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1.

Kiesel hieß er, der Stadtwachtmeister. Der Herr Wachmeister wurde er kurzweg genannt; ohne t. Der Buchstabe t gilt in diesem Worte bei den Schlesiern für überflüssig. Sie haben auch eigentlich recht.

Der Wachmeister Kiesel kam soeben von einem Dorfe namens Wittendorf zurück, welches vor siebzig und einigen Jahren südlich von der kleinen Stadt lag. Es liegt wohl noch da, und man erreicht es in mäßiger Gangart binnen einer kleinen Stunde.

Er hatte da unscheinbar – man nannte es geheim – Erkundigung einziehen sollen über die Gutsverwaltung, deren Betrieb verdächtig geworden. Das Gut gehörte nämlich der Stadt, und die regierenden Herren hatten den Wachmeister für geeignet befunden für solche Nachforschung.

Er selbst war anderer Meinung gewesen und hatte mit einigem Stolze zu seinem Vetter, dem Herrn Stadtkämmerer, gesagt: »Das ist gar nicht meines Amtes, ich gehöre zum Herrn Polizeiinspektor.«

Solche Äußerung hatte den vornehmen Herrn Vetter in Harnisch gesetzt. Dieser Vetter Wachmeister war ihm ohnehin eine Last, weil er ihn aus Familienrücksichten, nicht aus Überzeugung beschützen mußte. Er hielt den Vetter Wachmeister für ein mißliches Tuch. Höchst ärgerlich hatte er also bei dieser Gelegenheit erwidert: »Zum Polizeiinspektor gehörst du? Und wozu gehört der Polizeiinspektor? Zum Magistrate. Wenn dich also dieser mit einer Aufgabe betraut, so danke Gott dafür im stillen Kämmerlein, denn dadurch wird deine amtliche Stellung gefristet. Sie steht auf gebrechlichen Füßen.«

»Oho! Warum?«

»Warum? Weil du im Grunde ein Taugenichts bist und weil im Magistrate und selbst unter den Stadtverordneten mancher davon eine Ahnung hat. Dein Lebenswandel ist unschicklich, du bist ein Trinker.«

»O, wenn ich zuweilen trinke, so geschieht's immer auf schickliche Weise: ich trinke immer nur reinen Korn.«

»Auch der reine Korn ist zuviel, wenn man zuviel davon trinkt. Und außerdem ist das nicht wahr: du trinkst jede Mischkulanz, wie man's nennt, Karbe und Pomeranzen und Schlimmeres.«

Bei diesen unangenehmen Worten hatte der Wachmeister nur die Achseln gezuckt, hatte jede Verteidigung unterlassen – was wußte der nüchterne Vetter Kämmerer von den Reizen der Mischkulanz – und war hinausgegangen nach Wittendorf zu dem verdächtigen Gutspächter. Dieser hatte ihn gut bewirtet und sogar über Nacht dabehalten. Der Wachmeister hatte gefunden, daß der Pächter ein ganz schätzenswerter Mann wäre, den man verleumdet haben müßte, und nachdem er zum Frühstück ein fettes Butterbrot und einen wirklich reinen Korn erhalten hatte, kehrte er nach der Stadt zurück. Sein Gewissen versicherte ihm, daß er kein eigentlicher Trinker wäre, und sein Gewissen hatte recht: er war nur ein wenig naschhaft und naschte auch Getränke.

Übrigens war er durchschnittlich ein ernsthafter Mann, welcher seine eigenen Gedanken hatte. Auf diese seine eigenen Gedanken war er stolz, und in diesem Betracht dachte er auch geringschätzig von seinem Herrn Vetter, dem Kämmerer.

Er war nur mittelgroß, dieser Wachmeister, jedoch wohlbeleibt, aber durchaus nicht fett, und dieses Mangels rühmte er sich. Wenn er des Abends aus dem Bierhause nach Hause ging, da hielt er sich gewöhnlich für einen gesunden Mann, trotz des Bieres, an welchem er immer etwas auszusetzen hatte. Des Morgens dagegen war er selten zufrieden mit seiner Gesundheit, mit seiner amtlichen Stellung und mit der Welt überhaupt. Da philosophierte er – das war seine Neigung – und das geschah immer trübselig. Die Welt ist gemein, sagte er da wohl – und du wirst verkannt.

