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Es kam noch schlimmer. Wozu wäre auch der unermüdliche Wachmeister Kiesel dagewesen, welcher seinen Gehalt zu klein fand und sich darauf angewiesen sah, seine Nahrung zusammenzusuchen wie ein Lumpensammler.
Diesmal nahm er sogar einen noch höheren Flug. Er lechzte nach Rache, nach Rache links und rechts. Dazu wurde er gegen seine Gewohnheit erfinderisch, er wurde ein kleiner Katilina, obwohl er diesen schlimmen Römer gar nicht kannte.
Von Schatten Wilhelm hinweg war er Sonntag vormittags, den durch Rotstift verschimpfierten Erlaß in der Hand, aufs Rathaus gegangen und hatte dem Herrn Polizeiratmann und seinem Vetter, dem Herrn Kämmerer Bericht erstattet. Er hatte dies mit zitternder Stimme getan, weil ihn eine edle Entrüstung übermannte.
Da erlebte er den Schmerz, daß es ihm zum Vorwurfe gemacht wurde, den Erlaß des hohen Rates zurückzubringen, obenein so zerknittert und wirklich verschimpfiert durch den Rotstift zurückzubringen. Pfui! Das sei standeswidrig.
»Ja, um Gottes willen,« schrie er, »was hätte ich denn tun sollen? Er hätte mich ja gehauen!«
»Ein pflichtmäßiger Beamter«, hatte der eiserne Polizeiratmann erwidert, »muß alles hinnehmen, wenn die Würde seines Vorgesetzten auf dem Spiele steht.«
»Auch das noch,« hatte er in sich hineingeseufzt, und die erste katilinarische Regung war in ihm aufgetaucht.
Übrigens hatte der Polizeiratmann gemeint, es seien Rat und Stadtverordnete sogleich zusammenzurufen, um Strafmaßregeln zu treffen gegen den ausschreitenden Bauer Schatten senior und um sogleich die Einleitung des Prozesses gegen den Frevler zu verfügen.
»Das geht nicht; es ist ja Sonntag,« war die Meinung des Kämmerers, »da ist jedermann in der Kirche. Aber morgen soll's geschehen, morgen Montag. Es steht bis dahin nichts im Wege, Stadtwachmeister, daß Ihr in der Stadt ausstreut, wie hochverräterisch sich der Bauer gegen die Stadt benommen und seinen wohlbekannten Knotenstock gegen die ganze Obrigkeit erhoben. Das wird die Stadtverordneten, welche leider oft durch Meinungen gespalten sind, in einen und denselben Harnisch jagen, so daß morgen der Beschluß einstimmig erfolgt.«
Dies paßte dem Wachmeister, denn er wollte sich rächen. Er hatte bei seinem Hundeleben, wie er's nannte, oft dies Bedürfnis, aber er unterdrückte es gewöhnlich aus angeborener Klugheit; er wollte sich nicht ausgesprochene Feinde schaffen. Hier war das anders. Was konnte ihm der Bauer da draußen schaden oder nützen! Besonders nützen! Denn dieser Bauer war sparsam bis zum Schmutz. Also zunächst gegen ihn, dann aber auch – Geduld! Geduld! sagte sich der entstehende Katilina.
So ging Kiesel denn, seiner nächsten Aufgabe entsprechend, den Rest des Sonntags über in der ganzen Stadt umher und erzählte seine Geschichte. Natürlich unter steter Steigerung. Bis zum Abende war sie eine furchtbare Legende geworden, welche überall und zwar mit Zusätzen, eifrigst nacherzählt wurde und beim »Kegel« in Schotters Hause tumultuarische Szenen hervorrief.
Mit seinem Fleiße zufrieden, kam Kiesel abends heim und stand mitten in der Stube, gleichsam Atem schöpfend, still. Kiesel, dachte er halblaut, Kiesel – er vermied absichtlich den Titel Wachmeister – Kiesel, man hat wirklich gesagt, du müßtest dich hauen lassen. Das verdient noch mehr, als die Roheit von einem Bauer – welch Mittel gäbe es, ihnen, der sogenannten Obrigkeit, den Flegel an den Leib zu bringen, welches?
