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Am nächsten Tage nach dem Mittagessen sagte Frau Keller traurig: »Lieber Herr Schatten, ich weiß nicht mehr, was ich kochen soll, Sie essen ja immer weniger.«
»Am Ende wird er gar nichts mehr essen,« fuhr rasch Herr Keller fort, »wenn wir nicht da drüben den Knoten entzweischneiden.«
Wilhelm erwiderte nichts, er achtete nicht darauf und schritt von dannen, dem Tore zu: er wollte zum Spittelbau. Keller blieb an seiner Seite. Er wollte zur Frau Lamprechtin, mit welcher er ein Rechnungsgeschäft zu erledigen hatte. Damals hatte er den Ausschank des Lamprechtschen Schützengebräus übernommen, weil bei Lamprechts der Kegel nicht ausgesteckt werden konnte. Das Lamprechtsche Haus war ja ganz verstört gewesen. Jetzt trug er die Abrechnung zur Frau Lamprecht, sagte aber Wilhelm nichts davon. Erst am Tore, wo er rückwärts in die Fremdengasse einbog, ließ er die Worte fallen: »In einer halben Stunde bringe ich Ihnen Bescheid zum Spittelbau.«
»Bescheid? Worüber?«
»Ich sag's Ihnen nachher, wenn's abgemacht ist.«
Wilhelm fragte nicht weiter. Draußen stieg er aufs Gerüst hinauf, um an der Fassade zu malen. Mechanisch, ganz mechanisch. Das Zusammentreffen mit Dorel hatte alles in ihm aufgewühlt von Sehnsucht und Liebesschmerz, er war unfähig zu irgend einer Arbeit, auch zu einer bloß mechanischen. Er warf nach einiger Zeit den Pinsel weg und stieg herab, um auf den Kirchhof hinüber zu gehen, ob sein Stämmchen auch noch fest stünde; es wehte ein starker Wind.
Da kam aber Keller schon wieder vom Tore her, die halbe Stunde war vergangen. Er winkte schon von weitem, und als Wilhelm unten ankam an der letzten Sprosse der Leiter, war er bei ihm und sagte: »Na also, das wäre abgemacht.«
»Was denn?«
»Lieber Freund, das mußte zu Ende gebracht werden. Sie sterben uns ab. Sie müssen heiraten, um auf andere Gedanken zu kommen. Ausgesucht hätte ich die schöne Male in der ›Krone‹ nicht gerade für Sie, aber sehr hübsch ist sie allerdings und sehr lustig. Das ist nicht zu verachten für Ihre Kopfhängerei. Außerdem sagt die ganze Stadt, daß sie in Sie vernarrt ist, und das ist auch was wert. Das wird Ihnen gut tun. Um nun geschwind zum Ziele zu kommen, mußte bei Lamprechts reiner Wein eingeschenkt werden. Denn solange Sie denken: die Dorel hofft noch, so lange kommen wir nicht von der Stelle. Da hab' ich also den reinen Wein eingeschenkt. Die Dorel war wie bestellt neben der Mutter, und ich hab's denn geradeheraus gesagt: Der Schatten Wilhelm hat sich kurzweg entschlossen, des Justizrats Tochter in der ›Krone‹ zu heiraten.«
»Was?!«
»Jawohl. Denn, hab' ich zugesetzt, der junge Baumeister braucht für sein neues Haus eine Hausfrau.«
»Keller!«
»Freilich ist das arme Dorel bleich geworden wie eine weiße Schürze und hat sich niedergesetzt. Leid getan hat mir's auch. Aber nun ist klares Wasser da, nun können Sie unbekümmert vorwärts gehen und ein neues Leben anfangen. Jetzt wissen Sie den angekündigten Bescheid, und morgen mittag sprechen wir weiter.«
Keller sah es nicht oder wollte es nicht sehen, daß Wilhelm eine heftig abwehrende Bewegung mit der Hand machte, und ging fort.
Es standen da im Hausflur ein paar alte Schemel. Erschrocken und ungehalten sank Wilhelm auf den einen und nahm den Kopf in die Hand. Was hatte der gute Freund Keller da angerichtet! Törichte Dinge, welche dem armen Dorel neuen Kummer bereiten mußten. Aber konnte Wilhelm ihr sagen lassen, es sei nicht wahr? Das konnte er nicht. Das hätte die wirklich aufgegebene Verbindung mit ihr nur nutzlos wieder angeknüpft – es war ihm kläglich zumute.
Da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er blickte in die Höhe und sah den Baron vor sich stehen. Er stand auf.
