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5.

Mir ist es, denk' ich nur an dich,
Als in den Mond zu sehn –

So hatte Wilhelm, in Goethes Liede fortfahrend, geflüstert beim Einschlafen. Jetzt erwachte er mit diesen Worten aus tiefem Schlafe voll angenehmer Träume. Die Sonne hatte ihn geweckt. Über den Ring her kam sie und beleuchtete sein Zimmer und sein Bett.

»Ein gutes Zeichen!« rief er und sprang auf. Ohne Überlegung, ganz von selbst war es in ihm fest geworden: Heute gehst du hin, heute holst du dir von Dorels Eltern die Entscheidung für dein Glück.

Junge Liebe denkt nichts anderes als Glück.

Er wußte ja nichts davon, daß gestern abends im Lamprechtschen Hause sein Glück zerschlagen worden. Und Unkenntnis der Umtriebe in unserer Nähe ist ja doch immer ein Segen. Man bleibt in dieser Unkenntnis auch ungeschwächt, und wenn dann das Wetter einschlägt, wehrt man sich mit ungeschwächter Kraft, denn man ist vorher nicht beunruhigt, nicht geängstigt worden.

Das Blech vom Kreuze draußen war noch gestern abends von den Handlangern gebracht und auf einen großen Arbeitstisch mitten im Zimmer gelegt worden. Sogleich ging er daran, es abzuwaschen und zu reinigen. Dann suchte er all seine Farbenvorräte zusammen. Er war kein eigentlicher Maler geworden draußen, aber er hatte Neigung und ein wenig Geschicklichkeit für Malerei. Wenigstens hatte er die Fassaden seiner Baurisse immer mit großer Sorgsamkeit behandelt, und dies, meinte er, wird ja ausreichen, um das bloße Auffrischen der Farben an diesem Christusbilde zu ermöglichen.

Eben hatte er angefangen, Farbe aufzutragen, als es an der Türe klopfte, und herein trat der Wachmeister, einen großen Brief in der Hand. Es schlug just 8 Uhr.

Er nahm den hochgeschweiften, im Filzhaare recht abgenützten Hut in die andere Hand und stöhnte, ehe er sprach. Auf die Frage, was es gebe, sprach er mit bewegter Stimme, daß ihm sein Sohn Fritze gestern abends erzählt habe, der Herr Baumeister Schatten jun. habe die Absicht ausgesprochen, das Christusbild draußen am Kreuze abzunehmen. Tief erschrocken sei er nach Sonnenuntergang hinausgeeilt und habe leider jene Absicht vollzogen gefunden. Sein Amt habe ihn nun verpflichtet, davon Anzeige zu machen beim Herrn Polizeiinspektor, denn er habe alle öffentlichen Vorgänge stehenden Fußes zu melden. Der Herr Polizeiratmann, wie er offiziell heiße, habe denn auch sofort geäußert: »Dies ist ein Aktus unerlaubter Gewalttätigkeit an einem öffentlichen Denkmale, und die Katholischen in der Stadt namentlich werden auf strenge Ahndung antragen, denn das Kreuzesbild ist ein Sym – Sym –«

»Bolum« – ergänzte Wilhelm – »richtig! Symbolum ihres Glaubens. Herr Schatten jun. muß also zum mindesten sogleich das Kreuzbild wieder an Ort und Stelle liefern, obwohl es Sonntag ist und die hereinkommenden Bauern die Wiederherstellung mit Befremden anschauen werden. – Also hat der Herr Polizeiratmann gesprochen, und ich vermelde es wortgetreu.«

Das alles hatte Grund und war Wilhelm unangenehm. Er versprach also die rasche Wiederherstellung an Ort und Stelle, sobald das Bild aufgemalt wäre.

»Das genügt nicht« – sagte der Wachmeister mit würdevollem Nachdrucke.