Das war jedoch heute nicht der Fall, obwohl er ungebührlich früh aufgestanden. Er sah fast mit Erstaunen zu, wie die Sonne aufging. Das war für ihn ein seltener Anblick, der ihn unterhielt. Er kümmerte sich wohl ums Wetter in der Stadt, aber gar nicht um die Natur.

Wozu auch! Die Natur bot rings um die Stadt keinerlei Reiz. Das Land war eben, der Boden dürftig, und eine Aussicht gab es gar nicht. Auf drei Seiten stand Wald im Wege, und auf der vierten Seite war nichts zu sehen, als hie und da ein kleines Dorf.

Dieser nördliche Teil Schlesiens, welcher an die Lausitz und an die Mark Brandenburg – speziell die Neumark – grenzt, ist von landschaftlicher Schönheit verlassen.

Das große Schlesien, welches man ebensogut ein Königreich nennen könnte, wie Sachsen und Württemberg – denn es ist größer als Sachsen und größer als Württemberg – bietet an der langen Strecke von den Karpathen herab bis an die Mark gar nichts Verführerisches an Landschaft. Die Oder, welche die ganze Strecke hindurchläuft, sieht auf ihrem Wege nichts, was zum Verweilen einladen könnte, und ist also ein langweiliger Strom. Sobald er aus den Bergen bei Jablunka heraus ist, sieht er lauter ebenes Land, zu seiner Linken deutsches, zu seiner Rechten polnisches, welches mehr und mehr in deutsches verwandelt worden ist und täglich noch verwandelt wird. Nur die Westseite Schlesiens ist ganz anders und ist sehr wohlgefällig. Da ziehen die Sudetenberge, bald Glatzer Gebirge, bald Eulengebirge, bald Riesengebirge benannt, stattlich daher nach Norden, und beleben die Gegend außerordentlich.

Von diesen Gebirgen sah der Wachmeister jetzt gar nichts, und sie sind in diesem schlesischen Winkel auch gar nicht zu sehen. Der Wachmeister hatte keine Ahnung von ihnen; er hatte nie einen Berg gesehen. Eine kleine Erhöhung am braunen Wasser bei der Stadt nannte man leichtfertig den Hamsterberg, aber die Erhöhung war nur haushoch.

Was tat's? Was ich nicht weiß, das macht mir nicht heiß. Der Wachmeister, in manchen Stunden Idealist, verlangte sich in diesem Punkte nichts Besseres.

Auch in betreff grüner Wiesenflächen, welche man so gerne sieht, waren seine Ansprüche sehr mäßig. Die große Hutweide für die Stadtkühe hier auf der südlichen Seite genügte ihm, obwohl sie immer abgegrast war vom lieben Rindvieh und nur einen kahlen Anblick bot.

Hier, in einiger Entfernung von der Viehweide gab es noch Gras, und fast zu seinem Schrecken stieg eine Lerche daraus empor und sang in der Luft. Eine Lerche! Den Vogel kannte er doch. Der Bäckermeister Neumann hatte einmal eine im Bauer gehabt, die hatte sich den Kopf eingestoßen an der harten Decke des Bauers. Aber gesungen hatte sie niemals. Er fand jetzt das Gezwitscher gar nicht übel. Dem Sonnenaufgange dagegen, von dem man so viel Wesens machte, dem konnte er nicht viel abgucken. Ein blaßgelber Kreis, weiter nichts. Er hatte eben eigene Gedanken und meinte, das hätte er wohl schon in der Jugend gesehen. Da, eh' er Lehrjunge werden mußte, war er zuweilen außen herumgekrochen, namentlich am Stromufer, um Edelsteine zu suchen, namentlich sogenannten Moosjaspis, bis man ihm gesagt, der sei auch nichts wert, und bis sein Vater ihn genötigt hatte, Buchbinder zu werden. Buchbinder! Der Vater sei's auch gewesen und habe immer gesagt, es sei ein elendes Gewerbe, denn die Leute in der Stadt brauchten keine Bücher, brauchten also auch keinen Buchbinder. Aber weil es der Vater gewesen, mußte es der Sohn auch werden.

»Leider!« seufzte er und blickte seitwärts. Da floß und rauschte der Strom, die einzige Zierde der ärmlichen Landschaft. Es war ein munterer, starker Bergstrom, der vom Riesengebirge herunterkam und im Frühjahre gern Überschwemmungen brachte. Dagegen hatte der Wachmeister nichts einzuwenden, da konnte er sich geltend machen als Stadtobrigkeit, wenn die Leute unnützerweise retten wollten.