»Sitzen bleiben, Herr Schatten! Hier ist ja auch ein Schemel für mich. Ich hab' Ihnen viel zu sagen. Bin eben dem Keller begegnet, der hat mich hergewiesen. Also ohne Umstände an die Hauptfrage, welche ja in der ganzen Stadt, also auch mir bekannt ist. Sie lieben das junge Mädchen, und es liebt Sie wieder. Der Vater, der Fleischhauermeister, hat in Torheit und Tollheit gegen Sie gewütet, und da liegt das Hindernis. Es muß beseitigt werden.«
»Es ist nicht zu beseitigen.«
»Vielleicht doch. Sehen Sie, solch eine kleine Stadt hat viele Nachteile. Die Bürger verstocken sich in ihr und bleiben in allen Dingen zurück. Aber sie haben doch einen Vorteil davon, den Vorteil einer engen Gemeinschaft. Diese hält den sittlichen Sinn eng zusammen und bewahrt ihnen die Religion. Diese Bürger haben noch Religion. Daß zweierlei Glaubensbekenntnisse hier herrschen, das evangelische und das katholische, das ist auch ein Vorteil. Beide sind eifersüchtig aufeinander und sorgen dafür, daß in ihren Gemeinden nichts Unmoralisches aufkommt, worüber die andere Gemeinde triumphieren könnte. Der wilde Fleischhauer aber gebärdet sich unmoralisch. Da haben wir denn übrigens noch einen Hauptvorteil, wir Evangelischen, wir haben den Pastor Primarius. Der ist allgemein verehrt und geliebt. Was der Mann anrät mit seiner wohltuenden Salbung, das wird den Leuten ein religiöses Gesetz, und einem solchen Gesetze soll auch der wilde Lamprecht unterworfen werden.«
»O nein.«
»O ja. Man weiß in dieser kleinen Stadt nichts von der Freigeisterei des vorigen Jahrhunderts, man weiß nichts von einer Göttin der Vernunft, nichts von einem Spötter Voltaire. Man kennt seinen Namen nicht, man glaubt dem Pastor Primarius aufs Wort. Zu ihm geh' ich jetzt, denn Ihnen muß geholfen werden, Sie sind ein talentvoller und fleißiger junger Mann. Halten Sie sich bereit, mit mir ins Lamprechtsche Haus zu gehen, wenn ich Sie rufe.«
»Verzeihung, Herr Baron, das kann ich nicht und das tue ich nicht.«
»Nun sind auch Sie eigensinnig!«
»Ja.«
»Na, Geduld, ich bring' Sie doch noch hin. Heben Sie vorläufig nur den Kopf in die Höhe und machen Sie das Hospital fertig, es werden schon zwei Insassen angemeldet. Jetzt, Adieu! Auf Wiedersehn.«
Und der kleine ältliche Herr schob sein gläsernes Auge zurecht und trippelte von dannen, geradenwegs nach dem Kirchenplatze hin. Dort sah er den Primarius an seiner Haustür stehen. Er rauchte aus einer langen Tabakspfeife.
Der Baron winkte ihm schon von weitem; der Primarius stellte seine Pfeife weg und kam ihm entgegen. Beide Herren gingen nun wohl eine Viertelstunde lang auf dem Kirchenplatze umher, trotz des unbequemen Windes, und als sie sich trennten, sagte der Baron: »Also den alten Bauer draußen brauchen wir auch?«
»Ja, Herr Baron, notwendig. Die Feindschaft zwischen den beiden Alten ist die Grundlage dieses unsittlichen Streites. Ich laß ihn übermorgen – er kommt regelmäßig in die Kirche – durch den Küster in die Sakristei rufen, sobald meine Predigt zu Ende ist, und ich werde um dreiviertel auf elf endigen. Dann nehm' ich ihn vor und bring' ihn mit hieher in mein Haus. Hier bitt' ich den Herrn Baron zu warten, und zusammen wandeln wir dann zu dem wilden Manne.«
So schieden sie. – Übermorgen, der Sonntag, kam –
Als beim Amen der Küster zum Gestühle des alten Schatten trat und diesen nach der Sakristei berief, sah dieser den Küster mit großem Erstaunen an. Er war gar nicht aufgelegt zu friedfertigen Dingen; die bedrohlichen Nachrichten über seinen Prozeß machten ihn eher geneigt zum Dreinschlagen. Aber gegenüber dem auch von ihm hochgeschätzten Herrn Primarius folgte er doch der Einladung und verhielt er sich doch ruhig und hörte aufmerksam zu.
