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12.

Wilhelm erwachte am nächsten Morgen spät aus einem kurzen Schlummer, welchen er endlich gefunden.

Niedergeschlagen, ja verstört war er von Keller hinweg bis zum Walde hinausgelaufen. Ein einziger Gedanke war fortwährend auf und nieder gegangen in ihm: Sie hat gelächelt, als sie dich da am Wagen gesehen, nicht, wie du dachtest, aus Wohlwollen für dich, nein, sondern weil sie seelenvergnügt gewesen über ihre Verlobung mit diesem Julius. Du warst für sie ein gleichgültiges Geschöpf, welches da zufällig in ihre Nähe kam, ein Geschöpf, welches ihr Lächeln nicht einmal unterbrach!

Als er den Wald erreicht hatte, war er umgekehrt. Hier hatte er erst erkannt, daß er auf dem Wege zu jenem Hochwalde wäre, wo er sie gefunden. Gefunden? Ach nein! An diese Stätte wollte er nicht wieder treten.

Den Rückweg hatte er über die Viehweide genommen, um jeder Begegnung am Schießhause auszuweichen.

Daheim hatte er sich aufs Bett geworfen, nach dem Schlafe lechzend, welcher ihm Gedankenlosigkeit bringen sollte. Gedankenlosigkeit!

Erst, als schon der Tag graute, war er eingeschlummert.

Als er aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Er hatte, wenn auch nicht lange, fest geschlafen; es war still geworden in ihm, und eine Ablenkung trat ins Zimmer: ein Bote mit einem Briefe. Er kam aus der nächsten Stadt von seinem Freunde Regel. Dieser Brief enthielt nur die wenigen Worte: »Ich bitte Dich, lieber Wilhelm, um einen Freundschaftsdienst. Wenn Du irgend kannst, so reite eiligst zu mir herüber. Ich bin in trauriger Lage und bedarf Deiner Hilfe.«

»Auch du!« seufzte Wilhelm und ging augenblicklich in den Stall, um sein Pferd zu satteln.

Als er zum Wassertor hinausritt, begegnete ihm Keller, der von seinem Garten in Gelsendorf hereinkam. Es hatte die ganze Nacht geregnet, und er hatte seine Pflanzen besichtigt.

Keller meinte, ihm was Tröstliches sagen zu können. Er erzählte ihm kurz – denn Wilhelm wollte fort – die überraschende Geschichte von Julius und Amélie im Kirchel, und daß dieser Vorfall großes Aufsehen erregt habe. Auch Frau Lamprechtin, welche Keller noch gesprochen, habe sich betroffen gezeigt, und es sei nicht unmöglich, daß übermorgen das Aufgebot in der Kirche unterbleibe. Wenn es auch nur verschoben werde.

Wilhelm schien nur zerstreut zuzuhören. Er hatte keine Fähigkeit, neuerdings an eine glückliche Wendung zu glauben. Das Lächeln Dorels war nicht wegzudrängen. Er wiederholte also, daß er Eile habe, und ritt fort.

An demselben Freitagvormittage ging es aber scharf her im Lamprechtschen Hause. Er fing ganz friedfertig an. Lamprecht saß in Hemdärmeln auf dem Stuhle, und seine Frau flocht ihm den Zopf. Beide schwiegen. Dorel reinigte draußen im Hofe ihr gestriges Ballkleid vom Straßenschmutze, welcher beim Nachhausegehen nicht hatte vermieden werden können, weil der Erdboden vom Regenwetter aufgeweicht gewesen.

