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4.

Dicht vor der Stadt ist der Strom durch ein Wehr in zwei Flüsse abgeteilt, der Mühlen wegen, und es führen zwei Holzbrücken zum Wassertor.

Als Wilhelm an diese Brücken kam, hörte er hinter sich seinen Namen rufen. Er sah sich um. Gottlob war's, welcher mit seinem Hunde dahersprang. Die Tränen liefen ihm über die Wangen, und in stammelnder Rede bat er Wilhelm, ihm beim Torwächter am Wassertor behilflich zu sein, daß dieser die Torflügel schließe und nur das Pförtchen offen lasse. Was war denn geschehen? Gottlob wies nach rückwärts. Da kam die Schafherde und sie war sehr groß.

»Schotters Schafe sind dabei« – schluchzte Gottlob – »und sie sind alle untereinander. Wir müssen sie am Pförtchen auseinanderbringen, sonst schlägt uns der Vater oder der Schotter tot. Der dumme Greif ist schuld. Er ist mit einem Male bellend auf unsere Schafe losgesprungen, und da sind die Schafe geprellt, und ist ihnen der dumme Hund auch noch nachgelaufen und hat sie unter Schotters Schafe hineingejagt.«

Wilhelm tröstete ihn, aber Gottlob war nicht zu beruhigen. Das sei eine Schande für ihn! stöhnte er ohne Aufhören.

Wilhelm schritt aus, um den Schafen am Tore zuvorzukommen, und als der Torwächter, wie gewöhnlich, nicht zur Stelle war, da schlug er selbst die Torflügel zu, damit die Schafe nicht weiter könnten. Endlich kam der Torwächter und schloß das Pförtchen auf. Nun ging die Sonderung vor sich. Die schwarzen Buchstaben auf dem Rücken der Schafe entschieden, welches Schaf eingelassen, welches zurückgeschoben wurde. Alle mit L durften hinein, alle mit S mußten warten.

Die Arbeit dauerte eine Stunde. So war es Nachmittag geworden, als Gottlob in kläglicher Haltung mit seiner Herde in der Wassergasse hinaufgezogen war und Wilhelm sich besann, daß er sein Mittagessen versäumt hatte.

Er wohnte zur Miete gegenüber seinem Hausbau und pflegte bei seiner Wirtin zu speisen. Aber um zwölf Uhr, wie in der ganzen Stadt. Jetzt war es zu spät geworden. Irgend ein Speisehaus gab's nicht. In dem Gasthofe am Ringe hätte es Aufsehen und auch Schwierigkeiten gemacht, und einen Bäckerladen mit Weißbrot gab es hier in der Wassergasse nicht – ach, er hatte auch keinen Hunger; sein Gemüt war zu unruhig.

Er ging also außen am Wasser entlang nach der südlichen Vorstadt hinüber, nach der »Krone«.

Der Herr Justizrat Stammbach war nicht zu Hause. Was tun? Wilhelm war zu nichts aufgelegt.

»In die Ziegelei hinauf,« sagte er sich, »da ist ein Anstoß nötig.«

Die Ziegelei lag auf dieser Seite, und von dort wurde er immer in der Bauarbeit gehindert. Man brachte im langsamen Schlendrian nur eine geringe Menge von Ziegeln zuwege, und niemand ging auf eine Verbesserung des Ziegelstreichens und Brennens ein. Der Rat wollte keine naseweise Änderung.

Hier brachte er im mechanischen Anordnen eine Stunde zu und ließ sich von einem Ziegelstreicher ein Stück Schwarzbrot verkaufen. Dann in die Vorstadt zurückkommend, fragte er nochmals an in der »Krone«. Herr Stammbach war wieder nicht da, aber seine Tochter trat auf den Flur heraus und lud ihn ins Zimmer. Der Vater werde bald kommen, er möge nur so lange mit ihr vorlieb nehmen. Wörtlich sprach sie so, lachte und setzte hinzu: sie habe den jungen Herrn Baumeister schon gesehen und freue sich, dessen persönliche Bekanntschaft zu machen.

Sie war ein sehr hübsches Mädchen, diese Amélie, von jugendlich üppigen Formen, mit vergnügten Augen und einem reizenden Munde. Die lichtbraunen Locken flatterten allerliebst um den Nacken, und sie sprach überaus behende, so daß sie die Unterhaltung allein besorgte. Denn Wilhelm war in seiner Stimmung gar nicht redselig.