Nach kurzer Einleitung sprach der Primarius mit sanfter Stimme: »Sie hegen, lieber Herr Schatten, eine alte Feindschaft gegen den Fleischhauermeister Lamprecht –«
»Jawohl, und eine rechtschaffene.«
»Feindschaft hegen ist jedoch nicht christlich.«
»Das mag sein. Aber wer hat denn unsere christliche Kirche gestiftet? Der Doktor Luther, nicht wahr? Nun, der Doktor Luther hegte auch Feindschaft gegen die Götzendiener, und der Doktor Luther war doch der beste von allen und ist und bleibt es.«
»Ja, ja. Aber als Gründer unserer evangelischen Kirche verwies er mit Recht immer auf das Evangelium, und das Evangelium lehrt: Tilget jede Feindschaft aus euren Herzen und stiftet Frieden untereinander. Als evangelischer Christ werden auch Sie das wollen.«
»Ja, wie denn? Der Fleischer ist grob gegen mich gewesen wie eine Holzaxt.«
»Darauf haben Sie ihm in offener Versammlung der Stadtverordneten ein schlimmes Spottwort zugerufen.«
»Hanswurst hab' ich gesagt. Das hat er verdient.«
»Das muß in evangelischem Sinne ausgeglichen werden. Er wird sein grobes Wort zurücknehmen, und Sie werden Ihr Spottwort zurücknehmen.«
»Ich glaube nicht, daß der Doktor Luther dies getan hätte.«
»Aber ich, lieber Schatten, glaub' es, und ich kenne auch den inneren Sinn des Dr. Luther.«
»So?«
»Ja. Und ehrlich ja. Wenn wir Frieden stiften, so handeln wir im Geiste unseres verehrungswürdigen Stifters, des Doktor Martin Luther.«
»Na gut; Sie sind ein frommer Herr und müssen das eigentlich doch besser verstehen, als ich. Aber wenn der Fleischer Umstände macht –«
»Er wird keine machen. Folgen Sie mir nur getrost, Herr Schatten.«
Er folgte, nicht eben gern. Vor dem Predigerhause fanden sie den Herrn Baron, und nun gingen die drei bejahrten Männer durch die Kirchgasse, über den Ring und traten ins Lamprechtsche Haus.
Wer sie sah, war höchlichst überrascht. Der Herr Primarius im geistlichen Ornate, in der weiten schwarzen Reverende, welche der Wind bewegte, mit den weißen Bäffchen abwärts vom Halse und mit dem hohen schwarzen Sammetbarett auf dem Kopfe! Liegt der Lamprecht im Sterben und soll er versehen werden? fragte man. Aber dazu paßt doch der alte Schatten nicht! Und der Herr Baron auch nicht! Der geht ja gerade den Sterbenden gern aus dem Wege!
Dem Lamprecht war es in den letzten Tagen etwas leichter geworden, darum hatte er sich in der einsamen Vorderstube gar zu sehr gelangweilt und hatte sich auf dem Polsterstuhle in die Hinterstube tragen lassen. Dort hörte und sah er doch alles, was in der Wirtschaft vorging.
Jetzt wollten die Mädchen just den Tisch decken zum Mittagessen, da stürzte die immer stürzende Hanne herein – auch jetzt zum Ärger Lamprechts – und ließ noch dazu die Tür angelweit offen – ganz erschrocken ins Zimmer rufend: »Der Herr Primarius!«
Dieser trat ein, der Baron und Schatten hinter ihm. Lamprecht wollte sich vor dem Herrn Primarius erheben, es wurde ihm aber schwer, und der Herr Primarius sagte sogleich: »Bleiben Sie ruhig sitzen, lieber Herr Lamprecht, und wir bitten auch die würdige Ehefrau, meine werte Bekannte, hier zu verbleiben.«
Die Mädchen entfernten sich; Hanne rückte auf Geheiß der Frau drei Stühle herbei und eilte bestürzt hinaus. Die Herren setzten sich im Halbkreise vor Lamprecht hin, der Primarius in der Mitte. Die Frau blieb abseits stehen.
Die Worte schwach betonend sprach nun der Herr Primarius: »Mein lieber Herr Lamprecht! Die unerforschlichen Ratschlüsse des Himmels haben Sie hart betroffen und Ihren hoffnungsvollen Sohn von der Erde hinweggenommen.«
Lamprecht stöhnte auf.
»Ihr tiefer Schmerz war begreiflich. Haben Sie in demselben nicht aber doch außer acht gelassen, daß unsere evangelische Lehre Unterwerfung vorschreibt unter die Ratschlüsse des ewigen Gottes unseres Herrn? – Ja, lieber Lamprecht, das haben Sie außer acht gelassen, und deshalb hat die Strafe des Herrn sofort Ihren Leib gelähmt, so daß die Pforte des Todes offen zu stehen scheint für Sie.«
Lamprecht versuchte sich aufzurichten, sank aber zurück.