Als der Zopf festgebunden war, sprach die Frau mit sanfter Stimme: »Heute, Lamprecht, muß der Zettel mit dem Aufgebote in die Kirche. Soll's denn jetzt noch bei den zwei Aufgeboten bleiben, wie du gewollt hast?«

»Freilich!«

»Und die Geschichte mit dem schönen Fräulein und dem Julius in dem dunklen Kirchel macht dich nicht stutzig?«

»Gar nicht. Eine dumme Tür, die zufällt, weiter ist's ja nichts.«

»Die Leute stecken aber die Köpfe zusammen über die Geschichte.«

»Lass sie!«

»Na, na! Wir sind ja gar nicht einmal sicher, ob denn auch wirklich der Julius aufgeboten werden will mit dem Dorel, ob er nicht am Ende …«

»Wieso?«

»Dorel sagt, er hätte noch kein Wort gegen sie verloren über die Sache, und mit seinem Vater, dem Herrn Primarius, haben wir ja auch noch nicht gesprochen.«

»Gestern hab' ich mit ihm gesprochen; er war im Honoratiorensaale und hat mir gratuliert.«

»Und da hast du gefragt, ob …?«

»Gefragt! Gefragt! Wer fragt denn unsern frommen geistlichen Herrn neben dem Tanzboden so geradezu!«

»Also nicht. Lamprecht, das ist keine Art, ein Aufgebot in die Kirche zu schicken. Eines wie das andere, der Herr Primarius und sein Sohn aus der einen Seite und unsere eigensinnige Dorel auf der anderen Seite könnten ja nein sagen.«

»Warum nicht gar! Das Mädel sollte sich unterstehen!«

»Wir wollen sie gleich fragen. Da steht sie im Hofe und putzt ihr Kleid rein. Dorel! komm herein!«

»Nichts da! Das Mädel hat zu gehorchen.«

»In allen christlichen Dingen, ja, und wenn die Sache ausgebacken ist. Das ist sie aber nicht, wie sich's zeigt. Komm her, Dorel, und leg' das Kleid hin. Dein Aufgebot mit dem Julius soll heute in die Kirche geschickt werden, du hast mir aber recht vorlaut gestern gesagt beim Nachhausegehn –«

»Daß alle Welt im Saale von dem Spektakel im Kirchel geflüstert hat, und daß ich mich nicht dazu hergebe, mit einem Manne aufgeboten zu werden, der einem andern Mädchen nachläuft und sich mit ihr einschließen läßt.«

»Er hat sich nicht eingeschlossen, die Tür ist zugefallen, und hineingegangen sind sie, weil's geregnet hat – das sind Possen –«

So sprach der Vater, und als Dorel antworten wollte, nahm die Mutter sie bei der Hand und sagte: »Vor allen Dingen, Kind, eins! Hat dir Julius einmal ausdrücklich gesagt, daß er dich heiraten wolle?«

»In seinem Leben nicht. Geschwatzt hat er alle Tage über alles mögliche, geschwatzt und gelacht, und ich hab' gewöhnlich nicht mitlachen können. Ich mag ihn nicht besonders.«

»Du magst, du magst! Mädel, was deine Eltern beschließen –«

»Die Mutter wird's nicht beschließen; fragen Sie nur die Mutter.«

»Du hast einen andern im Kopfe, heda!«

»Das weiß ich nicht.«

»Kommst du mir etwa gar mit dem mir verhaßten Schatten Wilhelm, dann sollst du was erleben.«

»Ich komme mit niemandem, Vater. Aber ich will Ihnen aufrichtig sagen, was ich mir heute nacht vorgenommen habe. Ich hab' mir vorgenommen: wenn ich von der Kanzel aufgeboten werde mit dem Julius, da steh' ich auf in unserm Kirchenstuhle und rufe ganz laut in die Gemeinde hinunter: Nein, nein, nein!«

Mit diesem unglaublichen Trumpfe lief sie aus der Stube.

Lamprecht stieß einen zornigen Schrei aus und sagte heftig: »So, das ist eine Erziehung, Frau Lamprechtin, das nenn' ich eine Erziehung, wie sie eine Hausfrau nicht verantworten kann. Ich hab's ja von Anfang an gesagt: so viel Mädel im Hause sind eine schwere Not. Gott sei Dank, daß ich einen Jungen habe. Pfui!«

Mit diesem »Pfui!« warf er den Stuhl um und ging hinaus, die Tür zuschlagend, daß alle Fenster zitterten.

So machen's die Tyrannen. Sie toben und schelten und lassen den Karren stehen, der doch weiterbewegt werden muß.

Frau Lamprechtin kannte das. Sie wußte aus Erfahrung, daß am Ende doch die Schuld ihr vorgeworfen wurde, wenn das Notwendige nicht getan worden war.