»Nicht wahr, ich bin anders als die Mädchen hier am Orte?« sagte sie und nötigte ihn, auf dem Sofa neben ihr Platz zu nehmen. »Leider Gottes«, fuhr sie fort, »bin ich ganz anders, und ich falle hier auf. Die Leute müssen sich eben an mich gewöhnen. Sie werden schon! Wir kommen halt aus einer größeren Stadt, wo der Umgang viel leichter ist.«

In der Tat war sie von einer in dieser Stadt unerhörten Unbefangenheit und von einem allerliebsten Entgegenkommen. Man brauchte es gar nicht zu wollen, man kriegte es von selbst. Das heißt, man brauchte ihre Hand nicht zu suchen, sie gab sie selbst und drückte sie freundschaftlich. Das tat sie auch jetzt mit Wilhelm.

Wilhelm war noch ganz erstaunt darüber, da trat jemand ins Zimmer. Es war der Herr Wachmeister mit einem Schreiben vom Magistrate. Er sah hoch auf, als er den Schatten Wilhelm Hand in Hand mit dem schönen Fräulein auf dem Sofa erblickte, und innerlich sagte er gewiß: »Ei, ei!« als er sein Schreiben nach des Fräuleins Geheiß auf den Tisch gelegt und sich zögernd und mit Kopfschütteln entfernt hatte.

Endlich kam der Papa. Er bat Wilhelm, ihm ins Nebenzimmer zu folgen, nahm das Schreiben, welches der Wachmeister gebracht, vom Tische und öffnete das nächste Zimmer.

Amélie machte feierlich eine Verbeugung, reichte ihm wieder die Hand und sagte äußerst liebenswürdig: »Auf baldiges Wiedersehen!«

Wilhelm fand, daß solch ein freundliches, hübsches Frauenzimmer doch recht angenehm wäre, wenn es auch nicht an den kräftigen Zauber Dorels hinanreichte.

»Was bringen Sie mir?« fragte Herr Stammbach, indem er Wilhelm einen Sessel anwies und das Schreiben des Wachmeisters öffnete.

Wilhelm nannte sich und sein Ansuchen um des Justizmannes Rat in Sachen des Eisensteines.

»Rat oder Beistand?« fragte Herr Stammbach und blickte dabei in sein Schreiben.

Nach kurzer Pause erwiderte Wilhelm entschlossen: »Beides.«

Er wußte, daß dies Geld kosten würde, aber er ahnte die Gefahr des Vaters und wollte ihm durchaus geholfen sehen, wenn er auch als Sohn aus eigenen Mitteln zusteuern mußte.

»Also Beistand. Er liegt nahe. Ist es nicht merkwürdig, daß in dieser Stadt kein einziger Advokat lebt? Die Leute hier sind unbeweglich und hindern jede Veränderung. Von der Veränderung aber leben wir Advokaten. Vielleicht wird das anders, wenn jemand wie ich da ist. Deshalb bin ich hergekommen. Und dabei muß ich doch einen ersten wichtigen Antrag ablehnen, einen Antrag vom hiesigen Rate. Hier ist er, in diesem Schreiben. Dieses Schreiben verkündigt mir, daß der Rat tatsächlich gegen Ihren Herrn Vater vorgeht. Ihrem Herrn Vater wird das Recht auf den Eisenstein abgesprochen, das gehöre der Grundherrschaft. Ihr Herr Vater soll also herauszahlen, was er bis jetzt für den verkauften Eisenstein eingenommen, und soll den weiteren Verkauf unterlassen. Man glaube voraussetzen zu müssen, daß Ihr Herr Vater, welcher als eigensinnig bekannt sei, zu dieser Forderung nein sagen werde, und fragt mich, ob ich die Führung der weiteren Maßnahmen übernehmen wolle.«

»Und Sie wollen nicht, wie Sie angedeutet haben?«

»Wie könnte ich, wenn ich Ihnen Beistand leisten will! Das ist keine Grille, ist keine Großmut für Sie. O nein. Ich bin durch Privatnachfragen schon unterrichtet von der Sache, und ich will nicht meinen ersten Prozeß hier am Orte verlieren. Dadurch würde mein Aufkommen im Keime erstickt.«