»In diese schmerzhafte Auflehnung gegen das Gericht Gottes haben Sie leider Rachegedanken eindringen lassen gegen unschuldige Nebenmenschen. Die Rache ist mein! sagt der Herr. Dies heilige Wort haben Sie vergessen. Nehmen Sie es jetzt auf in Ihren Sinn, wie jeder gute Christ soll. Stoßen Sie heraus aus Ihrer Seele jeden Rachegedanken! Ihre Seele wird dadurch erleichtert werden, und die erleichterte Seele wird dem kranken Leibe Erholung bringen.«
Lamprecht öffnete seine Augen weit.
»Die Familie Schatten, gegen welche Ihr Zorn gerichtet ist, komm Ihnen mit Verzeihung entgegen. Der ältere Herr Schatten hier ist bereit …«
»Das heißt, Herr Primarius …« erhob sich unwirsch der alte Schatten.
»Das heißt, lieber Herr Schatten,« unterbrach ihn der Primarius, »Sie sind bereit, wie Doktor Luther zu handeln, und dem irrenden Gegner die Hand zur Versöhnung zu bieten.«
»Hat das der Doktor Luther getan?«
»Das hat er mehr als einmal getan, und unser reumütiger, die Gerechtigkeit des Himmels anerkennender Freund Lamprecht wird die Spottrede vergessen, welche Ihnen im Ratssaale entschlüpft ist, verzeihen und vergessen. Zur Bekräftigung werden Sie einander die Hände reichen als christliche Brüder.«
Es entstand eine Pause. Weder Schatten noch Lamprecht streckte die Hand aus.
»Ich bitte, als Ihr evangelischer Seelsorger!« – sprach mit starker Stimme der Primarius und ergriff mit der einen Hand die des alten Schatten, mit der andern die Lamprechts, welche beide sich eigentlich nur ziehen ließen. Auf einen kräftigen Druck des Primarius sagte endlich der alte Schatten: »Meinetwegen!« und Lamprecht stieß einen unartikulierten Laut hervor.
»Nun, lieber Lamprecht« – fuhr der Primarius fort – »nun kommt Ihre Hauptschuld. Denn gegen den jungen Herrn Schatten, gegen Schatten Wilhelm, haben Sie wirklich in Ihrer Verstörung Gott vergessen. Ihm sind Sie geradezu Abbitte schuldig, wenn ich Sie noch als ein braves Mitglied unserer Gemeinde ansehen soll. Herr Schatten Wilhelm war der wärmste Freund Ihres Sohnes, und ihm haben Sie – lassen Sie mich das gotteslästerliche Wort verschweigen – ihm haben Sie ein Unrecht angetan, welches unsere ganze Gemeinde mit Schrecken erfüllt, ja, welches uns Evangelische bloßgestellt bei den Katholischen. Bedenken Sie das! Heut oder morgen werden Sie vor Gottes Thron stehen und sich verantworten müssen. Für Ihr Wort des Grimmes gegen Schatten Wilhelm fände sich keine Verantwortung. Eilen Sie also, sich von diesem Worte zu befreien! Lassen Sie den jungen trefflichen Mann hierher bitten und strecken Sie ihm beide Hände entgegen. Er wird verstehen, was Sie meinen, und wird Ihnen vergeben. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! sagt unsere heilige Schrift. Lamprecht! Kann ich mich erheben mit der Überzeugung, daß unser Lamprecht seinem treuen Seelsorger Genüge leisten werde?«
Es folgte derselbe unartikulierte Laut Lamprechts, nur daß jetzt sein Haupt auf die Brust sank.
Die drei Herren standen auf und gingen. Frau Lamprechtin verbeugte sich. Der Herr Baron jedoch und der alte Schatten schüttelten ihre Köpfe, indem sie zurückblickten auf Lamprecht.
Frau Lamprechtin sah lange schweigend auf ihren Mann hin. Dann brachte sie ein Fläschchen mit Kornbranntwein, bestrich mit dieser Flüssigkeit die Stirn ihres Mannes, hob seinen Kopf in die Höhe und sagte: »Es hat dich angegriffen, August. Natürlich, 's ist eben doch ein Mann Gottes.«
Bei diesen letzten Worten erst öffnete er die Augen und schaute sie an.
»Soll ich gleich« – fuhr sie fort – »nach dem Schatten Wilhelm schicken? Oder erst nach dem Essen?«
»Schlafen! Schlafen bis morgen früh!« – erwiderte er halblaut und legte den Kopf an den gepolsterten Backen des Stuhles, die Augen wieder schließend.