»Überlassen Sie mir die Verantwortung und erzählen Sie dem Herrn Polizeiratmanne, daß es in guter Absicht geschehen sei, um das verwitterte Bild wieder aufzufrischen.«

»Sie sind doch nicht katholisch –?« – »Das ist ja auch nicht nötig dazu. Ist der Brief in Ihrer Hand schon vom Herrn Polizeiratmann?«

»O nein! Der ist vom Bürgermeister und Rate. Er betrifft auch die Schattens, nämlich den Herrn Vater. Eigentlich ist es meines Amtes nicht, Erlässe über Land zu bestellen; dafür ist der Ratsbote da. Aber dieser Mann ist immer krank und sollte schon lange pensioniert werden. Jedoch man pensioniert nicht gerne, besonders darum nicht, weil der notwendige Spittel noch nicht gebaut ist. Da übernehme ich denn aus patriotischer Regung die Arbeit des elenden Boten und werde mich, obwohl es Sonntag, sofort nach Gelsendorf verfügen.«

»Was steht denn drin?«

»Habe keine Einsicht genommen, höre nur nebenher, daß Schatten senior ein Befehl angekündigt und im Notfalle ein großer Prozeß angedroht wird in Sachen des Verkaufes von Eisenstein. Es tut mir das alles contra Schatten senior und junior aufrichtig leid, aber die Pflicht gebietet, die Pflicht.«

»Gehen Sie mit Gott!«

»Wie, Sie wollen nicht sogleich –?«

»Nein. Erst wenn es fertig ist.«

»Ich wasche meine Hände« – das war vielleicht nötig! – »und hoffe, Sie werden meiner freundlichen Warnung eingedenk bleiben. Meiner Warnung!«

Er ging und begegnete an der Tür dem Herrn Apotheker. Aha! – dachte er – da geht's los! – und mit dem Haupte vornehm nickend, stolperte er hinaus, die Treppe hinunter und marschierte gen Gelsendorf.

Der Apotheker Joppmer war das bürgerliche Haupt der wenigen Katholiken im Orte und war der einzige Katholische im Rate der Stadt. Weil er als Apotheker botanische Kenntnisse besaß, hatte man ihm sogar die Beaufsichtigung des Stadtforstes übertragen. Sein Erscheinen bei Wilhelm war also wohl von Bedeutung, und zwar von strenger Bedeutung, wenn es sich um das Kreuzesbild handelte, und die Lage Wilhelms wurde immer unangenehmer.

Es handelte sich wirklich darum. Herr Joppmer betrachtete eine Weile das verwaschene Bild und machte über seiner Brust ein leichtes Kreuzzeichen, eh' er sprach, dann aber reichte er dem erstaunten Wilhelm die Hand und sagte: »Wir Katholiken der Stadt, Herr Schatten, danken Ihnen für den freundlichen Willen, unser heiliges Kreuz aufzufrischen. Wir sind solches Entgegenkommen gar nicht gewohnt. Ich habe auch dem Herrn Polizeiratmann, welcher uns mit dem Frühesten die Anzeige gemacht und welchen ich soeben gesprochen, glatt und kurz gesagt: wir selbst hätten Sie um die Aufbesserung des Bildes gebeten und es könnten alle polizeilichen Schritte unterbleiben.«

Nun folgte ein kurzes Gespräch über die Pein der Religionsunterschiede, bei welchem Wilhelm sich milde äußerte, ohne seinen evangelischen Glauben preiszugeben, und die Unterredung wurde nur beendigt, weil der kleine Gottlob hastig eintrat. Vor dem Knaben wollte man das Thema nicht weiter erörtern, und der Apotheker schied, Wilhelms Zusage annehmend, daß dieser die Wiederbefestigung des Bildes durch seine Leute besorgen werde.

Gottlob war so hastig, weil er als ehrlicher Bursch das Bekenntnis los werden wollte: sein Vater hätte ihm die Besuche beim Herrn Baumeister untersagt.

»Warum denn?«

»Ach, die Mädel klatschten so viel durcheinander und vergönnen mir nicht, daß ich 'rumspringen kann. Gestern beim Abendessen nahm's gar kein Ende, und ich bin drüber eingeschlafen und hab' nicht verstanden, was sie vorbrachten. Die Lore ist so ein böses Maul und hat's immer gegen das Dorel.«

»Ah! Wie denn?«

»Ja, das hab' ich eben nicht gehört. Jetzt nach neun gehn sie in die Kirche, und da bin ich fortgewischt.«

»Aber du mußt ja dem Vater gehorchen, und ich darf dich nicht mehr aufnehmen.«

»O, der Vater! Der spricht geschwind so was und vergißt's bald wieder. Der Vater ist gut, und ich hab' ihm auch gesagt, daß ich doch hergehe.«

»Ich sollte deinen Vater vielleicht einmal besuchen?«

»Ja, ja, das wär' gut, bei Besuchen ist er immer freundlich.«

Nun ging es an die Malerarbeit. Gottlob schleppte Farben herzu und Pinsel – es fehlte aber an einem größeren Pinsel. Da kamen die Maurer und Handlanger nach ihrem Wochenlohn; er lag bereit, und der Polier sagte, er hätte drüben im Bau einen großen Pinsel zum Stubenanstreichen. Der wurde geholt, und nun förderte zu Gottlobs Erstaunen die Arbeit. So wurde es 10 Uhr.

