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Diese Gefahr blieb Wilhelm verborgen. Er war guten Mutes. Das bunte Treiben im und beim Schießhause – so hoffte er – werde ihn sicherlich in Dorels Nähe bringen. Da werde er sie jedenfalls anreden, und die Verstimmung werde sich auflösen.
In den Reitübungen des Herrn Klaus war er drei Tage lang unermüdlich gewesen, und er meinte, der Ritt könne gelingen. Herr Klaus hatte allmählich doch einiges Talent entwickelt, und Schwarzblau hatte auch den wildesten Trommelausbrüchen des Hooraz widerstanden.
Dieser Hooraz war ein flotter, garstiger Bengel von beinahe zwanzig Jahren, der eigentlich Schimmel hieß. Er war einst bis zur ersten Klasse der Bürgerschule vorgedrungen. Dort wurden auch die ersten Anfänge des Lateins gelehrt, und der Rektor hatte einmal, die großen Dichter Roms preisend, ganz besonders den Horaz hervorgehoben. Dieser Name hatte dem aufgeregten jungen Schimmel außerordentlich gefallen, und er hatte ihn stets im Munde geführt, hatte ihn jedoch standhaft mit Betonung der ersten Silbe ausgesprochen. Hooraz statt Horaz. Davon hatte er den Beinamen Hooraz erhalten. Später war er ein Tunichtgut geworden und wurde in der Stadt, weil er doch mit seinem Mulattengesichte ein schnurriger Kerl war, zu allen möglichen Hantierungen wie ein Faktotum verwendet. Beim Stadtpfeifer als Paukenschläger, bei kleinen Bekanntmachungen des Magistrats als Einsager in die Häuser, beim Schützenfeste als Zieler. Stets war er ungestüm und übertreibend, eigentlich ein Idealist oder Hanswurst der Gasse. So war er, auch bei der Reitprobe plötzlich einmal mit wildem Trommelschlage auf Schwarzblau zugesprungen, und dieser hatte einfach nach ihm geschnappt, so daß er erschrocken samt der Trommel auf die Nase gefallen.
Dies Ereignis hatte für Herrn Klaus den Ausschlag gegeben, den Ritt zu wagen, denn Schwarzblau hatte sich bei dem Schnappen nicht von der Stelle gerührt.
Kurz, man war allseitig guter Hoffnung für das Gelingen des feierlichen Rittes. Freilich, für einen hereinbrechenden groben Zufall konnte niemand einstehen. Darüber gab sich Wilhelm keiner Täuschung hin.
Und so kam denn der Tag, der große Tag des Ausmarsches. Leider nicht mit sicherer Witterung. Der Himmel hing voll Wolken, die Luft war schwül, es sprühte frühmorgens ein leichter Regen.
»Das wird uns der Herrgott nicht antun und heute einen Regentag schicken!« seufzten die Alten. – »Das wäre unverzeihlich!« sagten trotzig die Jungen. Alte wie Junge waren frühzeitig vor den Häusern, auf den Gassen. Anderswo hätte man gedacht, es begänne ein Aufruhr. Und die Schneider- und Schusterjungen liefen mit Röcken, Hosen und Stiefeln, welche neu gefertigt oder geflickt worden, überall trabend dahin.
Nun kam Hooraz mit der Trommel und wirbelte mächtig, mächtig. Er sah grimmig drein, und bei gewissen Häusern – er kannte sie alle genau – rief er in seinen Trommelwirbel hinein: »Antreten! Antreten! Kreuzdonnerwetter!« Und dann erst schob er mit dem Trommelschlägel das buschige schwarze Haar zurück, welches ihm bis auf die Nase herunterfiel.
Die Aufregung stieg, und gerechtermaßen hörte nun auch der Sprühregen auf. Im großen Klosterhofe versammelten sich die Schützen. Dort wurde angetreten, und jeder dahin Marschierende rief den Nachzüglern zu: Marsch! Marsch! Nein! Nein! schrie die nacheilende Hausfrau, noch nicht! Und der Schütze blieb stehen, denn die Frau, mit der Nähnadel bewaffnet, hatte noch etwas an der Kleidung zu verbessern.
Um dieselbe Zeit erschien Wilhelm mit seinem Rosse vor dem Hause des Ratsherrn Klaus. Neugierig liefen Zuschauer herbei. Er trat aus dem Hause, er war gefaßt, wie sehr ihn Ahnungen bedrängten. Krampfhaft drückte er die Hand seiner Frau. Er war mit einem leichten Gesichtszucken behaftet von den Nasenflügeln nach den Ohren. Das arbeitete jetzt stark. Es galt für was Vornehmes.
»Der Schatten Wilhelm sieht gut aus,« sagten die Zuschauer untereinander, »als Fourier mit dem breiten grünen Bande über Schulter und Brust. O, und das Pferd! Ist das ein Pferd! Wie es mit dem Vorderhufe strampft, wie mutig! Gott gebe nur, daß – still, der Herr Hauptmann steigt auf!«
Jetzt sah man erst, daß er, obwohl heute auffallend blaß, daß er ein schöner Mann war. Der mit Gold bespickte Leibrock und der Federhut, wie majestätisch! Die Frau gibt dem Pferde Zuckerstücke, und das frißt sie, wunderbar! Jetzt ist er oben, nun geht's los.
Es erwies sich als eine geradezu geniale Idee, daß Wilhelm Fourier geworden. Als solcher konnte er vor dem reitenden Hauptmanne einherschreiten – was für das Pferd so nötig war! – und man konnte ihn für eine Ordonnanz halten zur Verfügung des Befehlshabers.
So gelangten denn auch beide unentwegt in den Klosterhof, wo die ganze Mannschaft jetzt in Reih' und Glied, ihres Hauptmanns harrte. Als sie ihn nun wirklich hoch zu Roß ankommen sah, da übermannte sie ein aufschäumendes Standesgefühl, und es brach aus in einen einstimmigen Jubelruf, vor welchem selbst Schwarzblau stutzte. Unmerklich jedoch für den Reiter. Dieser, idealisch gehoben, fühlte sich so sicher, daß er sich den Luxus gestattete, mit erhobenem Arme so dankbar wie gnädig gegen die begeisterte Truppe hinüberzuwinken. Es blitzte in seinem Antlitze hin und her wie bei einem segensreichen Gewitter. Freilich war auch Hooraz so begeistert, daß er einen unvorhergesehenen Paukenschlag zuwege brachte, welcher jedes Pferd hätte erschrecken können, und den Stadtpfeifer, einen cholerischen Mann, in Wut versetzte. »Dummer Hooraz!« rief er mit zerdrückter Stimme, setzte aber, von einer glücklichen Eingebung überfallen, laut hinzu: »Tusch!« Und die ganze Musik vollzog einen rauschenden Tusch. Er war gegen alles Programm und Herkommen, aber bei so außerordentlicher Gelegenheit billigte ihn jedermann.