»Sie meinen also?«

»Ja. Der Anspruch der Stadt ist aus dem Dünkel erwachsen, welcher in den Ratsherren wohnt, weil sie bisher keinen Widerspruch von kundiger Seite erfahren haben. Jetzt kommt's ihnen heim. Die Stadt ist in Gelsendorf gar nicht Grundherrschaft; sie verliert also den Prozeß.«

»Gott sei Dank!«

»Ja, das mag sein. Aber später werden Sie mich dringend brauchen. Durch diesen Prozeß kommt die Frage um den Eisenstein an die große Glocke, und diese Glocke wird von der Regierung vernommen und beachtet werden. Da liegt die Gefahr. Wenn die Regierung mit dem Staatsrechte auftritt gegen Ihren Vater und das Regale ins Treffen führt, dann wird die Sache kritisch, und Ihr Vater wird Geld brauchen, um die Sache durchzuführen.«

»Aber doch zu gewinnen?«

»Lieber Herr Baumeister, das kann jetzt kein Mensch voraussagen. Solche staatsrechtliche Fragen sind verzweifelt schwierig. Wir wollen das Beste hoffen. Unsereiner muß dafür geradezu neue Studien machen.«

Das war gut und schlimm. Sorgenvoll ging er aus dem Hause und nach der Stadt. Sorgenvoll. Er war ja noch ein Anfänger in seinem Verdienste; wieviel konnte er beisteuern! Und beisteuern wollte er für den Vater bis zu seinem letzten Groschen. Er hatte durch Hilfsarbeiten, welche er während seiner letzten Zeit draußen geleistet, manches kleine Sümmchen gewonnen, und für sein Geschäft hier waren die Aussichten günstig durch Landbauten, die sich schon gemeldet; aber wieviel konnte er abgeben? Prozesse sind teuer. Und nachgeben würde der Vater niemals. »Das soll er auch nicht!« sagte Wilhelm.

So war er die Fremdengasse entlang bis zum Lamprechtschen Hause gekommen, und die sorgenden Gedanken wurden abgelenkt. Vielleicht war Dorel zu erblicken. Er stand still und blickte in den Hausflur hinein. Es wurde schon dunkel. Dennoch sah er ein weibliches Wesen und einen Mann. Aber es war nicht Dorel, es war Lorel, und der Mann war der Wachmeister.

Eilig ging Wilhelm weiter nach seiner Wohnung. Von seinem Hausbaue gingen eben die letzten Handlanger fort, und er trug ihnen geschwind noch auf, ans Kreuz hinauszugehen, die verrosteten Nägel herauszuziehen und das Blech hereinzubringen in sein Zimmer. Sie sahen ihn verblüfft an über solchen Auftrag, aber er war ja der Baumeister; sie gingen.

Während nun Wilhelm in seine Stube hinaufstieg, um endlich auszuruhen und sich zu sammeln, kam er anderswo in Rede, und zwar in so mißliche Rede, daß sein höchstes Glück, seine Liebe, aufs schwerste erschüttert werden mußte.

Dies geschah im Lamprechtschen Hause. Dort hatte man sich zum Abendessen gesetzt in der großen Hinterstube. Die Bürger bewohnten alle nur die Hinterstube, obwohl die meisten von jedem Sonnenstrahle verlassen waren. Die kleineren Vorderstuben – die Hausfluren verkleinerten sie – standen durchschnittlich leer und wurden nur von den Wohlhabendsten zu Putzzimmern benützt. Bei Lamprechts war die Hinterstube breit und tief und diente auch für die Fleischhauerei. Beim Schweineschlachten wurde hier die Wurst gemacht, und dabei nahm sich der stattliche Herr Lamprecht besonders gut aus. Er war dann in Hemdärmeln, die bis über den Ellbogen zurückgeschlagen wurden, und in der einen Hand hatte er die metallene Brille, in welcher ein leerer Darm steckte. Mit der andern Hand stopfte er das kleingehackte Fleisch und kleine Würfel weißen Brotes durch die Brille in den Darm, seine kräftigen weißen Arme und Hände mit Grazie bewegend. Gerade bei dieser Arbeit, welche heute stattgefunden, war er immer von guter Laune und machte er allerlei Späße.

Das sah man ihm auch jetzt abends noch an, als er am runden Tische beim Abendbrote saß und frischgekochte Wurst mit Bratkartoffeln verzehrte.