Im ganzen fand er diesen seltenen Morgen doch nicht zu verachten als eine Abwechslung, und nun kam gar jemand daher zwischen den Uferweiden, mit dem er seine besonderen Gedanken austauschen konnte, denn er sprach gern über Höheres.

Es war ein junger Mann, welcher von der Stadt daherkam. Kiesel erschrak aber beinahe, als er ihn erkannte, denn er glaubte zu wissen, daß dieser junge Mann ihm nicht besonders gewogen wäre.

Es war indessen ein Zug seines Naturells, daß er gerade solchen Leuten, welche ungünstig über ihn dachten, bereitwillig entgegenkam. »Nicht aus Furcht,« sagte er, »O nein, keineswegs.« Es darf jedoch nicht verschwiegen werden, daß er durchwegs ein beunruhigtes Gewissen hatte, und dies sagte ihm: Sei zuvorkommend! Solch ein Mensch kann nachteilig von dir sprechen, hindre ihn daran durch verführerische Höflichkeit. So rief er denn jetzt wie freudig überrascht: »Ei, ei! der junge Herr Schatten so früh auf den Beinen! Ja, der Fleiß selber.«

»Geschäft, Herr Kiesel, ich habe einen Bau drüben in Wittendorf. Guten Morgen!«

»Gleichfalls, gleichfalls! Und wie gesund der junge Herr aussieht! Ja, ja, noch keine Sorgen, als höchstens« – und dabei schlug er sich mit der Hand auf die linke Brustseite.

»Höchstens«, sagte Schatten Wilhelm.

So wurde er in der Stadt genannt, wo man grundsätzlich den Taufnamen hinter den Hauptnamen anbrachte, und mit diesem »höchstens« wollte er vorüber.

»Einen Augenblick!« rief Kiesel und setzte mit schwächerer Stimme hinzu: »Sie sind gewiß am Lamprechtschen Garten vorbeigekommen und haben über den Zaun geguckt, weil dort die Töchter des Hauses – nicht doch! weil dort die Kirschen reif werden, und weil deshalb – kurz und gut, morgen wird man dort die Kirschen abnehmen, und die schönen Töchter des Fleischhauermeisters werden die Kirschen abpflücken, insbesondere die blonde, und da wird es lustig zugehen, wenn junge Herren fleißig helfen.«

Dazu lachte er, so weit es ihm möglich war. Denn das Lachen wurde ihm stets ein wenig sauer.

Schatten Wilhelm war rot geworden, was man ihm deutlich ansah, weil er dunkelblondes Haar und dem entsprechend eine feine Haut hatte, aber er erwiderte doch nur nach kurzer Pause: »Das mag wohl sein, Herr Stadtwachmeister. Guten Morgen!« und er ging von dannen auf Wittendorf zu.

Kiesel griff an seinen hochgeschweiften Hut – man nannte ihn das Schiff, und diese Benennung ist auf allen Universitäten für alle Hüte eingeführt worden – und grüßte militärisch, nicht ohne würdige Haltung. Dabei blieb er stehen und sah dem jungen Manne nach, vor sich hinmurmelnd: Er beißt nicht an, er will's nicht eingestehen. Das kennt man und wird nicht loslassen.

Es war nämlich eine Unterhaltung seines Lebens, alle stillen Vorgänge in der Stadt zu erkunden und alsdann den Vermittler zu spielen. Den ganz ehrlichen Vermittler. Er meinte das durchaus nicht polizeilich, wenn er auch zuweilen solch harmlose Dinge, und nur diese, dem Herrn Polizeiinspektor erzählte. Schaden wollte er niemanden, das lag ihm ferne, nur unterhalten wollte er sich und sich zerstreuen, ja sich betäuben. Denn er war mit seiner Existenz gar nicht zufrieden und hegte, ganz wie sein Vetter, der Herr Kämmerer, die unheimliche Furcht, er könnte plötzlich einmal in die Luft gesprengt werden.

Jetzt wendete er sich, und das Stromufer verlassend, schritt er rechts hinüber auf die kahle Viehweide, dem Schießhause zu, welches an der Landstraße neben der Viehweide stand.