Schwarzblau hatte dem einsamen Paukenschlage nur den Kopf zugewendet, und beim Tusch erhob er sein Haupt gen Himmel mit einem kräftigen Gewieher. Jedermann belohnte diese Äußerung mit einem Lächeln, jedermann war angenehm kriegerisch bewegt.
Nun aber mußte eine Wendung vor sich gehen. Der Hauptmann mußte sein Pferd und sich nach der entgegengesetzten Seite richten, und er mußte den Degen ziehen. Beides war nicht unverfänglich.
Der Klosterhof, in dessen Mitte und Tiefe die Schützen standen, war an seiner Morgenseite von einem neuen Anbau geschlossen, und in diesem wohnte der Herr Bürgermeister. Er sollte jetzt aus seiner Haustür treten und die bewaffnete Macht der Stadt begrüßen. Dazu mußte ihm anständigerweise der Hauptmann das Antlitz zukehren, dazu mußte also das Pferd sich ganz umwenden. Ein schweres Werk! Wilhelm war deshalb beim Pferde geblieben und flüsterte jetzt dem Ratsherrn zu: »Den linken Schenkel andrücken, den linken Zügel anziehen! aber leise!« – Es geschah und gelang. Wahrscheinlich nur, weil Wilhelm auf der linken Seite des Pferdes langsam vorausging und so Schwarzblau nach sich zog.
Gerade trat auch der Bürgermeister, ein hochgewachsener Herr, vor seine Türe. Er hatte programmgemäß zu erwarten, daß der ziemlich entfernte Herr Hauptmann sich ihm näherte. Da dies aber unterblieb – es erschien Wilhelm zu schwer, da er doch hier nicht vor dem Pferde einherschreiten konnte – so meinte der Bürgermeister äußerst verständig, man müsse den Umständen Rechnung tragen, und er kam selbst näher, wie Mahomed zum Berge, da der Berg nicht kommen wollte.
»Den Degen ziehn!« – flüsterte Wilhelm.
»Richtig!« – sagte der Hauptmann halblaut und vollzog die wichtige Handlung mit so großer Vorsicht – um durch keine körperliche Bewegung das Pferd zu beunruhigen – daß der Bürgermeister schon ganz nahe vor ihm stand, als die blitzende Klinge über die Mähne des Pferdes emporfuhr, genau wie eine Drohung gegen den Bürgermeister. Dieser wußte ja aber, woran er war, und begann unverzagt seine Rede. Sie war sehr kurz und schloß mit einem Hoch auf die tapfere Schützengilde.
Mit einem aparten Hoch, wozu er gar nicht berechtigt war, leitete Hooraz seinen Paukenschlag ein, den Beginn des abermaligen Tusches. Schwarzblau erhob dazu wieder sein Haupt, diesmal gegen das Angesicht des Bürgermeisters, und wieherte nochmals.
Der Herr Bürgermeister, ein wenig zurückfahrend, fand das scharmant und grüßte mit der Hand das kriegerische Roß. Das hätte stören können, aber Schwarzblau machte sich nichts daraus.
Nun kam die größte Schwierigkeit. Die Musikanten schoben sich vorüber, um an die Spitze des Zuges zu kommen, und der freche Hooraz wollte im Vorbeigehen Schwarzblau streicheln. Schwarzblau schnappte einfach wieder nach ihm – der garstige Kerl gefiel ihm offenbar nicht – und darüber erschrak Hooraz dergestalt, daß er in seiner ganzen Länge mit seinem Lärminstrumente niederfiel. Wilhelm benützte sofort das hierdurch erregte unliebsame Aufsehen, faßte unbemerkt das Pferd am Zügel, wendete es halblinks und blieb vor ihm stehen, bis die Fourierkolonnen hinter der Musik anmarschiert waren. Er gehörte zur letzten Reihe derselben und trat erst zu ihr, als sie schon im Marsche war. So brauchte der Herr Hauptmann gar nichts zu tun, denn das Pferd ging artig seinem Herrn nach, und der Herr Hauptmann erschien siegreich wie ein Olympier an richtiger Stelle. Er hatte in seiner gehobenen Stimmung die Schwierigkeit gar nicht bemerkt. Sie war die größte, denn von nun an ging der Umzug glattweg durch die Stadt; es gab keinen Aufenthalt mehr. Vor dem Klosterhofe wartete der Scheibenträger. Er hatte die Spitze zu bilden, also noch vor der Musik zu gehen. Das tat er wacker. Er war ein starker Mann, und doch bog er sein Haupt unter der Last; denn er hatte eine fast mannshohe Scheibe auf dem Rücken zu tragen. Sie zeigte kreisförmig drei Farben: der unterste Ring war rot, der zweite Ring war schwarz, die dritte Abteilung, genannt der Spiegel, war ein weißer Kreis, in dessen Mitte ein rotes Herz prangte.
Der Zug kam auf den Ring, und hier begleitete ihn die Jugend des Ortes auf beiden Seiten, schwatzhaft und geräuschvoll, Gottlob und der Kiesel Fritze voran, und neben ihnen Frau Klaus, sonst eine sehr anständige Frau, welche aber den Triumphzug ihres Gatten keinen Moment lang aus den Augen verlieren wollte und welche fest entschlossen war, hilfreich einzuspringen, wenn eine Störung sich ereignen sollte. Jedenfalls mit den Zuckerstücken, welche sie in der Hand hielt. Der Triumphator, ihr geliebter Ehemann, winkte ihr auch zuweilen lächelnd mit gesenkter Degenspitze zu, soweit dies ohne Erschütterung des Gleichgewichtes im Sattel erreichbar war. Gottlob wie Fritze versuchten bei solcher herausfordernder Gelegenheit immer, ein schüchternes Hurra hören zu lassen. Dabei trachtete Gottlob, in die Nähe Wilhelms zu kommen. Dieser winkte ihn aber entschieden fort und sagte leise, er sollte das bleiben lassen. Er hatte genug zu sorgen, denn er bemerkte wohl, daß der Herr Hauptmann leichtsinnig, das heißt, zu sicher wurde.
Und gerade aus dem Ringe, als der Zug an der von Zuschauern dicht besetzten Rathaustreppe vorüberging, wurde Wilhelm zum ersten Male ängstlich. Er fing an, das Wetter zu fürchten, denn die Wolken hatten sich dunkel zusammengezogen über der Stadt, und es donnerte schwach. Nur kein Donnerwetter! Lieber der gefürchtete Regen, welcher bis jetzt ausgeblieben war. Warum? Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sein Roß bei einem Donnerwetter zu beobachten. Wird es auch das ruhig bestehen? Den Donner wohl, denn selbst Hoorazens Mordspektakel hatte Schwarzblau nicht aufgeregt. Aber ein Blitz?! Wenn ein greller Blitz niederfährt, wird Schwarzblau nicht zur Seite prellen, und wenn er zur Seite prellt, dann fliegt der Herr Hauptmann aus dem Sattel irgend wohin.