Die drei Herren hatten sich vor der Haustür getrennt, und der Herr Primarius war allein über den Ring nach Hause gegangen. An der Kirchgasse begegnete ihm der Apotheker. Diesem Gebildetsten unter den Katholiken der Stadt fühlte sich leider der Herr Primarius berufen, Mitteilung zu machen von dem Triumphe evangelischen Glaubens, welchen er soeben errungen zu haben glaubte. Er erzählte ihm also den Vorgang in Kürze, und daß Lamprecht nun bereit wäre, den Schatten Wilhelm in sein Haus zu bitten und ihm Abbitte zu leisten.
Lächelnd war der Herr Primarius nach dieser Mitteilung fürbaß gegangen, und der Apotheker war betroffen stehen geblieben.
»Sollte wirklich«, sagte sich der Apotheker, »ein ketzerischer Geistlicher diese höhere Macht besitzen, wie kaum unser verstorbener Probst und unser jetziger Erzpriester, welchen das Fegefeuer und die Höllenstrafen zu Gebote stehen als Bedrohung? Nein, nein! Das ist nicht glaublich.«
Sofort erzählte er es einigen Glaubensgenossen. Sie glaubten es ebenfalls nicht und erzählten es weiter unter den ihrigen. Keiner glaubte daran, und nicht alle unterließen Stichelreden gegen die Evangelischen, welche ihrem Primarius eine unerreichbare Macht zuschrieben. So war bis zum Abende dieses Sonntags eine Aufregung in Gang gebracht zwischen den beiden Glaubensbekenntnissen, welche bedrohliche Formen annahm. Jede Partei stellte Wachen aus – Lehrbuben, junge Söhne, Dienstmädchen – zwischen dem Lamprechtschen und dem Hause Wilhelms, um zu erfahren, ob Botschaft gesendet würde für Wilhelm.
Bis in den späten Abend Sonntags bemerkte man keine Botschaft; auch Montag vormittags zeigte sich keine, keine! Die Katholischen lachten, die Evangelischen wurden bestürzt, die ganze Stadt war in Bewegung.
Keller, der Pfefferküchler, war ein gründlicher Evangelischer. Seine Vorfahren waren ja aus Böhmen ausgewandert, weil man sie mit dem Schwerte katholisch machen gewollt. Er hielt es nicht aus, bis zum Mittagessen am Montag zu warten, zu welchem Wilhelm vielleicht heute nicht käme – er ging zu Wilhelm selbst, um zu fragen.
Wilhelm saß am Reißbrette und zeichnete ein schloßartiges Wohnhaus, welches er vom Schützenfeste her für einen Rittergutsbesitzer zu bauen hatte, und er machte auf Kellers Frage eine geringschätzige Bewegung mit der Hand, in welcher er den Zirkel hielt. Für ihn war dieser ganze Bekehrungsversuch an Lamprecht ein Märchen, ein geistlicher Irrtum. Für ihn war der Fleischhauermeister Lamprecht ein knochenharter Mann, welcher die Berührung mit solchem Ansinnen trocken abschütteln würde. Ihn peinigte nur unausgesetzt die Torheit, daß Keller seine Verheiratung mit Amélie Stammbach im Lamprechtschen Hause angekündigt und dadurch Dorel niedergeworfen hatte. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen, in diesem Punkte war er jetzt anderer Meinung als damals. Wenn Dorel auch für ihn verloren war, solch einen rohen Abfall sollte sie doch nicht von ihm glauben – so dachte er jetzt, und er war überzeugt, daß sie bitterlich leiden mußte unter jener Nachricht Kellers. Er antwortete also Keller mit Nachdruck: »Niemand ist bei mir gewesen und niemand wird kommen; aber ich fordere jetzt von Ihnen, der Sie von meiner Verheiratung in Dorels Gegenwart unbefugt gesprochen, daß Sie Dorel jetzt aufsuchen und ihr mitteilen, jene Nachricht von meiner Verheiratung sei nichts weiter gewesen als eine auf Unwahrheit beruhende Klatscherei.«
Keller übernahm das. Es lag ihm daran, in Lamprechts Hause selbst zu erfahren, ob wirklich der schlimme Mann widerspenstig verbleibe zum Ärgernisse seiner Glaubensgenossen. Er eilte fort.