Er kam da an der Wasserlache vorüber, welche mitten auf der Ebene eingebuchtet war, ein langes und breites Wasser von dunkler Farbe. Man nannte es die Mordlache. Ein Räuber nämlich des vorigen Jahrhunderts, Schinderhannes geheißen, sollte hier einmal einen wohlhabenden Bürger in das dunkle Wasser gestoßen und nicht mehr herausgelassen haben, so daß der Bürger bei solcher Behandlung ersoffen war. Da dies wie ein Mord aussah, hatte man das Gewässer die Mordlache genannt.

An dieser Lache blieb der Wachmeister Kiesel stehen. Die Erinnerung an Schinderhannes wirkte immer überwältigend auf ihn. Wenn er damals Stadtwachmeister gewesen wäre und den Schinderhannes gefangen hätte! Kurz, bei diesem Namen dachte er immer daran, daß er endlich einmal eine große polizeiliche Entdeckung machen könne, welche ihm Ruhm, Zulage und gesicherte Existenz verschaffen müßte.

Nachdem er eine Zeitlang tiefsinnig auf das stille Wasser geschaut, erhob er den Blick und sah nach Osten hinüber. Das war's. Da sah er das Kirchlein mit kleinem Türmchen auf einer mäßigen Bodenerhöhung unweit des Schießhauses. Dies Kirchlein, welches noch aus der österreichisch-katholischen Zeit stammte und jetzt noch der kleinen katholischen Gemeinde angehörte, dies Kirchlein mit dem hölzernen Fensterladen oben im Türmchen war Kiesels Polarstern. Dort drängte sich seine Sehnsucht zusammen, die Sehnsucht nach einer unerhörten Entdeckung. Nach der Ersäufung des wohlhabenden Bürgers nämlich hatte sich die ganze Stadt aufgerafft, dieses niederträchtigen Spitzbuben und Raubmörders Schinderhannes habhaft zu werden, und da hatte man denn folgendes Unglaubliche erlebt: Die Väter der Stadt, umgeben von den Spürleuten, wandeln vom Schießhause daher gegen das Kirchlein, beratend, wie die bisher unfruchtbare Suche verschärft werden könne; da schreit der Polizeimeister erschreckend auf. Was ist's?! Er deutet auf das Türmchen des Kirchleins, und man sieht oben den hölzernen Fensterladen nicht nur offen, nein, in dieser Öffnung stehen ein Mannsbild und ein Frauenzimmer. Das Mannsbild grüßt mit der Hand und, wie es scheint, lustig. »Das ist der Schinderhannes selbst und sein Kebsweib!« ruft einer der Spürer, »ich kenne sie!« Hierauf folgt namenlose Bestürzung über diese Frechheit, denn Schinderhannes oben schlägt eine gellende Lache auf.

Mit achtungswertem Mute stürzen nun die unten alle – auch mehrere Ratsherren darunter – auf die Tür des Kirchleins zu. Sie ist verschlossen. Es muß nach dem Schießhause geschickt werden um Brechwerkzeuge – denn damals in katholischer Zeit war der Schlüssel noch in den Händen des Propstes, also in der Stadt. Das Brechwerkzeug kommt und es gelingt, die Tür einzuschlagen. Nun hat man endlich den Racker! Nein, man hat ihn nicht. Und dies ist das Wunder. Schinderhannes ist nicht in dem Kirchlein. Es ist eine Gruft da. Hinunter! Das geschieht mit Vorsicht. Aber auch da ist er nicht. Man steht vor einem gräßlichen Rätsel. Ein geistvoller Ratsherr spricht von der Möglichkeit eines unterirdischen Ganges. Man untersucht genau; man findet keine Spur. Man untersucht auch außen den Erdboden weithin bis zu dem trägen Flüßchen, welches unten vorüberschleicht. Nichts! Nichts! man findet nichts. In wohlbegründeter Verstörung muß man unverrichteter Sache nach der Stadt zurückkehren, die Köpfe voll Zweifel über den Umfang des menschlichen Verstandes.

Dieser historische Vorgang lebte unvertilgbar in Kiesels Haupte, und er hatte den verwegenen Gedanken in ihm erzeugt: es muß einen unterirdischen Gang geben, nicht auf den Erdboden hinaus, sondern in das Wasser des Flüßchens, wahrscheinlich abgesperrt durch eine eiserne Tür. Aber wenn Schinderhannes diese Tür öffnet, so dringt doch das Wasser hinein – ja, hier liegt der Hund begraben; wer weiß, was der gescheite Spitzbube für Mittel ersonnen hat. Höchstwahrscheinlich aber liegen all seine Schätze dort unter dem Wasser begraben.