Jette und Fritz, des Abendessens sehr bedürftig, blickten beunruhigt auf den die Lippen und die Arme bewegenden Vater, welcher doch schwieg, und schüchtern sagte endlich Jette: »Vater! Die Erdbern in der Schale sind fertig, aber es ist nur noch wenig Butter da.«
»Butter? Ja, nicht Butter und Brot findet das verkannte Talent. Höchstens schwarzes Brot, aber keine Butter«, sprach Kiesel mit schwacher Stimme, zog aber eine große Wurst aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Dazu sprach er die schmerzlichen Worte: »Dies ist das einzige Ergebnis des ganzen Sonntag. Frau Schotter hat sie mir gestiftet, weil ich ihr klar machte, daß die Absperrung des Wassertores wegen ihrer Schafe den Zugang zur Stadt gesperrt und dem Schotter Unannehmlichkeiten verursachen könnte, sobald ich Anzeige machte.«
»Aber eine Leberwurst, Vater!« – rief Jette – »ach, ist die schön! Darf ich sie gleich braten? Das Holz kostet ja nichts.«
»Das fehlte auch noch! Also brate!«
Er bezog nämlich frei Holz, so viel er wollte. Das Holz, leider sehr wohlfeil, war der Reichtum der Stadt, und jeder Hausbesitzer bekam sechs Klafter so gut wie geschenkt. Nur ein paar Groschen hatte er für jede Klafter zu entrichten.
Während Jette leidenschaftlich mit dem Braten der Wurst beschäftigt war und Fritze – man sagte Fritze, nicht Fritz – ihr mit Handreichungen half, saß der beleidigte Stadtdiener auf dem alten, mehrfach durchlöcherten Strohsessel und dachte nach. Katilina entwickelte sich.
Die gebratene Wurst kam auf den Tisch, und er schien mit einem gewissen Ingrimm zu essen eine lange, lange Weile; plötzlich – wahrscheinlich war er satt – schrie er auf. »Genug!« lautete das Wort. »Der Rest aufzuheben für morgen! Du, Fritze, gibst ein weißes Blatt Papier her und einen Bleistift, rasch!«
Katilina war fertig. Kiesel schrieb langsam und mühsam auf dies Papier. Die Kinder sahen ihm erschrocken zu, denn er schrieb sonst nie einen Buchstaben, er war für mündliches Verfahren.
»So!« – sprach er endlich – »jetzt nimmst du, Fritze, ein neues weißes Blatt, auch nur ein Quartblatt, und schreibst dies ab mit großen Buchstaben, denn der Grobian kann nur schwer lesen.«
Als Fritze dies getan, prüfte Vater Kiesel die Handschrift und las sie laut: »Heute Montag um zehn hat es« – »hat es« war landesüblich für »gibt es« – »eine Versammlung der Stadtverordneten auf dem Rathause. Da wird der Prozeß beschlossen gegen den widerspenstigen Schatten sen., welcher Stadtgut in seine Tasche steckt.«
»Der kommt mit seinem Knotenstocke, und sie beschädigen sich beiderseits«, sagte er unverständlich vor sich hin, laut aber sprach er: »Fritze, du machst immer noch zuviel Punkte. Aber hier kann's nicht schaden. Morgen früh um sieben gehst du nach Gelsendorf zum alten Schatten – du kennst doch sein Bauerngut?«
»Freilich!«
»Und gibst diesen bloß zusammengefalteten Zettel ab.«
»An wen, Vater?«
»An die Frau. Bis gegen zehn ist er auf dem Felde draußen. Ihn mußt du vermeiden, er würde dich durchprügeln.«
»Oh!«
»Die Frau liest's nicht, und die wird's ihm schon einhändigen. Du wartest auf keine Frage, du gibst keine Antwort, sondern machst, daß du fortkommst, und erzählst mir dann, ob's gelungen ist.«
Hierauf ging die katilinarisch gewordene Familie zu Bette.