Da schimmerte ein tröstlicher Sonnenstrahl unter dem Wolkenrande auf den Ring. Gott sei Dank! Nein! Unmittelbar darauf wurde es ganz finster, und es folgte ein langes Donnerrollen. Hierzu kam noch ein besonderes Unglückszeichen: der Wachmeister Kiesel machte sich bemerklich. Bei so wichtiger Gelegenheit wollte er sich natürlich das Ansehen geben, als müßte er allein die Ordnung aufrechterhalten, und so ritt er denn zu Fuß die ganze Linie des Zuges entlang, nämlich in einem taktmäßigen Hundetrabe, den schlotternden Säbel an die Hüfte pressend, hüpfte er schweratmend daher, bis der einmal losgelassene Säbel an die Frau Klaus anschlug. Sie schrie leise und schalt ihn, sogar der Herr Hauptmann rief: »Aber Kiesel!« Erschrocken hielt er inne und entschuldigte sich mit militärischer Pantomime, und gleich darauf stockte auch der Marsch.
Er war am Eingange der Fremdengasse, nahe dem Lamprechtschen Hause. Die reicheren Hausbesitzer hatten junge Birkenbäumchen vor ihren Häusern eingegraben, die Feierlichkeit zu erhöhen. So standen auch zwei Birkenbäumchen vor dem Lamprechtschen Hause, und die ganze Familie, den Herrn und Meister ausgenommen, welcher unter den Veteranen marschierte, stand vor der Haustür. Auch Dorel, wie Wilhelm schon von fern entdeckte, und auch Herr Julius, welcher das lustige Wort führen mochte; denn Wilhelm hörte lachen, als er näher kam. Da bemächtigte sich seiner die Eifersucht, und er vergaß die Sorge um Schwarzblau. Dieser aber in seiner Vorliebe um junge Birkenblätter schwenkte links ab zum Schrecken des in der Zügelführung machtlosen Herrn Hauptmannes und strebte den Birkenbäumchen zu. Ja, die gedankenlose Rosel streckte ihm einen ganzen Busch abgebrochener Zweige entgegen als Lockung und trat dabei noch zurück unter die Haustür, als wollte sie ihn und – daran dachte sie wohl nicht! – den untrennbaren Herrn Hauptmann ins Innere des Hauses verführen. Eine häusliche Blamage nahte mit sicherem Schritte, denn Schwarzblau folgte unverwandt dem vorgehaltenen Busche – da rief der Herr Hauptmann: »Nein!«, um doch etwas zu tun, und der Himmel kam zu Hilfe. Ein greller Blitz fuhr breit leuchtend durch die Gasse, ein furchtbarer Donnerschlag folgte, der alle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, und Wilhelm kam dadurch zu sich. Er sah die Ausschreitung des Rosses, sah, daß es vor dem flammenden Blitze zusammenzuckte, und sprang mit einem Satze hinüber, das Pferd beim Zügel zurücknehmend. Er hörte dabei die Worte Dorels: »Laß das, Rosel!« und war einen Augenblick lang Auge in Auge mit Dorel, welche ihn erschreckt ansah.
»Da kommt's!« jubelte innerlich der nahe Wachmeister und drängte sich herzu, eines Rippenstoßes nicht achtend, welchen ihm ein gestoßener Schusterjunge beibrachte. Er meinte, die Blamage vor sich zu sehen – er sah nichts, er kam zu spät, der Herr Hauptmann saß noch oben, er hatte nur gewackelt im Sattel, weiter nichts, weiter gar nichts, er ritt schon wieder regelmäßig, der Zug marschierte wieder. Freilich, der Angstschweiß war ihm ausgebrochen, und er hätte gern das Schnupftuch hervorgezogen, aber das ging nicht, da eine Hand den Zügel, die andere den Degen halten mußte. Er mußte den Schweiß rinnen lassen durch die unbändig zuckenden Muskeln des Antlitzes – davon erfuhr ja die Stadt nichts. Die ganze Störung war kurz und war im engen Rahmen eines Familienidylls verblieben, die große Menge hatte nichts davon erfahren, und die herzukommende Frau Klaus, obwohl halb tot, hatte lächelnd zu Rosel gesagt:. »Der Herr Hauptmann reitet so sicher, daß er sich ein Späßchen erlaubt mit jungen vorwitzigen Mädchen!« Zu diesem kleinen Ausfälle war sie ja berechtigt. Was hätte entstehen können!
Mit dem heftigen Schlage schien das Gewitter erschöpft zu sein; es zog ab und der Zug kam unaufgehalten zum Schießhause, wo der Herr Hauptmann leidlich anständig abstieg und endlich sein Schnupftuch hervorkriegen konnte, während die Gattin das brave Roß mit Zucker labte. Der Blick, welchen Mann und Frau miteinander tauschten, war unbeschreiblich; die große Tat war glücklich vollbracht!
Dagegen sah Lamprecht höchst verdrießlich aus, als sich jetzt die Legion auflöste und ihre Gewehre in die Schießhalle trug. Unterwegs hatte er immerfort vorn und hinten hören müssen: »Pompös! Pompös!« Dies war das Schlagwort, und dabei war nicht nur die Ritterlichkeit des Klaus, nein, auch die Gefälligkeit des Schatten Wilhelm gepriesen worden. O, wie ärgerlich war er gestimmt! Als einmal die Stockung eingetreten – es war dies vor seinem Hause – da hatte er sich auf dem nichtswürdigen Gedanken ertappt: Wenn doch der Teufel sein Spiel hätte! Denn der Schatten mußte es büßen. Er schämte sich hinterher, als doch nichts vorgefallen war, dieses unpatriotischen Gedankens und war deshalb grimmig bis zum Raufen. In solcher Stimmung pflegte er zu trinken, und das tat er denn auch, obwohl es noch nicht Mittag war.
Das allgemeine Fest für die Stadt begann erst nachmittags. Da erst kamen Frauen und Mädchen »aufs« Schießhaus, wie man sagte, das heißt in den ersten Stock des Schießhauses, welcher aus drei Sälen bestand. Sie waren durch offene Bogen miteinander verbunden. Der ganze Bau war ein Meisterwerk des alten Schatten, das konnte niemand leugnen. Unten im Erdgeschosse waren große Stuben und die sehr geräumige Schießhalle. Hierher, in die unteren Räume, drängten jetzt die Schützen.
Wilhelm wurde umringt von den vornehmen Bürgern, welche ihm Dank sagten für seine Bemühungen zur Verherrlichung der Stadt. Auch Frau Klaus dankte herzlich, Herr Klaus dankte mit einigem Stolze; er ließ fühlen, daß er doch die Hauptsache geleistet.