Kartoffel nannte man diese Erdknolle nur, wenn man vornehm sprach, der gewöhnliche Ausdruck war »Erdbirne«, in schlesischer Abkürzung »Erdber«. Der süddeutsche Name »Erdäpfel« war ganz unbekannt.

Für Gottlob war es vorteilhaft, daß heute Wursttag gewesen: der heiter gestimmte Vater hatte den Unfall mit den Schafen nicht allzu scharf aufgenommen, obgleich die Schafe einen halben Tag Weide verloren und Kollege Schotter seine Vorwürfe nicht schenken würde. Er hatte dem Gottlob nur leicht den Lockenkopf geschüttelt und ihn einen dummen Jungen genannt. Jetzt beim Abendessen fielen nur noch leichte Regenschauer auf den Knaben nieder, welcher, über den Teller gebückt, unbändig viel Wurst und »Erdbern« verschlang. Kummer und Sorge des Tages hatten ihm gegen alles Naturgesetz einen riesigen Appetit entwickelt.

»Nimmt denn auch« – so sprühte der letzte Regentropfen von des Vaters Munde – »ein gescheiter Junge den Greif mit zu den Schafen? Greif ist Fleischerhund, der gehört zu den Schweinen, Kälbern und Ochsen, aber sein Lebtag nicht zu den Schafen.«

»Hab' ihn ja nicht mitgenommen! Er ist von selbst nachgelaufen« – gurgelte Gottlob kaum verständlich aus überfülltem Munde.

Es war bereits sicher, daß er das Wetter überstanden hatte. Das war herkömmlich, und die Schwestern klagten oft darüber: dem Jungen werde alles nachgesehen. Sie hatten auch recht. Er war eben der Augapfel des Vaters. Dreimal hintereinander waren Mädchen zur Welt gekommen, beim dritten Male zu unverhehltem Mißvergnügen des Vaters. Da endlich kam ein Sohn. »Gott Lob!« schrie Vater Lamprecht, »Gott Lob! Und« – setzte er hinzu – »so soll er auch heißen, Gottlob soll er heißen.« So war er denn auch getauft worden, und er war das Herzblatt des Vaters.

Auf der andern Seite, zur Linken, saß neben Meister Lamprecht seine Frau, eine feine Gestalt mit feinem Angesichte. Durch ihr glattes Haar zogen schon Silberfäden, und sie verhielt sich gewöhnlich still neben dem sehr lebhaften Ehegatten. Zu ihrer Linken saß Dorel, dann Rosel. Lorel saß drüben neben Gottlob.

Vater Lamprecht suchte einen Übergang vom Schelten seines Sohnes und bemerkte lobend, daß dieses Jahr auch bei herannahendem Sommer die »Erdbern« noch so gut waren, und es folgte allgemeines zustimmendes Gemurmel. Die Kartoffel war nämlich ein Stolz der Stadt und ein vorherrschendes Nahrungsmittel. Sie gedieh ganz gut in dem Sandboden der Felder.

So geläutert war die Stimmung des Hauses. Da kam aber die Störung. Hanne, die Dienstmagd, erschien auf der Türschwelle mit der Beschwerde: die Schweine wären aus dem Stalle gebrochen und wirtschafteten im Hofe herum. Der Fleischergesell Traugott, welcher allein an der andern Seite des Tisches saß, stand sogleich auf und ging hinaus.

Vater Lamprecht wurde dadurch sofort ärgerlich. Diese Hanne konnte er überhaupt nicht leiden. Er war noch ein frischer Fünfziger, ein vollblütiger Mann, welcher gern eine hübsche Magd sah, und seine kluge Frau sorgte deshalb dafür, daß die magere, schielende Hanne im Hause blieb, auch wenn er sie einer Nachlässigkeit halber fortjagen wollte. Wenn also Hanne in den Vordergrund trat, so wurde er verstimmt und fragte jetzt scharf: »Wer ist denn zuletzt im Hofe gewesen und hat wahrscheinlich den Schieber am Schweinekoben locker gemacht?«

»Lorel ist zuletzt draußen gewesen!« rief unbedacht Rosel.