Er war schon einmal daran gewesen, den Grund des Flüßchens mit einer Stange zu untersuchen; aber gerade bei der wichtigsten Stelle war er ausgerutscht, war hineingefallen und hatte sich einen Schnupfen zugezogen, welcher allmählich ein dauernder Stockschnupfen geworden war. Dieser erinnert ihn täglich daran, die Untersuchung bei trockenem Sommer wieder aufzunehmen.

Den Blick auf das Türmchen gerichtet, kam er vors Schießhaus und fragte den außenstehenden Wirt, ob er etwas vom Schinderhannes erfahren hätte.

Dieser lachte und holte ein Glas Korn für den Herrn Wachmeister, nebenbei versichernd, der Schlüssel zur Kirchentür sei jetzt in seiner Verwahrung, und ein heutiger Schinderhannes dürfte rasch gefaßt werden.

»Ja, wenn nicht!« – weiter enthüllte sich der Wachmeister nicht, trank nachdenklich den Korn und wandelte nach der Stadt. Daß der Wirt ihm noch nachgerufen, die Zeiten seien anders und heute bestünde kein solcher Spitzbube mehr, hatte ihn, den Romantiker, geärgert, und während er zwischen den Scheunen dahinschritt nach der Stadt, murmelte er vor sich hin: »Der Wirt ist ein Esel. Die Zeiten seien anders geworden, kein Spitzbube bestehe mehr! Dummes Zeug! Wenn man recht aufrichtig ist gegen sich selbst, muß man sich nicht eingestehen, daß unsereiner selbst ein Spitzbube werden kann, wenn sich die Gelegenheit außerordentlich günstig böte und der Gegenstand des Diebstahls so groß wäre, um unsereinen ganz unabhängig zu machen von Bürgermeister und Rat, und –?«

»Pfui, Kiesel! Wohin gerätst du!« sagte er endlich doch und machte längere Schritte.

So kam er in die südliche Vorstadt, wo der frühen Morgenzeit wegen erst einige Dienstmädchen zu sehen waren. Die Kühe der Stadt jedoch kamen schon daher auf ihrem Wege zur Viehweide. Sie waren selbständig und ohne Leitung durch die Straßen der Stadt gewandelt, sie kamen ebenso selbständig am Abende wieder zurück. Ihr Herr, der Hirt, hatte sich in diesem Punkte gar nicht um sie zu kümmern. Er kam zwischen ihnen mit dem zuweilen eigensinnigen Stier und zog seine Kappe ab vor dem Herrn Wachmeister.

»Aufpassen und richtig ansagen im Bürgerhause, wenn's passiert ist!« rief ihm dieser mit Hoheit zu.

Dies betraf den Stier. Wenn dieser in Verbindung getreten war mit einer Kuh – der Hirt kannte sie alle persönlich – dann mußte er es des Abends der betreffenden Hausfrau, der Eigentümerin selbiger Kuh, getreulich melden.

Die Vorstadtstraße war breiter als irgend eine Straße in der Stadt, und hier gab's auch zwei Gasthäuser – »Zum Walfisch« und »Zur Krone« – in der Stadt gab's nur eins, und nur dies konnte im äußersten Notfalle einen Fremden über Nacht aufnehmen. Das schadete niemandem, denn es kamen keine Fremden. Man reiste damals äußerst selten, und hier in der Stadt hatten keinerlei Reisende was zu suchen. Die Stadt war mit niemandem außer ihrem Weichbilde in Berührung.

Dies zeigte sich eben wieder. Der Gastwirt »Zur Krone« erschien an seiner Haustür, grüßte den Wachmeister und wies auf den ersten, den einzigen Stock seines Gasthauses hinauf. Er hatte diesen Stock vermietet. Der Wachmeister blieb staunend stehen, als ihm der Wirt dies zurief. Woher ein Mieter?