Kaum war er aus der Tür gegangen, da stürzte Wilhelms Bruder Christoph herein, schweißtriefend und fast atemlos. »Was ist?« – Er hielt Wilhelm ein großes Papier hin und ächzte: »Lies nur! Der Vater hat den Prozeß verloren, er schlägt draußen alles kurz und klein, und du sollst sagen, was dies Wort bedeutet, hier dieses Wort, wir verstehen's draußen nicht. ›Kompensiert‹ heißt es, die Kosten werden ›kompensiert‹. Was heißt das?«
»Das heißt: die Kosten werden von den beiden Parteien zu gleichen Teilen getragen. Der Vater hat also die Hälfte der Kosten zu bezahlen.«
»Oh! Nun schlägt er uns alle tot, denn das Geld hat er nicht. Er muß den Busch verkaufen und die Grenzäcker, das Gut ist verschimpfiert.«
»Sag' ihm, ich werde nach Kräften beisteuern.«
»Oh, oh, oh! Und zu guter Letzt soll ich in einem Gange zum Herrn Justizrat hinausgehn und soll ihm diesen Zettel übergeben; lies nur!«
Auf dem Zettel stand mit ellengroßen Buchstaben: »Appellieren, Herr, appellieren! Und wenn mich darüber der Teufel holt.«
»Gib nur den Zettel ab; der Vater tut recht.«
Während dies in Wilhelms Zimmer vorging, war Keller bis zum großen Wasserbehälter – er hieß Röhrbrunnen – im nördlichen Teile des Ringes gekommen, und dort sprach der Herr Baron mit dem Zimmermeister der Stadt in lebhaftem Tone. Der Zimmermeister war auch Wassermeister und hatte die Röhren zu beaufsichtigen, welche vom nördlichen Felde herein in ausgehöhlten runden Bäumen das Wasser zuführten. Eben war wieder, wie so oft, eine Verstopfung eingetreten, und der Baron machte die kühne Bemerkung, mit der Zeit werde man doch versuchen müssen, eiserne Röhren zu gießen und statt der hölzernen Stämme in den Boden zu legen. Der Zimmermeister lachte und fand das unglaublich. Dadurch würden ja sein Zutun und seine Einnahme ungebührlich verringert, meinte er, und das ginge doch nicht.
»Ihr glaubt eben an keinen Fortschritt«, sagte der Baron und wendete sich zum Fortgehen. Dabei begegnete er Keller, welcher ergebenst grüßte.
» A propos, Herr Keller, Sie gehören ja zu den besonnensten Bürgern, ist es denn wahr, was ich heute überall höre, die evangelischen Gemeindemitglieder sind alle außer sich?«
»Ja, ja, das sind sie.«
»Der Lamprecht hat nicht geschickt zum Baumeister Schatten junior?«
»Nein, nein. Ich komme just von ihm und will zum Lamprecht. Das ist ein Unglück, Herr Baron, wenn der Lamprecht widerspenstig bleibt. Der Herr Primarius ist blamiert, unsere Religion ist heruntergebracht und die Katholischen triumphieren. Gott weiß, was losgeht!«
»Also wirklich! Sie haben recht. Das gäbe ein Unglück und ich wäre mit schuld daran. Ist denn in der ganzen Stadt niemand, der auf den verstockten Lamprecht einen nachdrücklichen Einfluß hätte?«
»Niemand, niemand. Aber halt! Dort tritt eben der Doktor, der Herr Doktor Knopf aus seinem Hause. Dieser kleine Herr hat Haare auf den Zähnen. Er ist gescheiter als zehn andere, und er behandelt ja auch den Lamprecht, der könnte vielleicht –«
»Ein Mediziner? Der soll das Wort des Pastor Primarius unterstützen? Die Mediziner, mein lieber Herr Keller, sind alle Freigeister.«
»Ah?«
»Die haben immerfort mit der Natur zu tun und glauben nicht an Übernatürliches, geben also nichts auf die Geistlichen – guten Tag, Herr Doktor!« sagte er zu dem vorübergehenden Knopf.
»Gehorsamer Diener, Herr Baron!«
»Wir sprechen eben von Ihnen.«
»Spotten Sie nicht! Vielleicht können Sie helfen.«
»Dazu bin ich auf der Welt. Schmerzt Ihr Auge?«
»Das schmerzt immer ein wenig, aber da können Sie ja nicht helfen, wie Sie selbst schon gesagt. Der Mensch muß sein Schicksal geduldig tragen, Ungeduld erhöht nur sein Leiden. Nein, was anderes, Herr Doktor! Herr Keller, gehen Sie immerhin fragen dort im Hause und schenken Sie uns dann Bescheid!«
Keller ging, und der Baron nahm den Doktor unter den Arm, ihm die ganze Lage schildernd und mit der Frage schließend, ob denn er nicht den Frevler Lamprecht erweichen könne, herumkriegen, wie man in der Stadt sich ausdrückt.