Das war ein gefährlich Wort. Lorel war gleichsam die zweite Hausfrau. Diese Anklage kränkte sie in ihrer sonst anerkannten Stellung, und sie verteidigte sich in bitterem Tone, ja in ihrer verletzten Ehre ging sie zu einem unerhörten Angriffe über gegen die jüngeren Schwestern, welche ihr alles auf dem Halse ließen und nur ihren Vergnügungen nachliefen. »Rosel mit so viel jungen Burschen, mit denen sie tändelte, und Dorel gar – na, das will ich nicht laut sagen!« schloß sie mit halber Stimme.

»Da hast du auch nichts zu sagen«, sprach mit Ruhe die Mutter.

»O ja!« rief Lorel, »o ja, und recht viel!«

»Was denn?« fragte streng der Vater.

»Ja, was denn?« rief Dorel selbst.

»Heraus mit der Sprache!« rief der Vater.

»Na also, wenn's denn sein muß,« sagte Lorel mit Nachdruck, »sie scharmuziert mit dem halbfremden Schatten Wilhelm.«

Dorel stieß einen leichten Schrei aus. Der ganze Tisch kam in Bewegung.

»Was?« rief der Vater, »mit dem Sohne des groben Bauers? Beweise!«

»Da sind sie. Gestern im Hochwalde beim Feste da sind sie beide zusammen vom Tanzplatze weg und sind zusammen in den dunklen Wald gegangen.«

Allgemeines Oh!

»Das ist nicht wahr!« rief Dorel, »nein, das ist nicht wahr. Ich hatte mir beim Tanze den rechten Fuß verstaucht und humpelte nach rückwärts, um mich an einen Baum anzulehnen. Da redete mich der Schatten Wilhelm an und fragte, ob er mir helfen könnte. ›Ach nein!‹ sagte ich, und um zu zeigen, daß es nichts weiter wäre, humpelte ich noch etwas weiter rückwärts, und da ging's auch schon besser, und ich konnte bald wieder hinaus auf den Tanzplatz!«

»Ja doch!« rief Lorel, »so schnell ging's nicht. Ich hab' euch ja gesehen!«

»Woher kennst du denn gerade diesen Menschen von der widerwärtigen Bauernfamilie?« fragte der Vater.

»O, ich hab' ihn ja schon gekannt, eh' er auf die Wanderschaft ging. Draußen beim Doppelbier in Stromau; das sind schon zwei Jahre.«

»So lange? Und was spricht er denn mit dir?«

»Gar nichts. Es dauerte ja nur ein paar Minuten.«

»Ja doch!« – wiederholte Lorel.

»Schrei du doch nicht in einem fort« – entgegnete ihr Dorel – »du hast's ja ohnehin besser als ich und die Rosel. Dir macht selbst der Vater nicht viel Querstriche mit deinem Walter, wir aber sollen keine Silbe mit einer Mannsperson reden, damit wir ganz gewiß alte Jungfern werden.«

»So kommt's,« wendete sich Lamprecht zu seiner Frau, »wenn man einen Haufen Mädel in die Welt setzt.«

Frau Lamprechtin zuckte nicht über diesen unverdienten Vorwurf, sondern sagte langsam zu Dorel: »Du übertreibst, mein Kind, wegen der Mannspersonen. Mit dem Julius vom Primarius sprichst du öfters, und es ist dir nicht verboten worden. Das ist aber was anderes mit dem Schatten Wilhelm.«

»Element ja! Der Sohn eines solchen Vaters!« rief Lamprecht.

»Aber er ist ein ausgezeichneter Mensch!« sagte Dorel, die sich hinreißen ließ.

»Hoho!« schrie der Vater.

»Oh, oh!« sagte erstaunt die Mutter.

»Das fehlte noch!« – fuhr Lamprecht fort – »solch Zeug! Was weißt denn du unreifes Ding von einem ausgezeichneten Menschen! Das geht mir über den Spaß mit diesem Patron. Merk dir's also: mit dieser Schattensorte will dein Vater nichts zu tun haben; diesem saubern Herrn Wilhelm wirst du künftig den Rücken kehren.«

»Warum denn, Vater?«

»Der alte Schatten hat mir einst – pfui, daß ich davon sprechen soll. Sei ruhig und bring mich nicht in Harnisch!«

»Lassen Sie's gut sein, Vater,« sprach jetzt Lorel, »sie wird gleich selber einpacken mit ihrer Vorliebe für den Schatten Wilhelm. Der Wachmeister war eben da, und der hat mir eine schöne Geschichte erzählt! Er ist vorhin draußen gewesen in der ›Krone‹ bei dem neuen Justizherrn, um ein Schreiben abzugeben, und was hat er da gefunden? Die Tochter des Justizherrn, welche eine schöne Person sein soll, sitzt auf dem Sofa, und wer sitzt neben ihr, ganz nahe und hält sie bei der Hand? Der Schatten Wilhelm.«

Allgemeines »Ah!«

Dorel fuhr kerzengerade in die Höhe.