Nachdem sie eine Weile schweigend stehen geblieben war, nickte sie stark mit dem Kopfe und ging nach dem Vorderzimmer, wo sie ihr Bett und ihren Kleiderschrank hatte. Rosel, welcher sie im Hausflur begegnete, nahm sie mit sich. Sie sollte ihr helfen beim Umkleiden.

Zu Rosels Erstaunen zog die Mutter ihr halbseidenes braunes Kleid an, ließ sich eine schneeweiße Krause um den Hals legen, desgleichen eine ebenso weiße Haube aufsetzen und den baumwollenen Regenschirm in die Hand geben. Denn das Wetter war immer noch trübe.

Rosel fragte und fragte. »Das geht dich nichts an«, sagte die Mutter und trat ehrbar aus dem Hause, die Falten am Kleide ausglättend. Sie ging an der Ringseite hin nach der Kirchgasse.

Das konnte nicht unbemerkt geschehen. Man kannte die gemessene Frau Lamprechtin, und man wußte, daß es was zu bedeuten hatte, wenn diese an einem gemeinen Wochentage so angetan über die Gasse ging. Noch mehr: man wußte auch, was das zu bedeuten hatte. Das eingesperrte Paar im Kirchel draußen beschäftigte die ganze Stadt, und da die ganze Stadt wußte, daß die Dorel für den Julius bestimmt wäre, so fragte man sich: »Wird das nicht einen Spektakel geben?«

Man grüßte die Frau Lamprechtin bescheiden, ohne sie anzureden; man sah ihr nach, und als sie in die Kirchgasse eintrat, da wußte man, was sie vorhatte: sie geht zum Herrn Primarius. Wie wird das werden?

Auch Frau Klaus und Frau Keller erhielten Kunde von diesem Ereignisse. Ihre Häuser stießen hinten an den Schul- und Kirchenplatz. Sie verfügten sich also durch ihre Hintertüren flugs auf den Kirchenplatz. Sie verleugneten sich gegenseitig durchaus nicht, warum sie kämen; die Sache war ja sehr der Frage wert, und da glücklicherweise gerade der alte Küster vom Primarius herauskam und sie von ihm bestimmt erfuhren: Sie ist drin! so setzten sie sich auf die Bank vor dem Schulhause, um ihre Rückkunft abzuwarten.

Es dauerte eine halbe Stunde, ehe Frau Lamprechtin wieder heraustrat. So lange! Wird sie was sagen? Frau Keller und Frau Klaus standen auf von der Bank, um es ihr zu erleichtern. Umsonst! Sie blickte nur rückwärts auf die Kirche, und was sie da denken mochte, das wußte man schon. Warum hat unsere evangelische Kirche keinen Turm wie die katholische? Das pflegte sie immer zu fragen. Dann ging sie, freundlich grüßend, aber stumm an Frau Klaus und Frau Keller vorüber.

Diese beiden Frauen waren übrigens der einstimmigen Meinung: sie hat es mit dem Julius richtig gemacht, denn diese Verbindung war zu ehrenvoll, als daß man einer Klatscherei wegen von ihr abgehen sollte.

Die ganze Stadt war den Rest des Freitags und den galten Sonnabend fieberhaft gespannt auf das sonntägliche Aufgebot, und ob es wirklich ein zweifaches sein werde. Es wird! war die vorherrschende Meinung.

So kam der Sonntag, und es regnete in Strömen. Neun Uhr hatte es schon geschlagen, da ritt Wilhelm durchs Wassertor herein in scharfem Trabe. Noch nie war er auf dem schlechten Pflaster im Trabe geritten. Warum heute? Ach ja, er ist »patschnaß«, sagten die Leute, welche zur Kirche eilten, und vielleicht will er auch das Aufgebot anhören! Sie wußten wohl nicht, wieviel es ihn anging; aber es handelte sich doch um eines der schönsten Mädchen in der Stadt, das kümmerte doch alle Junggesellen.

