Haß« und winkte ihr, sie möchte das Licht auslöschen und ihn allein lassen.

Er schlief fest, und diesmal ohne Traum. Am andern Morgen erwachte er gestärkt. Der neue Anfall schien wieder ausgeglichen, er konnte wiederum selbständig aufstehen und sich ankleiden.

Nun war ja die Bahn geebnet für Dorel und Wilhelm, denn – ach nein, solch ein alter Zornessünder wie dieser Fleischhauer ist nur zu leicht Rückfällen ausgesetzt. Er geht nur halben Weges vorwärts, wenn er gedrängt wird, steht aber sofort still oder weicht gar zurück, wenn er ein persönliches Vorurteil opfern soll. Und ein solches persönliches Vorurteil war ihm der Schatten Wilhelm.

Sobald Dorel Wilhelms Namen genannt, hatte er immer nur mühsam einem inneren Ruck widerstanden. Das war der Fall gewesen am Tage zuvor bei dem Illemrufen des Stars; das war auch jetzt eingetreten bei Dorels Erzählung ihrer Liebesgeschichte. Lamprecht hatte da immer die größte Not gehabt, nicht wieder loszubrechen. Es war nur nicht geschehen, weil er sich mit dem Gedanken beschwichtigt hatte: Es ist ja aus, er heiratet ja eine andere!

Jetzt schien freilich alles auf gutem Wege zu sein; er erschien wie ein Sieger in der Hinterstube und rief zu allgemeiner Freude nach seinem Frühstück. Die Redekraft wuchs ihm von Stunde zu Stunde, und er sprach mit allen liebevoll. Ja, er fragte die Rosel lächelnd, wen sie denn eigentlich vorziehe von ihren Courmachern? Dabei drang er fortwährend darauf, daß Dorel immer in seiner Nähe bliebe.

Frau Lotte wurde eifersüchtig und nahm Dorel beiseite, Aufklärung verlangend. Dorel war freilich selbst nicht im klaren, aber sie meinte doch so viel verstanden zu haben, daß der Doktor dem Vater freundliche Gesinnung als Heilmittel vorgeschrieben habe, freundliche Gesinnung gegen jedermann.

»Ja, ja« – meinte die Mutter – »das stimmt zu den rätselhaften Antworten des Doktors, und wir müssen ihn alle vor aufregenden Störungen behüten.«

Die Störung trat schon ein. Es war der Ratsherr Klaus. Das Wohl der Stadt – sprach er – nötige ihn nachzufragen, denn die evangelische Gemeinde sei in steigender Besorgnis.

»Über meine Krankheit?« fragte Lamprecht.

»Das auch« – antwortete der etwas steif und hochgehende Ratsherr, und das Zucken in seinem Antlitze begann – »vorzugsweise jedoch ist man besorgt, ob Ermahnung und Rat des Herrn Primarius noch länger unbeachtet bleiben sollten. Die Katholischen höhnten bereits.«

Lamprecht fuhr auf. Er hatte den hochnasigen Klaus, welchen sein Reiten beim Schützenauszuge noch höhernasig gemacht, nie recht gemocht, und sein Blut geriet jetzt in Wallung über diese dreiste Einmischung – es hing an einem Haare, daß eine scharfe Gegenrede ihn wieder zurückwürfe. Aber Frau Lotte und Dorel eilten zu Hilfe. Dorel zupfte den Vater am Ärmel und flüsterte: »Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt«, und Frau Lotte sprach mit Nachdruck zu Herrn Klaus: »Erlauben Sie, Herr Gevatter, daß ich für meinen Mann antworte; der Doktor hat ihm verboten, viel zu reden.«

Dabei nahm sie ihn unter den Arm und führte ihn zum entferntesten Fenster, ihm da leise auseinandersetzend, daß ihr Mann aufs äußerste geschont werden müßte und daß sie schon die Primariusangelegenheit ins reine bringen werde, sobald Lamprechts Krankheit es gestatte. Mit geschicktester Höflichkeit brachte sie den im Gesichte immer ärger zuckenden Herrn Klaus aus dem Zimmer und bis zur Haustür.