Der kleine Doktor bot dem Herrn als nächste Antwort eine Prise Schnupftabak. Man schnupfte damals stark, und dies ist erst in den Dreißiger und Vierziger Jahren abgekommen. Der Baron nahm eine kleine Prise – er war vorsichtig, er kannte den starken Tabak des Doktors. Um so größer war die Prise, welche nun der Doktor selber nahm für seine geräumige Nase, welche man zu groß finden konnte für die kleine Gestalt und die kleinen Augen. Dabei sah er schweigend dem Baron ins Gesicht. Erst nach einer Weile sagte er, beinahe lächelnd: »Die Geistlichkeit erweist sich unmächtig?«
»Ja. Und das wird gefährlich für die Ruhe der Stadt.«
»Was Sie sagen! Der Fall wäre also nicht uninteressant und für mich nicht unwichtig. Denn wenn die Stadt unruhig wird, da krieg ich als Doktor viel Schererei! Hm! Hm! Versprechen kann ich nichts. Der Fleischer da drüben hat eine dicke Haut, außen und innen. Es würde, wie man sagt, eine Pferdekur. Aber glücklicherweise ist er krank, schwer krank. Ich will's versuchen. Sein Herzleiden ist nicht ungeeignet für den Versuch. Wenn er dabei draufgeht, der Fleischer, so wasch' ich freilich meine Hände.«
»Na, na. Aber das bliebe sich gleich, ob ich bloß physiologisch oder auch psychologisch – ganz gleich. Und zum Besten der Stadt, sagen Sie?«
»Sehr zum Besten der Stadt. Hören wir! Da kommt Herr Keller. Nun, Herr Keller?«
»Es steht erbärmlich,« sagte Keller, »seit gestern hat er immerfort geschlafen oder, wie ich glaube, sich schlafend gestellt, um nur nicht reden zu müssen, und heute morgens, als die Frau wieder in ihn hineingeredet, da hat er kurzweg Nein gesagt. Nein. Er schickt nicht nach dem Schatten Wilhelm.«
»Im Punkte der Rachsucht«, sagte der Doktor zum Baron, »sind Handwerksleute von unglaublicher Zähigkeit, ich möchte sagen von tierischer Zähigkeit. Und nun gar, wenn es ihre Kinder betrifft. Da meinen sie schon aus Blutsverwandtschaft Strafe durchsetzen zu müssen. Wie ich Ihnen gesagt habe, sanfter Herr Baron, eine Pferdekur …«
»Zum Besten der Stadt!«
»Ja, ja, und man erspart sich die Scherereien – gehorsamer Diener, Herr Baron, ich werd's versuchen.«
Dies sagend und die kleine vergoldete Krücke seines spanischen Rohres an seine vollen Lippen drückend, schritt er rasch, wie er mit kleinen Schritten gewohnt war, ins Lamprechtsche Haus. Dabei flüsterte er vor sich hin: »Der Primarius! Ja doch! Eigennutz ist der stärkste Trieb in der menschlichen Natur. Bei starken Naturen viel stärker als der Glaube.«
Als er eintrat, deckten die Mädchen wieder wie gestern den Tisch. Die Mutter kam ihm entgegen, sah tief traurig aus und sagte leise: »Er sagt zu allem Nein und ist sehr unruhig.«
»Ich seh's von weitem, Kinder, und auch Sie, Frau Gevatterin, Ihr müßt eine Viertelstunde warten aufs Mittagessen. Es steht schlechter mit dem Vater, und ich muß eine Viertelstunde allein sein mit ihm.«
Die Mädchen räumten bestürzt die Stube, und die Mutter folgte ihnen. Lamprecht hatte die Worte des Doktors gehört – das hatte der Doktor gewollt – und sah ihm erschrocken entgegen.
Der Doktor fühlte den Puls und den Herzschlag lange, lange. Dann nahm er sich einen Stuhl und setzte sich dicht vor den Kranken, nochmals eine große Prise nehmend, ehe er gemessen sprach wie folgt:
»Sie haben, kranker Mann, die frommen Worte des Herrn Primarius im Leibe. Das heißt im Kopfe, im Herzen und in den Eingeweiden. Und weil sich Ihre Fleischernatur dagegen sträubt, sind Sie von Unruhe geplagt.«
Lamprecht nickte.
»Diese Unruhe wird nicht mehr von Ihnen weichen, bis Sie nachgegeben haben oder bis Sie tot da sitzen.«
»Ho!«
»'s ist nicht anders. Entweder – oder. Das Unkraut wächst über den Weizen, und der Weizen erstickt. Ich will's Ihnen erklären, warum es so kommen muß. Hören Sie genau zu! Schmerz und Wut zugleich haben in Ihr Herz hineingerissen, in Ihr körperliches Herz. Schmerz allein wäre schlimm genug, Wut allein auch. Beide zusammen sind zuviel. Für ein so mißhandeltes Herz gibt's in der Medizin eigentlich gar kein Mittel. Es gibt für Sie vielleicht eins –«
»Ja?«
»Das ist aber nicht bloß medizinisch und wird kaum für Sie passen. Denn die Wut – das ist blankes Gift – hat bei Ihnen zu stark mitgespielt und steckt noch in Ihnen. Es könnte nur helfen, wenn Sie nicht eine rachsüchtige Natur wären. Das sind Sie aber. Das stete Totmachen der Tiere hat's wohl gesteigert. Ihr könnt nicht verzeihen, darin liegt's. Ach was, verzeihen! Ihr habt gar nichts zu verzeihen, Ihr müßt froh sein, wenn man Euch verzeiht.«
»Jawohl. Ihr seid roh und nichtswürdig gewesen gegen den jungen Schatten, welcher der beste Freund Eures Gottlob war.«
Lamprecht wollte sich erheben und stöhnte heftig.