Ob es ihn kümmerte! Die zwei Tage Abwesenheit hatten in unerwarteter Weise auf ihn gewirkt. Die Liebe stirbt so schwer; sie muß geradezu totgeschlagen werden. Heute herrscht Verzweiflung, morgen nur noch Zweifel, übermorgen erwacht ein Zuruf: Abwarten! Keine Ungerechtigkeit! Keine Übereilung!

Er hatte den Bericht Kellers über Julius und Dorel nur zerstreut angehört beim Fortreiten, aber er hatte ihn gehört, und der Vorgang kam ihm wieder und immer wieder in den Sinn, er wuchs und wuchs zu einem großen Baume voll Möglichkeiten empor. Die Möglichkeiten lauteten: Wenn Julius so vertraut mit Amélie gewesen, wie das Rendezvous in dem Kirchlein jetzt dargetan, so hat Dorel gewiß davon gewußt, denn einem Bräutigam gegenüber paßt man doch auf und ist man empfindlich. Dann hat sie aber doch nicht seelenvergnügt lächeln können über ihre Brautschaft mit Julius, dann ist ihr Lächeln mißgedeutet worden, dann, dann – schloß er – kann es ja doch noch dir gegolten haben.

Also, die Kirche! in die Kirche! Noch ist es ja wieder möglich, daß sie nein gesagt zu dem Aufgebote.

Er brachte rasch sein Pferd unter, er eilte auf sein Zimmer und kleidete sich um. Wie immer am Sonntag morgens waren seine Maurer und Handlanger da, um ihren Wochenlohn in Empfang zu nehmen. Er zahlte sie rasch aus und ging unter dem Regenschirm nach der Kirche.

Es schlug gerade zehn Uhr. Er kam also früh genug, denn bis dreiviertel auf elf dauerte die Predigt, und dann erst verkündete der Prediger die Aufgebote.

Als er eintrat, erschien just der Herr Primarius auf der Kanzel. So leise als möglich schlich er zum Gestühl seines Vaters, aber die Leute blickten doch alle auf ihn. Er war lange nicht da gewesen beim Gottesdienste und viele dachten wohl: Aha, der kommt wegen des Aufgebotes, wie heute alle Junggesellen.

Sein Vater saß im Gestühl, neben ihm die Mutter, neben dieser auch sein Bruder Christoph. Es war kein Platz mehr für ihn, er mußte am Rande des Gestühls stehen bleiben. Das war ihm gar nicht unerwünscht, denn er konnte von da besser hinaufschauen zu den Lamprechtschen Plätzen. Richtig! Dorel war da, die Mutter und Rosel neben ihr.

Was konnte er lesen von Dorels Angesichte? Nichts Günstiges. Die Züge waren wie von Stein, das Auge war starr auf ihn gerichtet, ja, auf ihn, das war nicht zu verkennen.

Das arme Mädchen! Es war in der übelsten Lage. Keller und Wilhelm hatten ihr unrecht getan, völliges Unrecht, als sie ihr Lächeln auf ihre Verbindung mit Julius bezogen hatten. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Sie hatte seelenvergnügt ausgesehen, weil Wilhelm sich ihr wieder liebevoll genähert beim Einsteigen in die Klosterkutsche, und in seine dargebotene Hand hatte sie die ihrige nur darum nicht gelegt, weil die Mutter und die Schwestern so was nicht sehen sollten. Von der Ankündigung ihres Aufgebots mit Julius, welche ihr Vater beim Abendschmause ausgesprochen, hatte sie gar nichts erfahren; sie war Donnerstags, am zweiten Festtage, voll glücklicher Hoffnung gewesen. Heute – hatte sie gedacht – wird es ihm endlich gelingen, mit dir zu sprechen! Sie hatte ihn kommen sehen, als der Husar sie zu ihrem Sitze gebracht, sie hatte ihn mit den Rittergutsbesitzern reden und mit Keller fortgehen sehen. Und nun war er nicht wiedergekommen! Weder des Nachmittags noch des Abends. Das hatte sie arg erschreckt. Was war das? Dieser letzte Festtag bot ja die einzige Möglichkeit zu einer Annäherung, und da blieb er verschwunden! Warum? Auf einmal hatte sie den Vorgang im Kirchel erzählen hören, das verfängliche Rendezvous des Julius und der Amélie, und nun war der alte Eifersuchtsgedanke wieder aufgesprungen in ihr und hatte ihr zugeflüstert: Diese Amélie liegt ihm doch im Herzen, und weil er sie plötzlich wieder so eng verbunden sieht mit Julius, deshalb ist er verstockt worden, deshalb bleibt er verschwunden. Darum hatte sie – denn sie war ja wieder ganz unsicher geworden – darum hatte sie auf des Vaters Frage: Du liebst einen andern? geantwortet: Das weiß ich nicht. Und nun saß sie auf ihrem Kirchenstuhle in unbeschreiblicher Not, denn auch sie wußte nicht, ob sie jetzt nach der Predigt von der Kanzel aufgeboten würde oder nicht.