Des alten Schatten Charakter war so bekannt, daß Kiesels Scharfblick nicht übermäßig hoch anzuschlagen ist.
Der Scharfblick bewährte sich allerdings. Montag gegen zehn kam der alte Schatten vom Felde herein zu Kaffee und Stangentabak. Seine Frau gibt ihm den Zettel. Er verlangt seine Kneifbrille – der jetzige Kneifer war schon damals erfunden – er versucht zu lesen, und wo er stockt, da hilft Christoph. Als er den Inhalt verstanden, springt er auf und schreit nach seinem Sonntagsrocke, nach seinem Dreimaster, und nachdem er jenen angezogen, diesen aufgesetzt, verschluckt er stehend seine Tasse Kaffee, flucht dazwischen, daß es hätte finster werden mögen – wie man zu sagen pflegte – und schreitet dann stracks aus dem Stübchen nach der Tür des Wohnzimmers.
»Aber was denn, Vater?« rufen Frau und Sohn.
»Werdet's zeitig genug erfahren, wenn ich dem unverschämten Stadtgesindel meinen Dorn vor die Nase gehalten.«
Den Dornstock in der Hand, schritt er nun rüstig trotz seines Alters, immer vor sich hin scheltend, nach der Stadt.
Hier in der Stadt waren wirklich die Stadtverordneten versammelt, und es ging sehr lebhaft zu.
Seit ein paar Jahren schon war die vom Freiherrn von Stein in Preußen eingeführte Städteordnung willkommenes Eigentum unserer Städte. Sie hatte sich gründlich eingelebt. Bürgermeister und Rat als Oberhaus, die Stadtverordneten als Unterhaus walteten frei wie eine kleine Republik. Die Regierung des Staates verhielt sich dazu ganz loyal, wohl gar nachsichtig, und machte sich wenig oder gar nicht bemerklich. Und wie merkenswert! Diese sonst so stillen und unkundigen Bürgersleute hatten sich in ein paar Jahren vollständig darin ausgebildet, ihr Gemeindewesen aufmerksam und fleißig zu verwalten. Niemand, wie schüchtern oder träg er sonst sein mochte, entzog sich der Bürgerpflicht, seine Arbeitszeit dreinzugeben und mitzuregieren.
Bei dem vorliegenden Falle wegen des Eisensteins fehlte es an rechtlicher Kenntnis der Frage. Unter allen Umständen fand man es natürlich, daß die Stadt das Eigentum des Minerals in Anspruch nehme, und man stritt mehr um Form und Zeit, als um die Grundfrage.
Aber auch dies nur einen Augenblick. Das persönliche Thema sprang gleich in erste Linie. Wie die Beleidigung von Seite des alten Schatten zu ahnden wäre, das sprang allem andern voraus. Der zerknitterte Erlaß mit der Rötelschrift ging von Hand zu Hand. Obwohl alle pünktlich um zehn Uhr im großen Rathaussaale eingetroffen, blieb doch um halb elf die Hauptfrage noch im Rückstande. Niemand war an der langen Tafel sitzen geblieben, alle waren aufgestanden, alle gingen umher. »Strafe! Exemplarische Strafe!« rief man von allen Seiten. »Nichtswürdig, exemplarische Strafe!« schrie der kleine Seifensieder Pümpler, sprang auf seinen Stuhl, eben weil er klein war, und wiederholte mit durchpfeifender Stimme: »Nichtswürdig, exemplarische Strafe!«
Darauf erfolgte Gelächter. Pümplers Gestalt war dünn, sein Anzug war auf den Nähten nicht ohne Fettglanz, sein Gesicht käseweiß, und er genoß wenig Achtung. Was er aber etwa noch von Achtung errang durch konsequentes Tadeln, das zerstörte in den Sitzungen seine Stimme, welche wie eine Kindertrompete klang.