Dann ritt Wilhelm heim, um Schwarzblau füttern zu lassen und seinen Geschäften nachzugehen. Obwohl das Fest mehrere Tage dauerte, so war doch Schwarzblaus Dienst zu Ende, denn es wurde nur einmal ausmarschiert.
Nachmittags war der Himmel rein, und die Sonne schien. Das weibliche Geschlecht strömte hinaus; auch die Klosterkutschen traten auf; sie brachten Bürgermeister und Rat »aufs« Schießhaus.
Die weibliche Familie Lamprecht wanderte vollzählig dahin. Die Mutter nachdenklich, Lorel in gemessener Ruhe, Rosel lustig, Dorel traurig, und ach, beinahe wie ihr Vater ärgerlich, verstimmt. Der Wilhelm mit dem breiten grünseidenen Bande über die Schulter bis zu der trefflich gefalteten Rosette an der Hüfte, er wollte ihr nicht aus dem Sinne. Und darüber eben ärgerte sie sich. Wie gut sah er aus! Und wie hatte er das alles zuwege gebracht! Denn er – das gestand sie sich – er hat alles geführt wie ein Meister, ach, wenn er –!
Um 3 Uhr waren oben im Schießhause alle drei Säle gefüllt. Der Saal links vom Eintritt war für die Honoratioren, dies war der Ausdruck, und für deren Frauen und Töchter. Dort hielten sich der Herr Bürgermeister auf, die Justizherren, die Ratsherren und die Prediger. Der Herr Bürgermeister spielte immer Karten, und zwar mit ganz kleinen Karten, welche französische hießen und sehr glatt und sauber waren. Im Bürgersaale rechts vom Eingänge, wo man auch spielte und trank – das Bier war frei und wurde nicht bezahlt – hatte man noch die großen, gröberen Bastankarten, welche wohl aus Spanien stammten und während der österreichischen Herrschaft aufgekommen waren, neben den kleineren deutschen Eichel- und Schellenkarten. Der mittlere Saal war der Tanzsaal. Da saß die Mutter mit ihren Töchtern. Frau Lamprechtin ganz nahe dem Honoratiorensaale links; das kam ihr zu als einer der angesehensten Bürgersfrauen; ihr Mann war Ältester des Fleischhauergewerkes.
Man hatte schon den ersten Walzer getanzt, Lorel mit ihrem Walter, Rosel mit einem lustigen Gesellen, welchem sie den Vorzug gegeben vor drei anderen; Dorel hatte mit Kopfschütteln Körbe ausgeteilt. Da erschien Julius im Honoratiorensaale, und es entstand ein allgemeines Aufsehen. Warum? Er trug ein langes Beinkleid bis auf den Stiefel hinab, Pantalon genannt. Das war ganz was Neues! Alle jungen Leute trugen noch blanke Stiefeln bis ans Knie. Dorel bemerkte es, sah aber, daß auch sofort jene Amélie, welche sie standhaft Male nannte, auf Julius zutänzelte und ihm ersichtlich Komplimente machte über seinen modernen Anzug.
Hastig und leise sagte sie zu ihrer Mutter: »Das Geschöpf ›vettert sich‹ überall ›an‹!«
Kaum war das gesagt, da erschien Wilhelm im Tanzsaale, völlig umgekleidet, und »Sehr hübsch!« und »Herrje!« rief man, ebenfalls mit dem neuen Pantalon bekleidet. Außerordentlich!
Es war der Anzug, den er sich von Berlin mitgebracht und aus Mangel an Gelegenheit noch gar nicht angelegt hatte.
Dorel fuhr zusammen. Am Ende war es ihr doch eine Genugtuung, daß der Julius nichts vor ihm voraus hatte.
Allmächtiger! Er kam auf sie zu, als ob er sie zum Länder – so hieß der schnelle Walzer, welcher eben gespielt wurde – auffordern wollte. Ja, der dreiste Mensch kam direkt auf sie zu! Nein, er wurde aufgehalten. Die zudringliche Amélie – diese Male! – war aus dem Honoratiorensaale herausgeschlüpft, war zwischen ihn und die Lamprechtschen gefahren, und bot sich ihm lachend als Tänzerin an, weil er so prächtig modern aussähe.
Dorel hörte dies deutlich und flüsterte zu ihrer Mutter: »Das ist doch geradezu ausverschämt!« – So sagte man für unverschämt. – »Und wie tanzt sie, Mutter! Wie! Ist das nicht einfach unbändig?«
»Ja,« sagte die Mutter, »der junge Mann neben ihr sticht ab durch Ehrbarkeit.«
»Fest tanzt er, während sie zappelt«, setzte Dorel hinzu.
Dorel war sehr aufgeregt, und die Mutter hieß sie schweigen.
Als der Tanz beendigt war, führte er sie in den Honoratiorensaal zurück, machte ihr eine anständige Verbeugung und wendete sich, sein Auge dahin richtend, wo Dorel saß. Er blieb seinem Vorsatze getreu; er wollte sie anreden, es koste, was es wolle, auch in Gegenwart ihrer Mutter und ihrer Schwestern. Ach, wie bestrickend sah sie aus!
Sie bemerkte es, daß sein Auge auf sie gerichtet war, und eine leichte Röte flog über ihr blasses Gesicht. Sie hob den schönen bloßen Arm – denn die Mädchen waren im Ballanzuge – in die Höhe, ihre Augen bedeckend, als wollte sie nichts sehen.
»Sie soll mich sehen« – sprach er vor sich hin – »sie soll mich hören!« – Und stracks ging er auf sie zu.
Nur noch einige Schritte von ihr entfernt, wurde er jedoch wieder aufgehalten. Von einem kleinen älteren Herrn mit ganz grauem lockigen Haupte und einem kleinen Haarbeutel statt des Zopfes. Er war nachlässig gekleidet, und die Busenkrause hing weit heraus aus der Weste. Dazu hatte sie gar keine Berechtigung, denn sie war nicht sauber. Schnupftabakkörner hafteten auf ihr. Er trug die Dose in der Hand und holte sich oft Nahrung aus ihr, während er zu Wilhelm sagte: »Sie kennen mich noch nicht, Herr Baumeister; ich bin einige Wochen verreist gewesen. Ich aber kenne Sie. Heute morgens, als Sie mit der Schützengilde ausmarschiert waren, habe ich Ihr neues Haus angesehen, außen und innen, und habe es sehr verdienstlich gefunden. Es ist solid und geschmackvoll. Nun haben wir hier im Orte den Bau eines Hospitals vor – die jetzige kleine Hütte ist ja erbärmlich – Bürgermeister, Rat und Stadtverordnete haben ihn schon bewilligt, und über diesen Bau möcht' ich mit Ihnen sprechen. Ich heiße Gosau; meinen Namen werden Sie wohl schon gehört haben. Aber lassen Sie uns auf und ab gehen; ich steh' nicht gern. Beim Stillstehen trocknen mir die Gedanken ein.«
Und sie gingen im Honoratiorensaale auf und ab. Der Herr faßte dabei Wilhelm unter den Arm.