»Gestern abends«, sagte der Wirt, »ist er angekommen und heißt Justizverweser, Stammbach mit Namen. Er hat auch eine Tochter, und die ist bildhübsch. Sie wird Amelie gerufen; das heißt wohl Male?«

»Kann schon sein. Ein schönes weibliches Wesen mehr in der Stadt wäre auch nicht übel. Aber beunruhigen wird es die Hausmütter. Das nennt man hochdeutsch Konkurrenz in Sachen des Bräutigams. Das wird böses Blut machen, denn es ist doch eben eine mehr, die einen Mann braucht, und der männliche Vorrat hat sich nicht vermehrt. Eine neue Sorge! Wohl zu speisen!«

Mit diesem vorzeitigen, aber wichtigsten Wunsche schritt der Wachmeister aufs Tor zu. Dies stand hinter einer gemauerten und gepflasterten Brücke, unter welcher das braune, die ganze Stadt umgebende Wasser dahintrödelte. Es war noch aus alter Zeit ein turmartiges Festungstor, in welchem sich ein hochgewölbter Torweg krümmte, damit ein Schuß hinein nicht immer zu treffen brauchte.

Der Drechsler Schneericke stand am Eingange und ließ sich von der Morgensonne bescheinen, während er seine dürftige Toilette beendigte. Er hatte innerhalb des Torweges links seine Wohnung und Werkstatt, und dorthin drang nie ein Sonnenstrahl. Dafür entschädigte er sich jetzt.

»Der Rabbiner wartet auf Euch!« rief er dem Wachmeister zu.

Richtig! Als Kiesel jenseits des Torbogens in die Stadt trat, sah er rechts einen kleinen Mann am Rinnsteine der Fremdengasse stehen. Man sah vom Tore aus in zwei Straßen, links in die Waldgasse, rechts in die Fremdengasse. Das Wort »Straße«, als zu vornehm, kam gar nicht vor.

Die Fremdengasse hatte vielleicht ihren Namen daher, daß in ihr immer die paar Juden wohnten, welche die Stadt in sich faßte. Vielleicht hatten sie als Fremde früher dort wohnen müssen; jetzt hinderte man sie in keiner Weise. Die Stadt war frei vom heutigen Semitenhasse, nur die Mütter etwa sahen den Umgang ihrer Kinder mit den Judenkindern nicht gerne. Es gab auch, wie gesagt, nur wenig Juden, jetzt nur drei Familien.

Der kleine Mann dort am Rinnsteine war ihr Rabbi, und das Haus, vor welchem er stand, war sein eigen. In demselben wurde auch der Gottesdienst gefeiert.

»Was soll's?« fragte der Wachmeister herablassend. Er dachte vornehm über Juden.

»Ob's dabei bleibt, daß nächste Woche bei Lamprechtens endlich ein Rind geschlachtet wird! Wir leiden Mangel, weil ja das letzte Rind nicht koscher war«, antwortete der kleine alte Mann mit vergrämtem fremdartigen Gesicht.

»Ja. Das Tier verspricht; es ist wohlgenährt. Auf Euch wird's ankommen, daß es koscher ist. Wenn Ihr wieder Geschichten macht, so müßt Ihr eben acht Tage länger fasten, Vater Abraham, dafür seid Ihr Juden.«

»Dafür sind wir Juden!« seufzte dieser, und hinter ihm seufzten zwei hübsche Mädchen, seine Töchter.

Kiesel unterließ nicht, sie sorgsam anzuschauen. Die eine, die Ruth, war sehr hübsch, und Kiesel hatte ein Auge für weibliche Schönheit. Er ließ sich indes nicht leicht fortreißen dadurch, und es war wohl Verleumdung, wenn man ihm nachsagte, er wäre mit hübschen Dienstmädchen nicht so vorsichtig wie anderswo.

Wie schade um diese Ruth – sagte er sich jetzt still – wie schade! Es ist unter den drei Familien nur ein einziger möglicher Bräutigam für sie, der lange Elias in der Wassergasse. Er ist nicht mehr jung, und sie mag ihn nicht. Es bleibt ihr aber nichts anderes übrig. Schade! Wärest du, Kiesel – pfui, pfui, Kiesel, ein christlicher Wachmeister und ein Judenmädchen! Ja, wenn's da vorne die blonde Rosel wäre – holla, Kiesel, du hast einen glücklichen Morgen, da tritt sie wirklich aus dem Hause!