»Was ist dir?« fragte der Vater.

»Ich habe mich,« antwortete sie kaum hörbar, »ich habe mich verschluckt.«

»Klopf ihr auf den Rücken, Rosel! Das hilft.«

Rosel tat's, kriegte aber dafür einen heftigen Schlag auf den Arm von Dorel, welche auf den Stuhl niedersank.

Ärgerlich darüber rief Rosel: »Was das für ein Mensch ist! Mich hat er gestern durch den Wachmeister grüßen lassen, und ich kenn' ihn gar nicht.«

Dorel stöhnte leise, und die Mutter fragte: »Dich?«

»Ja, mich

»Und ich hör' ja auch,« sagte der Vater, indem er sich zu Gottlob wendete, »daß der Junge da mit diesem Schatten verkehrt. He, du!«

Gottlob hatte endlich doch genug gegessen und war über seinem Teller eingeschlafen. »Er schießt Lerchen!« lachte der Vater, rüttelte ihn wach und fragte: »Was hast denn du mit dem Schatten Wilhelm zu tun?«

»Schatten Wilhelm? Der ist mein Freund.«

Alle lachten. »So?« sagte der Vater. »Wie bist denn du zu dem Manne gekommen?«

»Ich hab' zugesehen bei seinem Bau. Da hat er mich von selbst angeredet und hat mich auf die Backen geklopft, und hat gesagt, ich hätte ein gutes Gesicht. Und dann hat er mir das Bauen erklärt, so hübsch, und ich hab' alles verstanden. Dann hab' ich ihn draußen im Strome schwimmen gesehen, o prächtig! Und als ich fragte, ob ich das nicht auch lernen könnte, da hat er wieder ganz freundlich gesagt: Freilich! Ich sollt' nur 'nauskommen, wenn er wieder baden ginge. Er ist halt mein Freund. Malen kann er auch, und morgen früh malt er das Kreuz draußen am Gelsendorfer Wege.«

»Was? Das Kreuz?« riefen alle.

»Und da darf ich zusehen, vielleicht Farbenreiben; am Ende lern' ich malen.«

»Dummheit, Junge! Du sollst ein Fleischer werden und dich um solches Spielzeug nicht kümmern. Du wirst nicht mehr zu ihm gehen.«

»O ja!«

»Schlingel! Aber was heißt denn das mit dem Kreuze? Ist der Mensch am Ende gar in der Fremde katholisch geworden?«

»Nicht doch,« sagte Frau Lamprechtin; »er kommt ja in unsere Kirche, ins Gestühl des Alten.«

»Dabei könnt' er doch katholische Gedanken haben. Das fehlte ihm just noch. Kurzum, Dorel kehrt ihm den Rücken. Hörst du?«

Dorel blieb totenstill. Sie sah ganz blaß aus.

»Und du, Gottlob, gehst nicht mehr zu ihm!«

»O ja!« erwiderte der verzogene Knabe, welcher seinem schwachen Vater – schwach nur ihm gegenüber – gar oft zu trotzen pflegte.

»Das Maul halten, Bengel!« – rief Herr Lamprecht, dem Gottlob den Kopf schüttelnd. – »Jetzt geht der Bürger zum Biere. Der ›Kegel‹ ist beim Schotter. Der spart am Malze nicht, man kriegt einen ordentlichen Trunk, und wegen der Schafe von heute kann ich ihm ein gutes Wort sagen.«

Somit erhob er sich und schloß die Abendmahlzeit. Rosel brachte ihm Stock und Dreimaster. Er setzte den letzteren auf, stieß den Stock auf den Boden und schaute noch einmal, ein sicherer Herr, auf die schweigende Familie. Dann ging er fort.

Der dreieckige Hut war schon ganz in Abnahme bei den jungen Leuten, er aber trug ihn noch zuversichtlich. Mit Recht, denn er gab der ganzen Erscheinung eine gewisse Krone, etwas Würdevolles.