»Mutter! Der Herr Baron faßt ihn unter den Arm!« flüsterte Dorel.
»Ja.«
»Das ist sehr ehrenvoll!«
»Ja.«
Dieser kleine ältere Herr war wirklich ein Baron, der einzige in der Stadt. Er war auch nur ein Gast. Freilich ein jahrelang verweilender. Gast wurde er auch genannt, nicht Fremder, und er wurde aufs höchste geachtet, ja geradezu verehrt, denn er tat lauter Gutes für die Stadt. Auch das Birkenwäldchen da unten hatte er pflanzen lassen, und überall war er mit Anregung und Ratschlägen zur Hand. Reich war er nicht, doch steuerte er mitunter kleine Summen bei, wenn seine Neuerungen, die man ja nicht liebte, keine Zustimmung fanden. Dann spottete er wohl: die Stadt sei ja reich, sie sei nur ein wenig träg.
Er war der Schwager des Bürgermeisters, und seine Frau, die Schwester der Bürgermeisterin, hatte ihn hergebracht, weil sie keine Kinder hatte und sich auf dem einsamen Gute in Kurland langweilte. Sie hatte sich so nach ihrer Schwester gesehnt, und er war für sie die Güte selbst, auch wenn sie, die ein wenig heftig war, etwas wünschte, was er lieber nicht gewollt hätte. Er hieß Baron von Gosau und gehörte zu jener Klasse herzensguter Edelleute, welche die Auswüchse der französischen Revolution zwar erschreckt, doch nicht entmutigt hatten. Diese Klasse entwickelte im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zahlreiche Originale. Man nannte dieselben Philanthropen, und sie waren wirklich Menschenfreunde. Sie trachteten wirklich Tag für Tag, etwas Freundliches und Nützliches zu veranstalten und wollten damit beweisen, es sei nicht nötig, gleich den ganzen Staat umzustürzen, wenn man die Menschheit fördern wollte. Ein langer Schmerz in seinen jungen Jahren hatte ihn nicht verbittert, sondern mitleidig gemacht für leidende Menschen: die Unvorsichtigkeit eines Kutschers hatte ihm durch einen Peitschenhieb das rechte Auge ausgeschlagen. Jetzt trug er ein gläsernes, und das mochte wohl manchmal drücken, denn er fuhr eben mit der Hand an dasselbe, als er ausgeredet und Wilhelm gefragt hatte, ob er rasch einen Plan aufzeichnen könnte für das zu erbauende Hospital.
»In vierundzwanzig Stunden«, antwortete Wilhelm.
»Schön! Schön! So lieb' ich's. Ich erwarte Sie mit der Zeichnung.«
Darauf entließ er Wilhelm, indem er ihm die kleine warme Hand reichte, die linke, denn in der rechten hielt er die Dose. Das kleine pockenrote Gesicht lächelte dazu, und nachdem er rasch eine Prise zur Nase geführt, wendete er sich nach seinem kartenspielenden Schwager, dem Herrn Bürgermeister, hin, welcher aufschaute und mit dem Haupte nickte.
Wilhelm blieb noch einen Augenblick stehen und überdachte schnell den willkommenen Antrag; aber nicht lange; er kam sogleich auf seinen Vorsatz zurück, Dorel anzusprechen.
Während er wieder auf sie zuging, entstand im Bürgersaale rechts ein großer Lärm. Lamprecht mit seiner schlechten Laune war dort erschienen und hatte heftig auf das schlechte Bier geschoben. Seine Frau hatte ihn sofort an der Stimme erkannt, war aufgestanden und hatte ängstlich zu den Töchtern gesagt: »Um Gottes willen, der Vater hat getrunken!«
Da war Wilhelm bei der Familie angekommen, und zu seiner Überraschung trat ihm Rosel entgegen und sagte spitz: »Wie kommen Sie denn dazu, Herr Schatten, mich durch den Wachmeister grüßen zu lassen?«
»Ich?«
»Ja, Sie! Wir stehen ja doch nicht auf so vertrautem Fuße; das müssen Sie mir eingestehen.«
»Das gesteh' ich mit Bedauern ein, denn es wäre mir lieber, wenn ich Sie grüßen lassen dürfte. Den Wachmeister übrigens würde ich mir wohl dazu nicht auserwählt haben. Aber die ganze Grußgeschichte ist falsch und wahrscheinlich von dem faselnden Kiesel erfunden. Ich habe Sie nicht grüßen lassen.«
»Da hast du's!« sagte Dorel.
In diesem Augenblicke, als sich Wilhelm nun an Dorel wenden wollte, brach Meister Lamprecht aus einem Schwarm von Bürgern, die schallend lachten, in den Tanzsaal herein, und als er den verhaßten Schatten Wilhelm bei seinen Töchtern stehen sah, ging er mitten durch die Tänzer, welche sich eben zu der damals beliebten »Ekossaise«, auch »Langenglisch« genannten Tanze angestellt hatten, und rief noch mitten unter den aufgeschreckten Tänzern nach den Seinigen herüber: »Heda, junger Herr!«
»Gehen wir fort! rasch!« flüsterte die Mutter und wollte aufbrechen. Wilhelm aber machte eine beschwichtigende Armbewegung und ging dem grimmig nahenden Lamprecht entgegen. Er dachte: Es muß biegen oder brechen.
Lamprecht, überrascht davon, daß der Mensch auch noch auf ihn zuschritt, fand nicht augenblicklich das richtige Wort und ließ Wilhelm Zeit zu der Rede: »Ich bedanke mich, Herr Lamprecht, daß Sie mir durch den Wachmeister freundliche Worte haben sagen lassen.«
»Den Wachmeister soll der Teufel holen« – unterbrach ihn Lamprecht – »und seine freundlichen Worte dazu, denn ich will Ihnen eben sagen –«
»Pardon, Herr Lamprecht, ich habe dem Herrn Baumeister noch etwas Nötiges auseinanderzusetzen, dann überlasst ich Ihnen den trefflichen jungen Mann.«
Dies sprach der Herr Baron, welcher herangekommen war und seinen Arm wieder unter den Wilhelms schob, um ihn fortzuführen.
»Der Herr Baron?« – stammelte Lamprecht und sagte nichts weiter.
Dieser höchsten Respektsperson gegenüber verstummte auch er. Offenen Mundes sah er ihm nach, als er Wilhelm wieder in den Honoratiorensaal führte, und murmelte nur giftig: »Auch das noch!« dann machte er eine drohende Armbewegung gegen seine Frau und Töchter und ging rasch wieder zurück in den Bürgersaal.