Sie und Dorel hatten mit Schreck erkannt, an wie dünnen Fäden die Ruhe hing, welche für den Vater unerläßlich wäre. Er saß grollend da und fügte sich unwirsch den Schmeichelworten Dorels. Da blökte ein Kalb im Hofe, welches Walter schlachten wollte, und Lamprecht erhob sich. Er wollte nach dem Fenster gehen. Die Mutter und Dorel hielten ihn zurück. Er sah sie unwillig an, aber ihre bittenden, guten Gesichter schienen günstig auf ihn zu wirken; er lächelte plötzlich und sagte: »Ihr habt recht. Der Doktor hat mir verboten, mich mit dem Schlachten abzugeben. Laßt mich nur! Ich tu nichts; ich denke an den Doktor.« Sie ließen ihn, und er ging ans Fenster, hinausfragend: »Wie ist das Kalb?«

»Stark, stark« – antwortete Walter – »kein so vierzehntägiges, wie wir immer kriegen, das hat vier Wochen hinter sich.«

»Also die Leber zum Doktor schicken, und das Netz dazu. Er ist ein Leckermaul und weiß den Leberkuchen mit den kleinen Rosinen zu schätzen, wie ihn seine große Rosine bäckt.«

Daß er wieder Spaß machte und dazu lachen mochte, war wohl sehr erfreulich, aber Frau Lotte hatte doch deutlich erkannt, wie leicht seine Reizbarkeit wieder zum Verderben ausschlagen könnte, und so ordnete sie an, daß kein fremder Mensch mehr in die Stube gelassen werden dürfte, jedermann sollte im Hausflur abgefertigt werden.

So gelang es, ihn bis zum Abende in Ruhe und steigender Besserung zu erhalten, und des Abends las ihm Dorel wieder Goethelieder vor, so daß er in bester Verfassung zum Schlafe gebracht wurde.

Seine Besserung am nächsten Morgen war erstaunlich. Vollständig gekleidet trat er, ehe er in die Hinterstube zum Frühstücke ging, an die Haustür, wo die Sonnenstrahlen des Altweibersommers hindrangen, um frische Luft einzuatmen, nach welcher er sich sehnte. Da stapfte der kleine Doktor mit dem spanischen Rohre vorüber und sah ihn. Er blieb aber nicht stehen. »Doktorchen! Doktorchen!« sprach Lamprecht.

»Was soll's?«

»Darf ich nicht in die Sonne hinaus? Nur bis in den Zwinger?«

»Die auswendige Sonne tut jedem Kranken gut; Sie aber brauchen noch viel mehr die inwendige Sonne, warme Güte, warme Güte. Ohne sie holt Sie der – Fuchs.«

Und weiter ging er.

»Doktorchen!«

»Mich in Ruh' lassen! Auch wenn er durchkommt mit dem Rezepte, was gilt er denn hernach? Er ist ja nur gut, damit es ihm wohlgehe. Frömmigkeit aus Eigennutz, was ist denn die wert?!«

Und fort war er. Lamprecht blieb nachdenklich stehen. Was meint der Doktor mit den letzten Worten? – Gewiß wußte er nur, daß er in den Zwinger gehen dürfe, und zwischen zehn und elf sagte er Dorel, sie könnte ihn begleiten. »Dort finden wir – setzte er hinzu – auf unserem Grasflecke vom Schützenkönige reife Pflaumen auf den Bäumen und Sonne und Luft. Komm nur!«

Die Mutter und Dorel erschraken. Da begegnete er Leuten, und alle würden fragen, warum er dem Primarius nicht folge. Das war eine drohende Gefahr. Aber sie wagten auch keinen Widerspruch, um ihn nicht gleich aufzureizen.