Nach diesem Gelächter forderte der Vorsitzende die Versammlung mit durchgreifendem Tone auf, sich wieder niederzulassen. Er schien so was wie dies Gelächter abgewartet zu haben, damit er einer ruhigen Stimmung sicher würde, ehe er die eigentliche Verhandlung in Gang setzte. Er war ein dicker Färbermeister von gesundem Menschenverstande, von bewundernswerter Geduld und nicht ohne Humor. Vielleicht dieses angenehmen Humors wegen wählte man ihn immer wieder zum Vorsteher – dies war der gesetzliche Titel. Humor bietet immer Ausgleich, und diesen muß der Befehlende bieten können, sonst wird er verhaßt.
Als endlich alle wieder saßen, ließ er sich den zerknitterten Erlaß einhändigen, legte ihn vor sich auf die grüne Tafel und breitete seine dunkelblaue Hand darüber wie zur Beruhigung. Seine Hand war allerdings ganz blau, weil er Schwarzfärber war. Das fiel niemandem auf; sie waren ja zumeist Handwerker, wenn auch Meister.
So wie er den Erlaß mit der Hand zugedeckt hatte, so ließ er ihn auch aus dem Bereiche seiner Ansprache. Er fragte sogleich nach dem Hauptpunkte: »Haben wir das Grundrecht in Gelsendorf und haben wir gesetzlichen Anspruch auf den Eisenstein oder nicht?«
Ein brausendes »Ja!« war die einstimmige Antwort. Doch nein! Nicht ganz einstimmig. Der Pfefferküchler Keller erhob sich und sagte, ihm sei dies zweifelhaft. »Oho!« von allen Seiten. Aber der Mann blieb bei seinem Zweifel.
Er war Besitzer des Gartens am Eingange von Gelsendorf, und er mochte denken: Am Ende fällt man dir einmal auch auf deinen Garten mit Stadtansprüchen. Vielleicht spukte auch noch ein fremder Sinn in ihm. Das warf man ihm manchmal vor. Sein Urahn nämlich war vor nahezu zweihundert Jahren aus Böhmen eingewandert, als Kaiser Ferdinand II. dort die Evangelischen gewaltsam unterdrückte. Er war Ziergärtner gewesen, und davon mochte wohl die Gartenneigung im Urenkel verblieben sein, welche ihn jetzt noch unterschied von den ureinheimischen Bürgern.
Seinen Zweifel begründete er mit dem Hinweis, daß die Beantwortung der Frage ganz besondere juridische Kenntnisse nötig machte, und die besäße er nicht.
»Ach was!« rief man, »juridische Kenntnisse! Ums einfache Grundrecht handelt sich's, und das besitzt die Stadt.« Bei diesem Widerspruche tat sich besonders Meister Lamprecht hervor durch Heftigkeit. Sein Zahn gegen den alten Schatten war sehr bemerklich, und er machte dessen auch gar kein Hehl. Man erzählte sich, der alte Schatten habe einmal in einem heftigen Streite mit Lamprecht unanständig vor diesem ausgespuckt. Wie dem auch sein mochte, die Versammlung begleitete seine heftige Rede mit beistimmendem Zurufe.
Der Vorsteher indessen nahm auffallend Notiz von dem Zweifel des Pfefferküchlers Keller. Auch ihm schien der rechtliche Beweis noch nicht genügend aufgeklärt – er war's ja auch nicht – er ließ also immer neue Redner zum Worte kommen, was sonst gar nicht seine Art war.
Dadurch gewann der alte Schatten Zeit, um zurechtzukommen, was er zurechtkommen nannte. Auf dem Ringe anlangend, warf er, ohne stillzustehen, einen prüfenden Blick auf Wilhelms Hausbau an der Ecke und ging stracks auf die steinerne Treppe los, welche in das zwischen zwei Türmen liegende Rathaus führt. Er kannte die Örtlichkeit genau, er hatte ja seinerzeit selbst daran gebaut, und er trat fest in das kleine Vorzimmer, hinter welchem das große Stadtverordnetenzimmer lag. Man hörte hier schon den Lärm der Beratung.