Frau Lamprechtin entfernte sich sogleich mit ihren Töchtern aus dem Tanzsaale durch die Mitteltür, welche aus einen Vorsaal führte. Dort gab's eine Treppe rechts, eine Treppe links und vorne freie Aussicht zwischen Säulen auf die Landstraße und den Platz am Birkenwäldchen. Auf diesem Platze war das Fest für die Jugend. An zahlreichen kleinen Tischen wurde um Pfefferkuchen, Erzeugnisse des Herrn Keller, gewürfelt.
Ratlos blickte Frau Lamprechtin eine Weile hinab. Es war ihr klar, daß ihr sichtlich angetrunkener Mann einen Skandal suchte mit dem jungen Schatten und daß sie Dorel aus der Schußweite bringen mußte. Ach, diese Dorel machte ihr Not! Allmählich war Frau Lamprechtin der Meinung geworden, das verstockte Mädchen neige mehr zu dem Schatten Wilhelm, als zum Referendar Julius. Ja, letzterer kam der sorgsamen Mutter bereits etwas windig vor. Er wußte doch gewiß, daß ihm Lamprecht die Dorel zugedacht hatte, und doch trat er mit keiner Erklärung heraus. Auf der andern Seite sah sie aber auch, daß ihr Mann in alle Ewigkeit nicht zu gewinnen sein würde für den Schatten Wilhelm, denn Lamprecht war in seinen Vorurteilen unlenkbar. Unter solchen Umständen könnte ihr geliebtes Dorel recht unglücklich werden. Sie selbst, die eigentliche Frau Lamprechtin – das gestand sie sich ein – sei bereits für den Schatten Wilhelm eingenommen. Er gefiel ihr.
»Wohin, Mutter?« fragten endlich die Mädchen.
»Zum Gottlob hinunter. Er würfelt dort um Pfefferkuchen. Das wollen wir auch.«
»Ah?!«
»Weißt du, Mutter, was ich jetzt eben im Saale gehört habe?« sagte Rosel.
»Na, was denn?«
»Die Male aus der ›Krone‹ läßt sich ›Fräulein‹ titulieren, als ob sie von Adel wäre. Ihr Vater heißt aber bloß Stammbach, wie unser Vater Lamprecht heißt.«
»Was kümmert's dich! Kommt!«
Den Gottlob hatte soeben der Wachmeister »in der Mache«, wie er sich ausdrückte. Seine Jette und sein Fritze peinigten ihn um ein paar Groschen, damit sie auch einmal würfeln könnten. Das fand er frech von der Kinderbrut, denn er hatte nie Geld. Er trat also zu dem Tische, an welchem Gottlob würfelte, lüftete Achtung heuchelnd den geschweiften Hut und sagte: »Der junge Herr Lamprecht wird zweifelsohne die darbenden Kiesels eine Viertelstunde freihalten wie ein nobler Edelmann, nicht wahr?« – Gottlob tat das auch. So konnten Jette und Fritze mehrere Pfefferkuchen einstecken, denn Fritze warf immer sechzehn oder gar achtzehn, er war ein Glückspilz. Aber Gottlobs Barschaft ging auch zu Ende, und da kam ihn: die Unterstützung der Mutter sehr gelegen.
Dorel gelang es, sich abzusondern und sich auf eine Bank unter den Birken niederzusetzen. Sie wußte die Bewegung in ihren: Innern kaum noch zu beherrschen. Also es war nicht wahr, daß Wilhelm die Rosel hätte grüßen lassen! Sie hatte es immer bezweifelt; nun war's gewiß – der Wachmeister hatte gelogen. Konnte er nun nicht auch gelogen haben über Wilhelms zärtlichen Verkehr mit dem hochmütigen »Fräulein« draußen in der »Krone«? Freilich! Und dann hatte sie ja Wilhelm abscheulich unrecht getan. Abscheulich, allerdings. Aber bei aller Abscheulichkeit freute sie sich doch, denn nun war Wilhelm nicht falsch. Julius zwar hatte auch gesagt, daß er Wilhelm in der »Krone« gefunden. Ja, aber weiter hatte er nichts gesagt. Dagewesen mochte Wilhelm sein, wer weiß warum? Richtig, der Vater hatte erzählt, daß der nichtswürdige neue Advokat, der Vater des »Fräuleins«, den Prozeß des alten Schatten führte. Da wird – schloß sie – da wird gewiß der alte Schatten seinen Sohn hingeschickt haben – o du, Dorel, Dorel, was hast du da voreilig angerichtet!
Wäre doch jetzt Wilhelm herabgekommen aus den Sälen und wäre zu ihr getreten! Sie saß ganz allein da.
Er kam auch, erlöst von den etwas weitschweifigen Bemerkungen des Barons, welche er gar nicht brauchte, denn er war ganz im klaren über die Aufgabe. Sobald er den Platz der Lamprechtschen Familie leer fand, ging er durch dieselbe Tür hinaus und sah auch gleich die Familie unten an den Würfeltischen. Er sah auch, daß Dorel fehlte. Vorwärts! Suchen! Du wirst sie finden, wirst sie endlich sprechen.
So eilte er die Treppe hinab. Unten im Hausflur jedoch geriet er in ein Gedränge von Schützen, unter denen Hooraz schrie und gestikulierte. »Was gibt's denn?« rief der Wachmeister, welchen der Lärm herbeigezogen. Wilhelm verstand die Antwort nicht, er verstand nur, daß Frau Lamprechtin gesucht werde, und sah, daß der Wachmeister mit Hooraz unter starker Begleitung hinübereilten zu den Würfeltischen.
Was war denn geschehen? War dem Meister Lamprecht etwas widerfahren? Ja. Oben in den Bürgersaal zurückkehrend, hatte er stumm noch einige Gläser Bier hinuntergestürzt und war dann in die Schießhalle hinabgegangen, um sein Scheibenrohr zu laden. Er will doch nicht gar den Schatten Wilhelm totschießen? Nein, er will auf die Scheibe schießen, um nur etwas Heftiges zu tun. Das war sein Bedürfnis.
Diese Schießhalle war ein weiter Raum, und ringsum liefen zusammenhängende Tische, auf denen die Gewehre lagen, die Ladstöcke und der Schießbedarf. Hier standen die Schützen und luden ihre Scheibenrohre. So wurden die Büchsen genannt, welche keine vollständigen Büchsen waren, weil ihnen die Züge im Laufe fehlten. Das sah gefährlich aus. Bürgersleute, welche das ganze Jahr mit keinem Gewehr was zu tun hatten, waren nur dies eine Mal mit Pulver und Blei beschäftigt. Stand da nicht jeden Augenblick eine Explosion bevor? Nein; sie kam nie vor. Handwerksleute sind gewohnt, ihre Hände sachgemäß zu gebrauchen, und der Ältere unterrichtete sorgfältig den Jüngeren.