So schritt er denn um halb elf Uhr am Arme seiner Dorel durch das Lamprechtsgassel und über den Brauhausplatz nach dem Zwingereingange, einem kleinen Pförtchen neben dem Brauhause. Leider war es ein Tag des Bierverkaufes im Brauhause, und einzelne Bürger kamen von da und begegneten ihm. Sie grüßten nicht. Die Erbitterung gegen Lamprecht war allgemein, weil er den Herrn Primarius und die Kirche verleugnete. Dorel zitterte, denn der Vater zuckte immer zusammen, wenn einer ohne Gruß vorüberging. Er kannte sie ja alle, und sie kannten ihn. Was diese Grobheit bedeutete, das verstand er ganz gut. »Flegel!« sprach er vor sich hin, und Dorel suchte ihn abzulenken, indem sie einen der fliegenden Sommerfäden aufgriff und ihn fragte, wie diese Fäden wohl entstünden.

Er brummte, daß er es nicht wüßte, und sie brachte ihn bis in den Zwinger, ohne daß er weiter was Zorniges gesagt hatte. Im Zwinger aber kam die Herausforderung zum Zorne ihm geradezu entgegen.

Dieser einstige Wallgraben, jetzt ein mit Pflaumenbäumen besetzter Grasboden, reicht hinab bis an das braune Wasser, und hier hatte dem Pförtchen gegenüber der Gerber Stillner seine Werkstatt, ein hölzernes Häuschen, von welchem eine Treppe ins Wasser hineinführte. In dem Häuschen schabte er seine Felle, von der Treppe aus schwemmte er sie im Wasser. Die Tür des Häuschens stand offen, der Gerber schabte, und als er das Paar kommen sah, hielt er inne. Seine Hemdärmel waren hoch aufgestreift über die behaarten Arme, und in beiden Händen hielt er das geschweifte Messer. Er rief ihnen zu: »Na, Meister Lamprecht, ist's endlich geschehen? Sie kommen doch nicht heraus ins Grüne, ohne Ihre Schuldigkeit getan zu haben gegen unsern Herrn Primarius und gegen uns alle, die wir lutherisch sind und die wir nicht verspottet sein wollen von den Götzendienern. He?«

Stillner war ein bekanntes Schwertmaul, und Dorel flüsterte: »Kein Wort, Vater!« zum Gerber aber rief sie laut: »Der Vater darf nicht laut reden, er ist noch sehr krank.«

»Wie soll er denn gesund werden, wenn er seine Religion verachtet!« schrie der Gerber.

Lamprecht erhob beide Arme und wollte aufbrausen, Dorel hielt ihm jedoch den einen fest, und ihn fortdrängend, fragte sie wieder. Fragen hat was Dringendes und unterbricht am wirksamsten. Sie fragte: »Welcher ist denn unser Grasfleck vom Königsschusse?«

Lamprecht sah sie an, verschluckte mühsam den in die Höhe steigenden Ärger und zeigte vorwärts auf eine Stelle, wo die Pflaumenbäume enger beieinander standen als anderswo.

Sie kamen hin, und Lamprecht setzte sich, nein, er warf sich, unruhig atmend, auf den Rasen nieder. »Er ist trocken«, sagte Dorel und setzte sich neben ihm.

Sie hatten das braune Wasser dicht vor sich. Die Sonne schien hell, und die weißen Fäden flogen um die Wette mit den Schwalben über dem Wasserspiegel dahin.

»Die Schwalben sind wirklich noch da!« sagte nach einer Pause Lamprecht, als ob dies ein gutes Zeichen wäre.

Er schien allmählich ruhig zu werden. Er dachte, diese immerwährende Qual, den Ärger dämpfen zu müssen, das kannst du doch auf die Länge nicht aushalten. Wie aber, was aber? Die letzten Worte des Doktors waren vielleicht – wie lauteten sie? Ich sollte nicht bloß gut sein des Rezeptes wegen, und Frömmigkeit aus Eigennutz sei nichts wert.

Das heißt –?