Ein steinalter Amtsdiener saß seitwärts und schlief. Er war über allen Lärm und jegliche Aufregung hinaus. Neben ihm saß der Wachmeister Kiesel. Dieser hatte hier eigentlich nichts zu tun, aber er wollte der erste sein, um die erwünschten Beschlüsse gegen den Schattenisegrimm in der Stadt zu verbreiten, und vielleicht auch, wenn der Alte käme und der Skandal mit ihm – nein, nein, den Alten erwartete er nun doch nicht. Bei hellem Tageslichte erschien es ihm doch ganz unwahrscheinlich, daß der Streich so weit wirken könnte – Allmächtiger! Da trat der alte Herr – jetzt war's ein Herr – ins Vorzimmer.
Kiesel fuhr in die Höhe, daß sein Säbel klapperte, ein Todesschreck überfiel ihn, der Alte hatte den Knotenstock in der Hand. Schreck? Jawohl. Aber er hatte es ja doch mit seinem Zettel veranlaßt! Freilich! Es ist jedoch etwas ganz anderes, sich eine Handlung auszudenken und sie dann leibhaftig vor sich zu sehen. In der Phantasie wird man leicht mit den Dingen fertig, die dann folgende brutale Tatsache ist aber doch was ganz Neues. Sie überschüttete jetzt den Wachmeister mit furchtbarer Angst. Jetzt erst fiel ihm ein, am Ende bringt er den Zettel mit und der führt zur Entdeckung. Diese Angst schüttelte ihn so, daß er mit dem Säbel den alten Amtsdiener anstieß. Dieser erwachte dadurch, und er trat dem Herrn Schatten senior nicht nur nicht in den Weg, sondern machte ihm die Tür zum Stadtverordnetenzimmer weit auf, denn für ihn war er der frühere Herr Stadtbaumeister. Da stand der grimmige Bauer vor der Bürgerversammlung. Nicht einmal den Dreimaster nahm er sogleich vom kahlen Haupte. Er ging an die grüne Tafel, legte hier erst den Hut auf dieselbe, griff an die Westentasche und zog richtig den Zettel hervor.
»Auf diesem Zettel«, sagte er mit rauher Stimme und warf den Zettel auf den Tisch, »ist mir angezeigt worden, daß man hier in mein Eigentum eingreifen will. Ich komme her, um Sie zu warnen. Im ersten Augenblicke hab' ich gesagt: So was tun Räuber.«
Ein donnernder Schrei unterbrach ihn, störte ihn aber gar nicht. Er fuhr fort: »Jetzt sag' ich: Es ist ungerecht, ungerecht! Soll mich Gott strafen, wenn es nicht ungerecht ist. Grund und Boden meines Gutes ist mein, wie Grund und Boden der Stadt Ihnen ist. Was Sie hier an meinem Eigentum vornehmen wollen, das wird Ihnen eingetränkt werden an Ihrem Eigentum. Und daß Sie's wissen: ich geh' bis an den König, wenn Sie den nichtswürdigen Prozeß gegen mich anfangen, und wenn ich darüber zum Bettler werden und elendiglich krepieren sollte. Das nur hab' ich Ihnen in Ihren Hochmut hineinsagen wollen, und damit Gott befohlen!«
Er setzte seinen Hut auf und ging.
Unter einem unbeschreiblichen Lärm sprang Lamprecht hinter ihm her und schrie über allen Lärm hinweg: »Dableiben, frecher Bauer!« Der alte Schatten wendete den Kopf zurück, sah ihn an mit unverkennbarem Grimme, sagte leichthin »Hanswurst!« und ging hinaus.
»Aufhalten! Aufhalten!« schrie man; aber niemand tat's, auch Lamprecht nicht, er schien betroffen zu sein. Nur Pümpler, der kühne Seifensieder, sprang unerschrocken wieder auf den Stuhl und trompetete mit seiner unglücklichen Stimme: »Aufhalten, Gott's Schwerenot!«
Diese schwere Not wirkte so mächtig, daß wieder ein Gelächter ausbrach und dadurch Stillstand eintrat.