Um elf – da war die Kirche aus – wollte Wilhelm seine Aufwartung machen im Lamprechtschen Hause, da ja Gottlobs Bericht nichts von der Hauptsache vorgebracht hatte. Wilhelm, bester Laune, malte eifrig – da erschien unerwarteterweise der Wachmeister wieder. Er sah verstört aus. Seine große Nase, sonst leicht angerötet, war entschieden blaß.

»Was bringen Sie noch? Die Kreuzangelegenheit ist vom Herrn Apotheker erledigt beim Polizeiratmann. Was wollen Sie denn noch?«

»Zur Warnung komm' ich, zur nochmaligen Warnung,« sprach er, mühsam Atem schöpfend, »und um Genugtuung zu fordern. Ihr Herr Vater ist mir Genugtuung schuldig.«

»Wofür denn?«

»Er hat mich beleidigt, und in mir die ganze Stadt, Bürgermeister und Rat eingeschlossen. Oh! Als ich ihm den großen Brief, den Erlaß des Rates, eingehändigt, da hat er eine verächtliche Handbewegung gemacht und hat zu seinem Sohne Christoph gesagt: ›Christoph, mach du den Wisch auf!‹ – Wisch hat er gesagt, Sie hören – ›sieh zu, was die Leute wollen.‹ – Die Leute hat er gesagt! Nun hat der Sohn Christoph vorgelesen, und dazu hat der alte Herr fürchterlich geraucht, soweit es die Pfeife hergab, sie hatte wenig Luft; sonst hat er sich beim Zuhören mit keinem Worte geäußert. Als aber der Erlaß zu Ende war, hat er gesagt: ›Gib den Wisch her!‹ – wieder Wisch – ›und bring eine eingetunkte Feder, Christoph!‹ Darauf hat Christoph bemerkt, die Tinte sei eingetrocknet. ›Also einen Bleistift!‹ – ›'s ist nur ein Rotstift da.‹ – ›Also einen Rotstift!‹ – Und nun hat der alte Herr mit diesem gemeinen Instrumente eines Maurerpoliers unter den Erlaß der hochansehnlichen Behörde mit dem Rötel geschrieben, und zwar in ellengroßen Buchstaben geschrieben; hören Sie: ›Nein! Grund und Boden ist mein. Christian Schatten.‹ – ›Da ist die Antwort!‹ hat er gerufen, und als ich versteinert stehen blieb, da hat er geschrien: ›Marsch!‹ Jetzt hab' ich mich pflichtschuldig ermannt und habe bescheidentlich geäußert, ich könnte doch nicht den feierlichen Erlaß des hohen Rates wieder zurückbringen, da hat er – hören Sie! – nach seinem Krückstocke gegriffen – es ist ein knotiger Dorn – hat ihn in die Höhe gehoben und noch einmal mörderlich geschrien: ›Marsch!‹ Was blieb mir übrig? Ich konnte doch nicht meine amtliche Person aussetzen, mit dem dicken Schwarzdorn geprü – ich zog mich anständig zurück, ohne ein Wort zu verlieren bei so unwürdiger Behandlung, und bin hereingelaufen wie ein – ich sag' es gerade heraus – wie ein begossener Hund, empört bis in die Eingeweide. Hier ist der schimpfierte Erlaß, unter solchen Umständen zerknittert wie ein – ich schweige. Nehmen Sie ihn hin! Ich kann die eigene Schrift des hohen Rates doch nicht besudelt dem hohen Rate zurückbringen, niemals! Deshalb komme ich wieder hierher. Sie sind der Junior, Sie sind der Sohn, Sie werden dem Senior, dem Vater, die gemißhandelte Schrift einhändigen und werden für anständige Beantwortung Sorge tragen als städtischer Baumeister. Nehmen Sie!«

»Nein!« sagte Wilhelm lachend, »das werde ich nicht. Geben Sie ihn nur ab, wie er da ist auf dem Rathause.«

Er war eben der Sohn seines Vaters und gönnte dem Rate den Ärger, nicht überlegend, daß der heraufbeschworene Zorn auch ihn treffen könnte, wenn diese seine letzte Äußerung oben erzählt wurde vom Wachmeister.