Zum ersten Male kam ihm jetzt der Gedanke: Könntest du nicht wirklich gut werden, dann ginge alles von selbst. Ja, das wäre das sicherste und beste. Aber wie? Bist du denn wirklich nicht gut? Hassen soll man nicht, steht in Dorels Liede. Und ich hasse. Ja. War ich denn immer so?

Dabei blickte er auf Dorel, welche ihm fragend und warm in die Augen schaute.

Nein – dachte er weiter – dies Kind, welches seinen Liebsten verloren, es bleibt sanft – nein, doch du warst nicht immer so, wie du heute bist. Sprich, sprich, warst du nie in deinem Leben ein eigentlich guter Mensch? Besinne dich! – Ja, ja, damals bei der Konfirmation, als dir der Pastor zum ersten Male das Abendmahl reichte, ja, da meintest du Leib und Seele hingeben zu können für Gottes Wort –

Dorel sah ihn besorgt an. Was ist ihm? Er hat wohl gar Wasser in den Augen? Aber da hörte sie jemanden sprechen. Sie sah sich um. Herr Gott! es kam der Wachmeister unter den Pflaumenbäumen daher und sprach vor sich hin. Der Wachmeister! Welches Unglück! An dessen Sohn erinnert zu werden, an den heillosen Kiesel Fritze, das war ja das schlimmste, da wird, da muß der Zorn des Vaters losbrechen!

Dieser leidende Wachmeister hatte doch nicht ewig im Bette bleiben können. Sein Vetter, der Kämmerer, hatte ihm sagen lassen, wenn er nicht aufstünde und Dienst leistete, so ereignete sich morgen schon, was ohnehin für übermorgen drohte: er würde abgesetzt. Denn er sei entsetzlich angekreidet.

So war er denn wieder öffentlich erschienen. Eine vornehme Blässe bedeckte sein Angesicht. Sie hatte ja auch noch einen anderen Grund: sein begabter Sohn Fritze fehlte unter den Lebendigen der Stadt, er fehlte ganz und gar. Die giftige Bemerkung des Polizeiinspektors auf dem Kirchhofe, man werde die Range festzusetzen wissen, sie hatte ihn offenbar über das Weichbild der Stadt hinausgetrieben, kein Mensch wußte, wie weit, wohin. Er war verschwunden. Nun litt der Vater nicht bloß überall von der nichtswürdigen, stets mit Lachen auftretenden Frage: Wie befindet sich Schinderhannes? Jetzt setzten die gefühllosen Bürger noch hinzu: Euer Fritze ist in die weite Welt gelaufen, aber dem Galgen wird er nicht entlaufen, der kleine Schinderhannes. Das war bloße Unbildung, er wußte es, aber er wußte doch auch, was er seiner Würde schuldig wäre, er wußte, daß seine amtliche Stellung unhaltbar geworden. Es gibt unsichtbare böse Mächte, hatte einst der Doktor zu ihm gesagt, als er ihm den Stockschnupfen nicht wegkurieren konnte. Es gibt unsichtbare böse Mächte, wiederholte er sich jetzt, und – setzte er hinzu – sie sind aufsässig – gegen dich. Was ist da zu tun? Sich besaufen! spricht der alte Bettelvogt. Nein, du bist kein Bettelvogt, du mußt würdig abtreten. Und in einer dunklen Stunde hatte er seinem Vetter eingestanden, daß jetzt von einer anständigen Entlassung die Rede sein könnte. Seinen Hut und Degen jedoch müßte man ihm belassen, und standesgemäß müßte man ihn versorgen. Der Vetter hatte roh entgegnet, wozu er denn noch einen alten Degen brauchte! Übrigens stünde da nichts entgegen, er könnte Hut und Degen an einen Nagel über seinem Bette aufhängen, denn sein Nachfolger, der Hooraz – oh! würde gar keinen Degen kriegen und vielleicht auch nur Stadtvogt heißen. Zunächst sollte er, aber besser als bisher, seinen Dienst weiter versehen, bis das Entlassungsinstrument ausgefertigt wäre. Das würde Zeit in Anspruch nehmen, und er, der Vetter, werde trachten, ihm die Inspektorstelle im neuen Spittel auszuwirken.