Auch Lamprecht, obwohl von einem Rausche und von Ärger geschüttelt, lud sein Scheibenrohr prompt und stieg, vor Erregung prustend, die paar Stufen hinab, welche zum eigentlichen Schießstande führten. Es standen da ein paar Reihen, welche warteten, bis sie drankämen. Sie machten dem angesehenen Fleischhauerältesten Platz und ließen ihn gegen die Regel vorne hin, weil sie merkten, daß er was im Kopfe hatte. »Rasch den Schuß hinaus« – meinten sie – »ehe was losgeht.«
So legte er denn sein Gewehr auf den Laden in der hohen und breiten Öffnung, aus welcher man schoß. Er zog den Hahn mit dem Feuersteine zurück und schüttete Pulver auf die Pfanne. Er schüttete mehr auf den Laden als auf die Pfanne, aber das tat nichts; er nahm das Gewehr an den Kopf. Lächelnd sah man zu, denn er wackelte mit dem Gewehre hin und her.
Das Treffen auf die dreifarbige Scheibe war ohnehin sehr schwer. Von Pappelbäumen eingefaßt war der Weg bis zur Scheibe wohl über dreihundert Schritte lang, und auf solche Entfernung ist mit einer gezogenen Büchse schwer genau zu treffen, wie viel schwerer mit solchem Scheibenrohre!
Jedermann erwartete also, nach dem Schusse werde sich ereignen, was sich fast immerfort ereignete: neben dem Zielerhäuschen, welches hinter einer Rasenwand verborgen war, werde sich das gelb-weiße Fähnchen erheben und sich melancholisch wieder niedersenken als Zeichen für einen Fehlschuß, wenn er nur nicht gar – meinte man – links oder rechts durch die Pappeln schießt! so bedenklich schwankte das Gewehr Lamprechts.
Man irrte sich. Lamprecht war kein ungeschickter Schütze. Er wußte ganz gut, daß ihm jetzt die feste Hand versagte, und er wartete so lange mit dem Abdrücken, bis das Herumkreisen einmal bei der Scheibenmitte ankommen würde, und – in diesem Momente drückte er ab.
»Holz!« riefen erstaunt alle. Man hatte den Einschlag in die Scheibe gehört. Hooraz, der Zieler, erschien, um nachzusehen, wo er mit seinem Zielstecken den Treffer anzuzeigen hätte. Ho! ho! Was machte der Hooraz? Er hob ein Bein nach dem andern in die Höhe und winkte nach dem Zielerhäuschen, wo für den Notfall ein Stellvertreter saß, welcher ihm übrigens die Zeit verkürzen half durch Kartenspiel. Der Stellvertreter kam hervorgesprungen und reichte dem Hooraz etwas. Es war eine lange Pistole. Hooraz zog sie auf und feuerte sie ab, neuerdings mit beiden Beinen tanzend. Dann heftete er seinen Zielstab mitten aufs Herz der Scheibe und verbeugte sich tief. Alles schrie: »Herzschuß! Herzschuß!« Der Pistolenschuß hatte schon bedeutet, daß der frühere beste Schuß übertroffen sei, jetzt schrie jedermann im Schießstande: »König! König! König Lamprecht! Gratulieren!«
Lamprecht starrte lange hinaus und schien nüchtern zu werden. »Der Hooraz kommt,« sagte er endlich, »warten wir!«
Hooraz kam geflogen und meldete atemlos, der Schuß sitze mitten im Herzen und könne gar nicht abgeschossen werden.
»Mein Weib rufen!« schrie Lamprecht, und unter Zuströmen von zahlreichen Schützen unter stetem Geschrei: »Es lebe der König!« kam jetzt Hooraz in den Hausflur, Frau Lamprecht suchend. Der Wachmeister nahm den sonst verachteten, jetzt aber hochwichtigen Gesellen unter den Arm und führte ihn schleunigst hinüber zu den Spieltischen, wo Frau Lamprechtin noch stand.
Sie schien bei der Nachricht des Todes zu werden. Aber warum denn? Dies Königtum war ja ein großer Treffer! Es brachte eine Summe Geldes, brachte zweimalige Berechtigung zum Bierbrauen, brachte zwei Grasplätze im Zwinger und die Pflaumen auf den dortigen Pflaumenbäumen!
»Ach, was ist das!« – sagte sie sich – »bei deines Mannes Art und Weise! Solch ein Glück, solch eine Auszeichnung treibt ihn aus Rand und Band mit Freigebigkeit und toller Verschwendung. Das kostet viel mehr, als es einbringt, die Wirtschaft und Verwirrung ungerechnet, die jetzt ins Haus einbricht.«
Aber sie faßte sich wie immer und sprach: »Sagt meinem Manne, daß ich nach Hause geeilt wäre und zum Empfange alles vorbereitete. Kommt Kinder! Wo ist denn Dorel? Ja, wo ist denn Dorel?!«
Der brave Wachmeister ließ sich's angelegen sein, sie herbeizuschaffen.
»Dieser unnütze Schwerenöter!« murmelte Wilhelm, der herzugekommen war. »Wenn man sie jetzt zurückließe« – fuhr er fort – »könntest du –«
»Mamsell Dorel! Mamsell Dorel!« schrie dieser schädliche Wachmeister nach allen Richtungen.
Das mußte sie hören, und sie erhob sich auch von ihrer Bank. Wilhelm sah sie und ging auf sie zu, während der Wachmeister nach der andern Seite schrie. Sie sah Wilhelm kommen und stand betroffen still. Betroffen? Nein, glücklich überrascht, und so blickte sie auf ihn mit lieblich fragendem Auge.
Ach, du heilloser Wachmeister! Gerade das verstand er! hatte er sich umgewendet, hatte sie entdeckt und stürzte herzu, verkündend, sie sei eine Königstochter geworden, und die Frau Königinmutter erwarte sie – »da kommen sie höchstselbst!« schloß er mit Abnehmen des Hutes.
Wirklich kam die Mutter mit den Schwestern den immer Hoch! rufenden Hooraz im Gefolge, welchen der Wachmeister umsonst erinnerte, er gehöre ins Zielerloch.
»Wo steckst du denn, Dorel? Der Vater ist König geworden, wir müssen flink nach Hause, um Stuben, Geschirr und Essen wie Trinken vorzurichten.«
»Ja, Wein! Auch Wein!« schrie Hooraz, »Herr Lamprecht, der König, hat gleich zu Herrn Keller gesagt: ›Heut' zu meinem Ehrentage soll's auch einmal ein Glas Wein geben‹.«
»Das kann ich mir denken! Wenn er nur zu haben ist, der Wein! Der Ringgastwirt hat auch nicht immer welchen. Vorwärts Kinder, vorwärts!«
»Aber nicht zu Fuße, Frau Königin, heut' nicht zu Fuße!« bemerkte der Wachmeister, und er schrie mörderlich: »Schiller! He! Stadtkutscher Schiller, hieher!«
Schiller fuhr mit Vorsicht heran. Mit Vorsicht, denn es hatte sich eine große Menschenmenge herangedrängt zu der königlichen Familie, und diese Menge wich nur langsam vor dem Wagen zurück, weil man den Stadtpferden nur friedliche Gesinnungen zutraute. Sie nahmen auch nicht die geringste Notiz davon, daß die Jugend ohrzerreißend schrie. Gottlob so laut er konnte: »Ich bin der Kronprinz!« und Kiesel Fritz mit den anderen Jungen: »Hoch! Hoch! der Kronprinz Gottlob!«
In dem Gedränge hielt sich Wilhelm fortwährend standhaft in geringer Entfernung von Dorel – die Mutter in ihren Sorgen bemerkte ihn nicht – und als sie mit Lorel und Rosel zuerst in die schwankende Kutsche gekrochen, da drängte er sich rasch ganz nahe an Dorel und streckte ihr die Hand entgegen, um ihr beim Einsteigen zu helfen. Sie lächelte, ja sie lächelte, schwang sich aber selbständig in die Arche Noäh.