Aber nun vereinigte man sich rasch zu der Frage: wie gerichtliche Ahndung ins Werk zu setzen wäre gegen solchen Überfall und solche Unbill.
»Verhaften!« – schrie man – »und in die Bürgerstube stecken!«
Die Bürgerstube war ein Zimmer auf der Rückseite des Rathauses, wo widerspenstige Bürger gefangen gesetzt wurden. Das kam sehr selten vor, denn es herrschte ruhiger Gehorsam in der Stadt. Wenn's aber einmal vorkam, dann gab's viel Neugierige in den Fleischbänken hinter dem Rathause, von wo man den Verbrecher sehen konnte, sobald er an das einzige Fenster trat. Man kannte ihn lange und ganz genau; aber da oben, meinte man, müßte er doch anders aussehen.
Der Vorsteher, die blaue Hand flach aufschlagend, erzwang endlich doch Ruhe, und murrend setzte man sich nieder. Er nahm nun den Zettel in die Hand und fragte – er war gewiß ein diplomatisches Talent und wußte vom Peinlichen abzulenken auf Nebensächliches – er fragte also, ob einer aus der Versammlung den Zettel geschrieben und dadurch die üble Szene vielleicht unschuldigerweise herbeigeführt hätte?
»Niemand! Niemand!« hieß es.
»Kennt jemand die Handschrift?« fragte er weiter und ließ den Zettel herumgehen.
Die Tür war offen geblieben nach dem Abgange des alten Schatten, und der Wachmeister hörte und sah alles. »Also richtig der Zettel kommt dran, wie du gefürchtet!« sagte er sich, und der Angstschweiß strömte ihm auf die gefurchten Wangen. »Und das soll Rache sein!« dachte er weiter. »Du warst ein Schafskopf. Und was war schuld? Die fette Speise – die Leberwurst.«
Und nun gar! Denn Lamprecht, an welchen der Zettel gelangt war, Lamprecht schrie ein ausdrucksvolles »Oh!« und setzte hinzu: »Das ist die Handschrift eines Schuljungen. Wir schicken das Blatt an die Schullehrer, die finden binnen einer Stunde den Schreiber heraus.«
Das war der Todesstoß für Kiesel. Es kam ein Geist über ihn, den er sonst nicht kannte, und flüsterte vernehmlich: »Verfluchte Leberwurst, du bist schuld an allem. Geiles Essen verlockt zu frechen Streichen. Nun bricht alles zusammen, und es gibt für dich nie wieder einen irdischen Genuß mit Essen und Trinken. Du mußt fromm werden.«
Doch da kam ein Schimmer der Erlösung; der Vorsteher sprach: »Meine Herren! Wir geraten auf Abwege!«
»Richtig!« rief der Kronenwirt aus der Vorstadt, »der alte Schatten ist fort und wir bleiben beleidigt. Er muß doch wenigstens verhaftet werden.«
»Ja! Ja!« hieß es ringsum.
»Da steht ja der Wachmeister« – sagte Lamprecht – »komme Er herein! Getraut Er sich, den alten Schatten in Haft zu nehmen?«
Das geht auf Leben und Tod – dachte Kiesel, und laut äußerte er sich dahin: »In Gelsendorf draußen? Da ist noch ein zweiter Sohn, genannt Christoph, breit und stark, und da sind robuste Knechte. Dagegen ist bewaffnete Macht nötig.«
»Die haben wir leider nicht« – fistelte diesmal geknickten Tones Pümpler, der Seifensieder.
»Dummes Zeug mit Gelsendorf!« – bemerkte mit knarrender Baßstimme der dicke Böttiger – Büttner sagte man – Knolling – »es kann ja hier geschehen. Er bleibt immer viertelstundenlang stehen drüben an der Ecke beim Hausbau seines Sohnes. Bis dahin sind nur hundert Schritte. Dort faßt der Wachmeister den alten Gesellen und bringt ihn herauf.«
»Ich allein?« – stammelte Kiesel.