»So recht, so recht! Immer heftig und unbändig, wenn Euch was mißfällt. Fahrt nur so fort, und es wird gar nicht mehr lange mit Euch dauern, sondern man legt Euch in den Sarg.«
Lamprecht fiel zurück.
»Ihr tut ja immer noch, als ob Ihr recht hättet, und geberdet Euch wüst und wild. Das aber gerade wird Euer Untergang. Deshalb kann ich Euch nicht helfen, und deshalb mag ich Euch auch nicht helfen. Guten Menschen hilft man gern, nicht gute überläßt man ihrem Schicksale. Ihr seht mich jetzt zum letzten Male.«
Lamprecht streckte wie bittend die Hände aus.
»Ja, was soll's denn noch? Ihr allein könnt Euch helfen, aber Ihr wollt ja nicht.«
»Oh!«
»Nein, Ihr wollt nicht. Nicht einmal fromm braucht Ihr zu werden, wie der Primarius will, nein, nur ehrlich braucht Ihr zu werden, ordentlich und gut, mehr nicht – dann wird Eure Herzkrankheit schwinden.«
»Wie denn, um Gottes willen?« – stieß er hervor in stöhnendem Geschrei.
»Ihr wollt's ausführlich wissen?«
»Ja, ja!«
»Gut. Es ist das letzte, was ich für Euch tun kann und will es Euch erklären. Sperrt die Ohren auf und den Verstand. Das Herz, welches Ihr Euch zerrüttet habt durch Schmerz und Wut, ist ein zwiefaches Ding. Es ist der Fleischklumpen mit zwei Klappen, welche das Blut aus und ein führen. Das kümmert mich wenig, auch wenn's gelitten hat, das ließe sich wohl in leidliche Ordnung bringen. Ein anderer Bestandteil, die Umgebung des Herzens, ist für Euch die Hauptsache, ist für Euch die Lebensgefahr. Nämlich die Herznerven. Die habt Ihr beleidigt und auf den Herzklumpen geworfen wie einen Feind. Diese Nerven krampfen Euch das Herz zusammen und ersticken Euch. Wodurch habt Ihr sie beleidigt? Durch grausame Gedanken und Empfindungen. Wodurch könnt Ihr sie zurückbringen von der Zusammenkrampfung? Durch gute, milde, versöhnliche Gedanken und Empfindungen. Wenn diese Nerven erfahren – und sie erfahren durch das Hirn alles – daß Ihr Euer Unrecht einseht und bereut, daß Ihr vor allen Dingen den Schatten Wilhelm um Verzeihung bitten wollt, dann geben sie den Druck auf, indem sie sich beruhigen, dann wird Euer Atem frei und Ihr könnt noch lange leben, wenn auch nicht gerade als Fleischer. Ochsen schlagen und Schweine stechen dürft Ihr nicht mehr, denn das bringt Zorn mit sich und macht die Herznerven wieder rebellisch. Aber das Gewerk, das Haus überwachen, ruhig umhergehen, ein friedliches Leben führen, das könnt Ihr noch. Um so leichter, je milder und menschlicher Euer Gemüt wird. – So! Nun habt Ihr die Erklärung. Nun wißt Ihr's, was Ihr zu tun und zu lassen habt, wenn Ihr am Leben bleiben wollt, nun habt Ihr's in der Hand. Aber es wird umsonst sein, was ich Euch da gesagt, denn ich weiß leider, daß Sie, Fleischhauermeister August Lamprecht, bei dessen Kindern ich zu Gevatter gestanden, daß Sie nicht gut genug sind, nicht edles Gemüt genug haben, um die mögliche Heilung durchzusetzen. Deshalb nehme ich Abschied von Ihnen auf Nimmerwiedersehen und gehe meiner Wege.«
»Doktor! Doktor!«
»Nichts da! Die Natur ist gerecht: den Guten gibt sie Leben, den Schlimmen ein elendes Sterben.«
So sagte er, schon an der Tür, ging hinaus und schlug sie hinter sich zu.