Der umsichtige Wachmeister machte ihn auch sogleich hierauf aufmerksam, und zwar mit einem gewissen Nachdrucke, aber Wilhelm lachte weiter. Dem Wachmeister blieb nun nichts übrig, als ein ausdrucksvolles Schweigen und ein schwerwiegendes Kopfnicken, und als auch dies nichts half, sondern Wilhelm schweigend fortmalte, da stülpte der Wachmeister unhöflich genug sein Hutschiff auf den Kopf, machte eine soldatische Wendung und ging. Er zitterte dabei vor Erregung, daß er nicht sogleich die Türklinke fand und daß er draußen vor der Treppe stehen bleiben mußte, um sich zu sammeln. Wozu er beim Hereinlaufen nicht gekommen war, das tat er jetzt, er las den Erlaß. Die hochbemessenen Worte desselben richteten ihn auf, und die Treppe hinabtastend, sagte er zu sich: »So geht's nicht weiter! Der alte Bauer muß exemplarisch bestraft und an den Bettelstab gebracht werden, du aber verlangst gekränkt Genugtuung. Sie kann in einer Geldentschädigung bestehen.«

Es schlug halb elf. Der entscheidende Augenblick nahte für Wilhelm. Er legte den Pinsel weg, um sich zu rasieren und sonntäglich zu kleiden.

Daß er sich selbst rasierte, etwas ganz Ungewöhnliches in der Stadt, entzog ihm auch ein Quantum Popularität, denn der Stadtbarbier war darüber wütend und sprach davon überall, wie von einem Attentate. Wohin sollte es denn bei solcher Eigenmächtigkeit kommen mit einem redlichen Gewerbe? Des bösen Beispiels gar nicht zu gedenken. Das konnte ja die jungen Bürger anstecken!

Gottlob sah dieser Aktion aufmerksam zu. Sie interessierte ihn viel mehr als die Szene mit dem Wachmeister, welche er nicht verstanden hatte.

»Das muß ich auch lernen,« sagte er, »da wird sich der Vater schön wundern, wenn ich keinen Barbier brauche.«

»Später!« lachte Wilhelm. »Jetzt mußt du fort, denn mit mir kannst du nicht gehen. Sie sehen ja sonst, daß du wieder mit mir verkehrst.«

»Ich geh auf den Brauhausplatz. Da schlagen wir Sonntags nach der Kirche Kegel.«

Kegel »schlagen« war ein dem Orte eigentümliches Spiel. Zwei Jungen standen dicht vor den neun Kegeln und warfen die Kugeln in sie hinein, derjenige gewann, welcher den letzten Kegel umwarf. Da kam's denn gewöhnlich zuletzt auf ein weit auseinanderstehendes Dreieck an, welches mit einem Wurfe umgestoßen werden mußte.

»Das kann ich!« sagte Gottlob selbstgefällig und lief fort. An der Tür stillhaltend, rief er aber noch: »Sie kommen doch heute nachmittags zum Kirschenfeste in den Garten? Auch die Herzkirschen sind reif und Primariussens Julius kommt auch.« Und fort war er.

Bald darauf schritt auch Wilhelm über den Ring, dem Eckhause der Fremdengasse zu, wo das Lamprechtsche Haus stand. Er war guter Zuversicht, sich mit günstigem Erfolge in diesem Hause einführen zu können! Der Arme!

Es war dort niemand zugegen als Frau Lamprechtin und Dorel. Lamprecht und die beiden Schwestern waren in der Kirche. Aber sie mußten gleich kommen, denn es schlug elf.

Die Mutter und Dorel saßen in der Hinterstube, die Mutter am großen Tische, Rechnungen schreibend für schuldige Kunden, Dorel am Fenster, mit einer Näharbeit beschäftigt und manchmal den Kopf hebend, um in den Hof zu blicken, wo ganz hinten ein Stückchen Sonnenschein lag, der keinen Weg in die Stube fand.

Ein Stückchen Sonnenschein! Das schien sie auch für sich zu wünschen. Sie sah recht traurig aus, recht traurig. Es war ihr auch lauter Schlimmes begegnet. Zuerst die Geschichte mit der Rosel, welche behauptet hatte, der Wachmeister hätte ihr Grüße ausgerichtet vom Schatten Wilhelm. Die eigene Schwester also hätte ihn abspenstig gemacht, diesen Wilhelm, auf den sie so vertraut hatte! Nein, hatte sie endlich gesagt, das kann nicht sein, seine Augen sind ja so ehrlich! Dann aber war die entsetzliche Bestätigung seiner Unehrlichkeit gekommen durch die Lore, Wilhelm Hand in Hand auf dem Sofa mit dem fremden, schönen Mädchen! Du lieber Gott! Nun war ihre ganze, so hoffnungsreiche Liebe zertrümmert.