Die Mutter war sehr böse auf sie, weil sie so ungezogen widersprochen und fortgelaufen war.

Strafe muß sein! war auch bei dieser braven Mutter ein Grundsatz der Erziehung. Sie – Dorel – hatte aus Trotz die Mutter nicht zu fragen gewagt, was mit dem Primarius abgemacht worden wäre, und die Mutter wollte sie strafen durch die Angst, welche sie jetzt ausstand. Daß sie aufstehen und Nein! rufen werde, das glaubte die Mutter nicht, und Dorel selbst gestand sich jetzt schweratmend, daß sie dazu wohl nicht den Mut haben würde, einen Kirchenskandal zu erregen. Die Ehrfurcht vor der Kirche war ihr ja von Kindheit auf anerzogen. In dieser Pein, des Schlimmsten gewärtig, blickte sie starr hinab auf Wilhelm, um dessen Person sich ja all ihr Jammer bewegte. Warum war er denn gekommen? Sie wußte es nicht. Sie wußte nichts mehr.

Von alledem ahnte freilich Wilhelm nichts. Von den Seinigen wurde übrigens auch er nicht begrüßt. Seit der heftigen Szene draußen in Gelsendorf war er nicht wieder hinausgekommen, und Mutter wie Bruder mochten wohl abwarten wollen, wie sich der Vater benehmen würde.

Dieser sah fest auf die Kanzel und bemerkte ihn erst nach einer Weile. Da zuckte es ein wenig in dem strengen Antlitze des Alten, und er griff in die Tasche seines alten Kleides, um ein zusammengefaltetes großes Papier herauszuziehen. Dies reichte er über die Mutter und Christoph hinweg dem Wilhelm und sagte leise: »Da siehst du, wie klug du gewesen.«

Wilhelm faltete es langsam auseinander, um kein Geräusch zu machen, und sah, daß es ein Schreiben des Herrn Stammbach war, mit der Anzeige: »Die Klage der Stadt gegen Sie ist abgewiesen, weil sie kein hinreichendes Grundrecht nachweisen kann; Ihr Prozeß ist gewonnen.«

»So schnell!« sagte Wilhelm halblaut, und der Alte zuckte geringschätzig die Achseln, die Hand wieder ausstreckend nach dem Papier. »Ein gutes Zeichen!« dachte Wilhelm und suchte sich zu sammeln für die Predigt. Das gelang ihm indessen nicht. Er konnte überhaupt einer langen Rede nicht aufmerksam folgen, und Dorel da oben, deren starres Gesicht sich nicht regte, beschäftigte ihn doch viel zu sehr.

Die Gemeinde dagegen hörte mit sichtlicher Aufmerksamkeit zu. Sie liebte den kleinen Mann da oben, den Herrn pastor primarius, ungemein, und sie schaute unverwandt auf sein rosenrotes Antlitz, welches der Puder auf dem kahlen Scheitel so schön erhöhte. Sie hörte mit Befriedigung auf die wohlklingende Tenorstimme, welche so einschmeichelnd war. Er predigte gar nicht geistreich, der kleine Herr – das wäre auch nicht angebracht gewesen – er sprach ganz einfach von der Güte Gottes und vom Herzen der Menschen, welche sich offen halten möchten für Geduld und Hoffnung, denn redlicher Sinn fände stets Erhörung vor dem Throne des Ewigen.