»Er hat ja einen Säbel!«
»Meine Herren!« – begann noch einmal der Vorsteher, »wir bleiben ja immerfort auf dem Abwege. Die Personalien mit dem Schatten senior sind ja Nebensache.«
»Oho! Oho!«
»Und können von uns allein gar nicht durchgeführt werden. Wir sind ja laut Statut nur beratende Körperschaft und müßten zu einer Haftfrage erst an den Magistrat berichten. Die Hauptfrage der heutigen außerordentlichen Sitzung liegt ja noch brach vor uns. Sie lautet: Soll der Prozeß wegen des Eisensteins angestrengt werden oder nicht?«
»Freilich! Freilich!«
»Also an die Hauptfrage! Wachmeister Kiesel, abtreten! Wer verlangt das Wort?«
Und nun wurde eine Stunde lang ordnungsmäßig verhandelt. Eigentlich nur darum so lange, weil der Pfefferküchler Keller unwandelbar nein sagte. Weil er aber mit seinem Widerspruche allein blieb, so wurde endlich beschlossen, sich zunächst in betreff des Eisensteines aller Gewaltmaßregeln zu enthalten, unverzüglich aber den Prozeß zu beginnen.
Es zeigte sich auch jetzt wieder, daß trotz kleiner, zufälliger Zwischenfälle diese Körperschaft ganz sachgemäß vorzugehen wußte. Sie hat sich jahraus jahrein verständig erwiesen und auch friedfertig. Denn der Streit hat immer nur Nebendinge betroffen.
Der Vorsteher entließ jedoch die Versammlung mit den ernsten Mahnworten, über die Personalien dieser Sitzung, das heißt über den Überfall des Schatten senior und was sich daran geknüpft, gänzliches Stillschweigen zu beobachten. Dies fordere das Ansehen der Körperschaft. Er als Vorsteher werde nach oben, das heißt nach dem Magistrate hin, die nötigen Meldungen nicht unterlassen, und es werde getan werden, was sich als zweckdienlich erweise. »Also meine Herren, vollständiges Stillschweigen. Wünsche wohl zu speisen!«
»Wohl zu speisen!« erwiderte der Chor.
Dieses Stillschweigen hielt natürlich kein einziger, und als Lamprecht nach Hause kam und sein besseres Kleid abgelegt hatte, erzählte er alles haarklein, während Hanne im Hausflur den Staub aus dem Kleide klopfte. Er war mit seiner Erzählung kaum fertig, da stürzte Hanne wieder herein – dies ewige Stürzen just war Lamprecht so unangenehm! – und hielt dem Herrn einen Zettel unter die Nase. Er sei aus dem Kleide gefallen, während sie geklopft, er sei wohl nicht ordentlich hineingesteckt gewesen – es war Fritzes Zettel, war das Kieselsche Unglück.
»Wo ist Gottlob?« rief Herr Lamprecht, »ruft mir den Gottlob, der kann die Sache besorgen.«
Gottlob war wieder auf dem Brauhausplatze, kam aber gerade heim, da es ans Mittagsessen ging. Der Vater zeigt ihm den Zettel mit dem Auftrage, nachmittags ihn dem Lehrer zu bringen, damit ausgeforscht werde, wer ihn geschrieben.
»Kiesel Fritze!« sagte Gottlob auf der Stelle.
»Was?«
»Das!« sagte Gottlob, und zog auch einen Zettel aus der Tasche. Darauf stand mit Bleistift geschrieben, wer alles und wieviel jeder an Gottlob verloren hatte beim Kegelschlagen. Diesen Zettel habe vor einer Viertelstunde Kiesel Fritze geschrieben auf dem Bretterhaufen, welcher auf dem Brauhausplatze liege.
Es war kein Zweifel. Man sah sich lautlos an, und Lamprecht sagte bloß: »Dieser Wachmeister!«