Das Wort »Spittel« hatte verletzend auf ihn gewirkt. Aber Inspektor, Befehlshaber, wenn auch nur über Spittelleute, das hatte ihn doch getröstet. Wer befehlen kann, der ist überlegen. Und so hatte er still und vornehm die Aufsicht wieder übernommen über alle inneren Vorgänge. Freilich melancholischen Gemütes. Er sprach jetzt wenig mit den Menschen, welche ihn ja niemals hinreichend verstanden hatten, er sprach jedoch viel mit der Hauptperson, mit sich selbst. Über den Zweck des Lebens vorzugsweise. Seine immer klarer hervortretende Meinung lautete: Gemeiner Zufall beherrscht die Welt.

Nun war seit einiger Zeit geklagt worden, daß die Kameraden seines unvergeßlichen Fritze öfters auf den Pflaumenbäumen im Zwinger betroffen würden und sich dort gütlich täten an anderer Leute Eigentum. Das geschähe, weil der Wachmeister die Aufsicht vernachlässigte. So kam er denn jetzt daher, um diese Aufsicht zu üben, und sprach seine Gedanken über den beklagenswerten Zufall in der Welt laut vor sich hin – oh! mitten im Satze hielt er inne, er stand unbeweglich still wie eine Mauer, denn vor ihm saß Lamprecht mit seiner Tochter.

Lamprecht, durch Dorels Bewegung aufmerksam gemacht, hatte sich umgewendet, hatte ihn gesehen und war mit einem Ruck aufgestanden, nichts sagend als das Wort: »Kiesel!«

Sie standen einander gegenüber, man konnte denken wie zwei Gewitter. Dorel war ratlos. Sie winkte nur dem Wachmeister mit der Hand, weiterzugehen. Dieser aber schien bezaubert zu sein wie vom Blicke der Klapperschlange, er rührte sich nicht, und da Lamprecht nicht redete, so redete er selbst, zunächst mit bebender Stimme wie folgt:

»Herr Lamprecht, Oberältester des Fleischhauergewerks und Stadtverordneter! Das Schicksal – denn es gibt eines – tilgt alte Schulden, wenn auch grausam. Seien Sie als Oberältester gerecht, lassen Sie alte Stänkereien beiseite, die neuen sind schlimmer. Wir sind jetzt beide gleichmäßig bestraft. Sie haben Ihren hoffnungsvollen Sohn verloren, ich habe den meinigen, der in seiner Art auch hoffnungsvoll war, ebenfalls verloren.«

»Was?!«

»Was? Es scheint, die Kunde ist nicht in Ihr Krankenzimmer gedrungen. Mein einziger Sohn ist vom Kirchhofe weg in die weite Welt gegangen, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, er ist dahin – auch ich habe keinen Sohn mehr.«

Lamprecht blickte fragend auf Dorel. Sie nickte ja. – Pause.

Zum Erstaunen Dorels, zum Erstaunen Kiesels sprach Lamprecht kein Wort, sondern winkte mit der Hand wie zum Weitergehen.

Kiesel grüßte sofort in militärischer Form mit der Hand am geschweiften Hute und schritt eiligst von dannen, in sichtlich angenehmer Überraschung.

Dieser Vorteil widerfuhr ihm, weil er Lamprecht angetroffen hatte in dessen weitreichenden guten Gedanken, in Gedanken, welche die Erinnerung an das erste Abendmahl in der Kirche mit sich gebracht.