Dies Haus war oben an der Ecke der Fremdengasse und grenzte an den Ring. Was man anderswo in Deutschland Markt nennt, das heißt in den Städten, welche an Polen grenzen, überall der Ring. Das Rathaus mit Zubehör steht in der Mitte, und alle vier offenen Seiten bilden den Ring. Sonst war keine Spur von Polen- oder Slawentum mehr vorhanden an dieser linken Oderseite. Fränkische und flandrische Einwanderung hatte dies Schlesierland ganz und gar mit Deutschen bedeckt, aber vor grauer Vorzeit war doch auch dies linke Oderufer slawisch gewesen, und von daher war der Ausdruck Ring verblieben.

Rosel war die jüngste der drei Lamprechtschen Töchter, welche in der Stadt für drei verschiedenartige Schönheiten galten. Hätte man in der Stadt schon etwas von ästhetischer Bildung gewußt, so würde man sie unfehlbar die drei Grazien genannt haben. Aber ästhetische Bildung war im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts in der kleinen Stadt etwas Unbekanntes, und so nannte man sie die drei Lampreten. Gemein bildlich. Unter Lampreten verstand man ein leckeres Essen von Fischen.

Rosel schüttelte eine Tischdecke aus vor der Haustür und blickte recht gleichgültig auf den Wachmeister, der vor ihr stehen blieb. Sie sah reizend aus in der Morgensonne. Ihr blondes Haar glänzte golden im Sonnenschein, und sie war noch so jung, kaum siebzehn Jahre!

»Hab' ihn schon gesehen heute, den Herzallerliebsten der schönen Rosel!«

»Was? Wen?«

»Den aparten Schatten Wilhelm! Er kommt morgen in den Garten zu den Kirschen, und vor allem zu seiner Rosel!«

Rosel hielt inne mit Schütteln und sah ihn an mit ihren großen blauen Augen, als verstünde sie ihn nicht. Er aber erlaubte sich eine Armbewegung wie eine Kußhand, und mit verliebten Augen ging er weiter.

Heilloser Kiesel, was kannst du da angerichtet haben. Rosel ist gar nicht der Schatz des Schatten Wilhelm, sondern die mittlere Schwester ist's, die Dorel, die aufgeweckteste der drei Schwestern. Wenn die hört, daß der Wilhelm mit der Rosel scharmuziert – o! sie ist sehr heftig, du heilloser Kiesel!

Er aber ging unbesorgt in seine Wohnung, eine Stube nach dem Hofe, angefüllt mit Arbeitstisch und Geräten der Buchbinderei, welche jetzt der Sohn Fritze erlernen sollte, und mit drei Betten. Er hatte ja auch eine Tochter, welche er für heiratsfähig ausgab. Bei diesem Worte pflegte er still zu seufzen; aber er behauptete mit Nachdruck, die Jette sei eine vortreffliche Wirtschafterin. Darin hatte er recht, denn sie führte sein Hauswesen dürftig, aber siegreich, obgleich er ihr selten einen Groschen Geld verabreichte.

Sie erwartete ihn jetzt mit einem Töpfchen Kaffee, und er versuchte auch, denselben zu trinken. Aber es mißlang. Denn er war von dem täglichen Herumschlecken ein Gourmand geworden und rief: »Jette, das ist ja doch blanker Cichorien!«

»Ja, Vater. Mehr kann ich nicht bezahlen. Du hast mir ja seit acht Tagen –«

»Das verfluchte Geld! – Bring mir den Stiefelknecht! Ich will mich noch ein Stündchen aufs Bett legen; vor zehn kommt doch niemand aufs Rathaus. Und ich bin so zeitig aufgestanden; ich muß mich erholen.«

Er zog die großen Stiefeln aus, welche die Lederhosen bis ans Knie bedeckten, entledigte sich des Oberkleides, welches ein rund und lang geschweifter Frack war, dessen Ränder von langem Gebrauche glänzten, und zog eine schwarzwollene Zipfelmütze über das zurückgestrichene, ein wenig angegraute Haupthaar, welches hinten in einen dicken kurzen Zopf mündete. Die eigentlich weiße, aber schon lange nicht mehr ganz weiße, sehr lange Weste behielt er an, legte sich auf den Rücken ins Bett und fragte nur noch: »Wo ist der Taugenichts, der Fritze?«

»In den Klosterbusch nach Käfern. Er sammelt.«

»Sammelt? Dummer Junge!« und so schlief er ein und schlief den Schlaf des Gerechten, obwohl er eigentlich kein Gerechter war.


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