Es darf aber nicht verschwiegen bleiben, daß sie nicht immer traurig war seit der schrecklichen Erfahrung von gestern abends. Ihre Trübsal wurde zuweilen unterbrochen durch einen grimmigen Zorn gegen Wilhelm. Er hatte sie ja doch geradezu zum Narren gehabt. So nannte sie's und ballte die kleine Faust. Es lag eben doch ein starker Kern von Kraft in ihr.

Die Mutter sah zuweilen von ihren Rechnungen auf und blickte nach der Tochter. Das Dorel war eigentlich ihr Liebling wie Gottlob des Vaters, und ihr jetzt so stockstilles Wesen, ihr blasses Gesicht, das fiel der Mutter auf. Sie war eine gescheite Frau und hatte gestern abends wohl bemerkt, daß Dorel so jäh in die Höhe gefahren. Ans Verschlucken hatte sie nicht geglaubt, und sie wollte Näheres wissen. Sie fragte also plötzlich die Tochter: »Sag einmal, Dorel, was war denn das gestern?«

Da stürzte die garstige Hanne ins Zimmer und schrie fast: »Der junge Herr, ich glaube der Schatten Wilhelm, ist draußen im Hause und fragt nach dem Herrn Meister und der Frau!«

Dorel flog von ihrem Sitze auf, die Näharbeit fiel auf den Boden. Auch die Mutter erhob sich, und im nächsten Augenblicke trat Wilhelm ein. Er ging auf die Mutter zu, trat aber sogleich einige Schritte zur Seite, weil Dorel heftigen Trittes an ihm vorüberging, mit dem Arme eine jäh abweisende Bewegung machte und das Zimmer verließ. Sie schlug die Tür hinter sich zu, daß es außerordentlich knallte.

Wilhelm wurde durch dies offenbar feindliche Betragen total verwirrt, ja bestürzt und war nicht gleich imstande, an die ihm entgegentretende Mutter auch nur ein Wort zu richten. Die Mutter war auch arg erstaunt, aber sie war eine besonnene Frau und übernahm die Wilhelm fehlende Anrede mit den Worten, was dem Herrn Baumeister zu Diensten stünde?

Einen ungünstigeren Eindruck konnte Wilhelm kaum machen, als er stotternd vorbrachte, er hätte den Versuch machen, das heißt seine Aufwartung machen wollen.

Da wurde er unterbrochen. Herr Lamprecht mit Lorel und Rosel traten ein. Sie hatten die Gesangbücher in den Händen, und da Herr Lamprecht in der andern Hand den hohen Stock hielt, so nahm er, vielleicht deshalb, den Hut nicht ab. Jedenfalls blickte er mit zusammengezogenen Augenbrauen auf Wilhelm, der wie ein armer Sünder dastand.

Es fiel kein Wort. Frau Lamprechtin winkte die Hanne hinaus und endigte die peinliche Pause, indem sie zu ihrem Gatten sagte: »Der Herr Baumeister Schatten jun. wollte seine Aufwartung machen.«

»Aufwartung?« sprach Herr Lamprecht, »was heißt das? Wir kennen einander nicht, und ich weiß wahrhaftig nicht, wozu wir einander kennen lernen sollten. Lernen! Uns Alten wird das Lernen schwer. Der Herr ist auch ganz anders, als wir bescheidene Handwerksleute sind, und er würde nichts Brauchbares bei uns finden. Nicht wahr, Frau?«

Dies sagend, gab er Hut und Stock an die beiden Mädchen, nickte mit dem Kopfe und sprach: »Wir bedanken uns für die Ehre.«

Es blieb Wilhelm nichts übrig, als abzugehen. Da er jedoch nun so weit gefaßt war, um die Beleidigung klar zu empfinden, so sagte er fest: »Und ich bedanke mich für so höflichen Empfang«, wendete sich und ging.

Frau Lamprechtin eilte ihm nach bis an die Tür und sprach: »Nichts für ungut, Herr Schatten! Es kam alles so unerwartet.«

Er ging, den Tod im Herzen. Dorel hatte ihn fortgewiesen, der Vater desgleichen. Alle Hoffnung lag zerschellt auf dem Boden.


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