Durch solch warmes menschliches Wesen war dieser Geistliche nicht nur allgemein beliebt, nein, er war geliebt wie ein Vater, welcher die Gemeinde treu und innig mit dem Schöpfer Himmels und der Erde vermittle und verbinde.

Wenn dem hochwürdigen Herrn da oben auf der Kanzel etwa einmal der Faden abriß in der freien Rede – das kam wohl vor – dann sprach er langsam diesen oder jenen Vers von Gellert oder Paul Gerhard, und man freute sich dieser Verse, denn man kannte sie. Sie kamen regelmäßig wieder, und die Gemeinde sprach sie ganz leise andächtig mit, stolz darauf, sie auswendig zu wissen. Unterdessen mochte sich der Geist des Predigers wieder gesammelt haben, und er fuhr dann herzlich in seinem unterbrochenen Thema fort.

So war's auch heute; Paul Gerhard kam daran, und die Klügeren fanden es begreiflich; man erwartete ja das Aufgebot seines Sohnes; das konnte wohl den predigenden Vater ein wenig zerstreuen, und er endigte, wie immer, zu früh für die Zuhörer.

Nun entstand sofort ein gewisses Summen, als er seitwärts nach hinten griff und Papiere von da auf das kleine Brettchen vorn auf die Kanzel legte. Das waren die Aufgebote.

Eine allgemeine Spannung machte sich bemerkbar durch eine Totenstille. Jedermann, nicht bloß Wilhelm, blickte auf Dorel, welche die Augen niederschlug und den Kopf senkte. Und nun verkündigte denn der Herr Primarius das Aufgebot des Fleischhauers Walter mit Jungfrau Eleonore Lamprecht, und dann –

Allgemeine Bewegung! Er griff nach einem zweiten Blatte. Die zwei Schwestern, meinte man, würden wohl auf einem und demselben Blatte stehen – also! Die ganze Kirche wurde unruhig; der Herr Primarius aber las mit derselben Stimme: »Der Bauer Jansch aus Wittendorf mit Rosina –«

Rosinens Zuname blieb unverständlich vor einem allgemeinen leisen »Ah!« der Gemeinde.

Wilhelm aber sah mit Entzücken, daß Dorel den Kopf erhob, die Augen weit aufschlug und ganz rot geworden war; er meinte sogar Tränen über ihre Wangen rinnen zu sehen.

Mit einem leisen »Adieu!« für seine Familie verließ er rasch die Kirche, um sich draußen an der Tür aufzustellen. Da mußte sie an ihm vorüber, nahe an ihm vorüber – dafür wollte er schon sorgen! – da gewann er vielleicht ein Zeichen.

Sie kamen auch, die weiblichen Lamprechts. Zuerst Lorel mit ihrem kerngesunden Walter, welche beide ganz vergnügt umschauten. Dann Dorel, die Mutter und Rosel, Dorel auf seiner Seite. Er grüßte warm, die Mutter nickte in geringem Maße, ohne ihn anzublicken, Rosel nahm gar keine Notiz von ihm. Dorel aber blickte ihn an mit vollem, wie es ihm schien, feuchtem Blicke und neigte den Kopf sehr. Dabei fiel ihr das Gesangbuch aus der Hand. Geschwind bückte er sich, hob es auf und reichte es ihr, zufällig dabei ihre Fingerspitzen berührend. Das brachte, ja es brachte ein Zittern ihrer Hand, ihres Armes hervor, sie schien betroffen zu sein, sagte aber doch klar und deutlich: »Ich danke.« Die Mutter flüsterte unwillig: »Nimm dich doch in acht!«

Solch ein Verliebter braucht doch herzlich wenig Nahrung, ihm genügt eine Kleinigkeit, welche ein anderer gar nicht bemerken würde. Gelehrte nennen das ein »Fluidum«, welches Liebesleuten gemeinsam wäre. Was ist »Fluidum?« Ein rätselhafter Hauch, welcher durch die Nerven fliegt.

Wilhelm schloß aus diesem Hauche: Sie zürnt nicht mehr, nun müssen entscheidende Schritte von dir folgen.


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