Nach einer Weile sagte er: »Gehen wir auch, Kind, Gott hilft mir vielleicht doch.«

Als sie beim Gerber vorüberkamen, schabte dieser fleißig, und als er sie sah, pfiff er mit gellendem Tone das bekannte Lied: »Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin.«

Es klang wie greller Spott, und Lamprecht sagte leise: »Durch die Abendwolken hin.«

Dorel wußte durchaus nicht, wie es mit dem Vater stünde. Er war so ruhig und ganz schweigsam. »Ach,« sagte sie, als sie auf den Brauhausplatz kamen, »wie hübsch! Soviel Sommerfäden! Sie sehen in der Sonne aus wie zerrissene weiße Wölkchen.«

»Zerrissen ja!« sprach unerwartet eine sanfte Stimme. »Unsere zerrissenen Bettücher sind's, die Fetzen der armen Jungfern, denen sie die Männer weggenommen haben. Die machen den Altweibersommer.«

Die alte Mutter Schönfeldern sagte das. Sie saß auf einem Stoß von Brettern auf dem Platze, um sich zu sonnen, ehe sie wieder ins dunkle Brauhaus ginge. Dorel, immer auf den Vater blickend, hatte sie nicht gesehen. Die Alte hatte ihr weißgraues Haar jetzt ordentlich gestrählt und sah aus wie eine glatte Eule, welcher die Sonne die kleinen Augen zudrückt.

»Ihr klagt einmal, gute Mutter Schönfeldern?« sprach Dorel.

»Nein, ich klage nicht, ich denke nur bei dem weißen Unrate in der Luft an meine jungen Jahre. Man muß nicht klagen, wenn man nicht schuld ist an seinem Unglücke und wenn man Gott sei Dank im langen traurigen Leben doch keinem Menschen wehgetan hat.«

»Keinem Menschen wehgetan? Könnt Ihr das von Euch sagen, Mutter Schönfeldern?« fragte Lamprecht.

»Ja, das kann ich wohl. Wenigstens hätt' ich's nicht gerne getan. Sie haben mir in meiner Jugend das Beste weggenommen, aber ich bin dem Herrn Pastor immer gefolgt und hab's niemandem mit Bösem vergolten. Das ist mein weiches Ruhekissen für's Sterben. Da kommt einer! Meister Lamprecht, der wird Sie fragen, wie's in der Bibel heißt: Saul, warum verfolgst du mich?«

»Himmlischer Vater, 's ist der Wilhelm!« rief Dorel.

Wilhelm kam geritten. Er war auf dem Wege zu seinen Arbeitern auf der Stadtmauer. Einen Augenblick lang dachte er sein Pferd anzuhalten, als er Lamprecht und Dorel sah. Aber er tat's nicht. Er schien rasch zu wissen, was er zu tun habe. Er ritt weiter, und erst als er neben ihnen war, brachte er seinen Schwarzblau zum Stehen, ruhig niederblickend auf Vater und Tochter. Schweigend reichte er Dorel die Hand. Sie zitterte, das Ärgste vom Vater fürchtend; aber sie faßte sich ein Herz und legte ihre Hand in die seine mit einem flehenden Blicke seitwärts auf ihren Vater.

»Unbesorgt, Jungfer Dorel,« sagte Wilhelm, »ich will Ihnen nur einen guten Tag wünschen, den Sie jetzt wohl selten haben, und dann« – er blickte auf Lamprecht mit einem langen ruhigen Blicke und sagte erst nach einer Pause – »und dann will ich zu Ihrem Herrn Vater sagen: Gott möge ihm helfen.«

Und langsam ritt er weiter. Schwarzblau wieherte fröhlich.

»Ein schmucker Herr«, flüsterte Mutter Schönfeldern.

»Und wohl ein guter Mensch?« sagte Lamprecht.

»Ein seelenguter«, erwiderte Dorel.

»Ich glaub's auch«, setzte Mutter Schönfeldern hinzu.

»Nach Hause, Dorel, nach Hause! 's ist mir eilig zumute, komm', komm'!«

Und ohne sich wie bisher auf Dorels Arm zu stützen, ging er nach dem Lamprechtsgassel und in sein Haus.


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