Sein Weg ging über den Ring; Schotter mit seinem »Kegel« wohnte in der Wassergasse. Ins Wirtshaus ging der Bürger des Abends nicht, das gab's gar nicht. Das Bier wurde in den Bürgerhäusern ausgeschänkt. Jedes Haus hatte Braugerechtigkeit, es braute also unter dem Stadtbrauer für sich, und die großen Hinterstuben wurden dann Schänkstuben. Die ausgesteckten »Kegel« bezeichneten, wo das Bier zu finden wäre. Der »Kegel« war ein schmales Brett über Manneshöhe, welches an den Seiten bogenartige Einschnitte hatte und an seiner Spitze wie ein Zepter ausgeschnitten war. Dieser Kegel wurde neben der Haustür angebracht.

Bei aller Rüstigkeit mußte Lamprecht fein langsam gehen, denn eigentliche Straßenbeleuchtung gab's noch nicht. Am Rathause nur und am Gerichtshause brannte ein Flämmchen, und vor dem Straßenpflaster mußte man sich auch in acht nehmen: es bestand aus runden Feldsteinen und war nicht ohne manche unerwartete Vertiefung.

Als er am Rathause vorüber war, hörte er Flötentöne. Sie nahmen sich sehr hübsch aus in der totenstillen Stadt. Sie war totenstill, obwohl es vom großen Turme erst vor kurzem acht geschlagen hatte.

Wer bläst denn die Flöte? fragte er sich und schaute in die Höhe. – Richtig! Da oben im Eckhause, dem Neubau gegenüber, brennt Licht, und da wohnt, hör' ich, der bedenkliche Baumeister. Flöte blasen kann er auch. Hm, hm! Die Katholischen befassen sich gern mit Musik, wäre er wirklich –?

So denkend schritt er vorüber nach dem Kegel in der Wassergasse.

Und es war in der Tat Wilhelm, welcher die Flöte blies. Damals waren die Klaviere glücklicherweise noch selten – in der Stadt gab's gar keins – und das Flötenspiel war Mode. Wilhelm hatte es von Jugend auf gelernt. Man spielte vorzugsweise Lieder, wie: »Guter Mond, du gehst so stille« und »Nun ruhen alle Wälder«. Wilhelm aber hatte draußen neue gelernt. Ein gewisser Reichhardt hatte besonders Lieder von Goethe in Musik gesetzt, was ja sehr leicht war, und dadurch war Wilhelm mit Goethes Liedern bekannt geworden. Nun hatte er in Berlin bei seinen Baustudien einen innigen Freund gefunden, welcher Regel hieß und Naturwissenschaften betrieb; der kannte die neuen Dichter und sagte sie her, und durch ihn war Wilhelm zu einer Lektüre gekommen, welche in seiner Vaterstadt noch völlig unbekannt war. Es gab wohl einen Stadtkutscher, welcher Schiller hieß, aber von einem Dichter Schiller wußte noch 1810 niemand etwas, obwohl er schon vor fünf Jahren gestorben war. Dichtungen, meinte man, gab's nur im kirchlichen Gesangbuche, und lesen, was man heute lesen nennt, das spielte noch gar keine Rolle. Nicht einmal Zeitungen las man. Es gab auch kein Wochenblatt und keine Druckerei. Was öffentlich bekannt werden sollte, das wurde geschrieben hinter Drahtgittern am Rathause ausgehängt, oder in die Häuser angesagt, oder ausgerufen. Manches, was nur von fern mit der Kirche zusammenhing, wurde nach den Heiratsaufgeboten von der Kanzel verkündet.

Wilhelm hatte somit einen großen Vorsprung vor seinen Umgebungen, und er war schon so weit, daß ihm das Lesen ein Genüge verschaffte. Er hatte einige gute Bücher für seine Bauwissenschaft mitgebracht und ein paar Bändchen von Goethes Gedichten.

In letzteren las er gern, und das hatte er auch heute getan. Sie gewährten ihm eine gewisse Erquickung und Erfrischung. Dann hatte er seine Flöte ergriffen und Goethes »Im Walde schleich ich still und wild« geblasen.

Er ahnte nicht, daß seine sehnsüchtigen Liebesgedanken soeben im Lamprechtschen Hause einen Schlag erlitten hatten, von dem sie sich kaum wieder erholen konnten.


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