Gottlob und Kiesel Fritze erkletterten das Trittbrett hinten am Wagen und hielten sich an den Riemen fest, welche dazu oben am Wagenkasten angebracht waren. Kutscher Schiller sah es wohl, hielt es aber bei so feierlicher Gelegenheit für unschicklich, dagegen wie herkömmlich einzuschreiten mit einem wohlgemeinten Peitschenhiebe. Und so schwankte unter allgemeinem Zurufe die turmartige Kutsche von dannen. Sie schwankte immer, denn sie hing frei in starken Lederriemen, und Referendarius Julius sagte ihr nach, man könne darin seekrank werden.
Wilhelm, nachblickend, stand bald allein. Er hatte zwar kein Wort angebracht, aber er war doch glücklich aufgeregt. Dorel war ja ganz anders gewesen als bisher, gar nicht mehr abweisend, im Gegenteil! Nun wird's gut werden – dachte er – morgen wirst du sie wirklich sprechen.
Endlich auch weitergehend, mußte er nachträglich lachen über die Weinsorge der Frau Lamprechtin. Diese Sorge war begründet. Wein war wirklich fast unbekannt in der Stadt. Er kam nur bei hohen Festen zum Vorschein und auch da nur in bescheidenstem Maße. In der ganzen Stadt hatte niemand Wein im Keller, selbst im Ringgasthofe gab es nicht immer Vorrat. Wozu auch? Fremde gab es kaum, und von den Einheimischen dachte niemand daran, Wein zu trinken. Man kannte ihn durchschnittlich nur aus dem Liede von Claudius: Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsere Reben. Und nun gar Rheinwein! Von dem sang man wohl, aber getrunken hatte ihn kaum jemand. Sogar Weintrauben am Spalier waren höchst selten. Blaubeeren, wie man die Schwarzbeeren nannte, waren die beliebte Erfrischung im Spätsommer, und der schwarze Mund, welchen sie mit sich bringen, schreckte selbst die Mädchen nicht ab.
An solche Dinge heiter denkend, blickte Wilhelm der dahinschwankenden Klosterkutsche nach. Das Gedränge von Menschen hatte sich nach der Abfahrt zerstreut, er stand allein da. Nein! Wenige Schritte hinter ihm stand der Wachmeister. Wilhelm sah ihn nicht und sagte sich:
»Was sollst du noch hier außen ohne Dorel! Geh heim und arbeite!«
Einen Einmarsch der Schützen in die Stadt gab es nicht. Nur eine Abteilung, vom Hauptmanne geführt – zu Fuß geführt – begleitete bei eintretender Dämmerung den neuen Schützenkönig in seine Behausung. Er trug da über Brust und Schultern ein prächtiges Gehänge, aus goldenen und silbernen Schildern bestehend, und gab daheim seinen Begleitern einen Abendschmaus. Je nach Kräften seines Vermögens. Das war eben die Sorge der Frau Lamprechtin: ihr Mann ging bei solchen Gelegenheiten weit über seine Kräfte.
Das wußte auch der Wachmeister, und all seine Geschmackswerkzeuge waren lüstern in ihm, an diesem Schmause teilzunehmen. Er sann nach, ob und wie das möglich sei. »Du da, Schatten Wilhelm, du kannst mir dazu verhelfen!« flüsterte er und blickte auf den endlich fortschreitenden Wilhelm. Seinen frevelhaften Gedanken aussinnend, blieb er immer noch stehen.
Wilhelm aber, der sich nicht umwendete und seiner nicht gewahr wurde, ging geraden Weges heim in seine Wohnung, um die Aufgabe vorzunehmen, welche der Baron ihm anvertraut hatte.
Liebesleute meinen immer, ihr Sonnenschein verbreite sich über die ganze Welt. Wilhelm war überzeugt, der dunkle Widersacher Papa Lamprecht sei jetzt auch hell und sonnig, das Königsglück lösche alle Feindschaft aus in seinem Herzen, und wenn er ihm morgen abends, nachdem er sich mit Dorel geeinigt, warm und ehrlich um die Hand dieser liebenswürdigen Tochter bitte, dann werde der Papa gnädig mit dem Haupte nicken.
Wer durchaus ans Glück glauben will, der macht sich aus einem Besen einen Palmbaum.
Der draußen zurückbleibende Wachmeister half dafür sorgen, daß der Besen ein Besen bliebe. Er hatte ruhig den Abend abgewartet, hatte in philosophischer Stimmung dem glänzenden Abzuge des Königs Lamprecht zugeschaut und war nur mit dem Gedanken beschäftigt gewesen: Kannst du's wagen? Wird dich dieser scharfe Fleischer nicht in unanständiger Weise hinauswerfen, wenn du ungeladen beim Schmause erscheinst?
So fragte er sich nicht ohne Grund. Vielleicht, antwortete er sich, und vielleicht doch nicht, wenn du erstens spät erscheinst und dann erst erscheinst, wann die Laune sich schon lustig überschlägt. Ferner, wenn du amtlich auftrittst. Du meldest Seiner Majestät, im Schießhause herrsche vergnügte Ordnung, und die Schützen lassen dem populären Könige ihren Respekt vermelden. Das muß ihm schmeicheln, und du issest und trinkest endlich einmal ordentlich, wie sich's gebührt. Erweist sich aber der Fleischer trotz alledem noch roh, dann flüsterst du ihm ins Ohr: Geheimnis! Ich bringe eine Meldung vom Schatten Wilhelm und der Mamsell Dorel. Sie haben sich zusammengefunden im Birkenwäldchen, und er hat sie, als ich sie aufgescheucht, offen und ungescheut vor Mutter und Schwester bis an die Klosterkutsche begleitet. Dort hat sie ihm zugelächelt, wie jemand, der seiner Sache sicher ist, und der für den nächsten Tag die erfreulichste Verabredung getroffen mit ihrem Liebhaber, sie, die notorische Braut des Herrn Referendarius. Majestät, hier gilt es, auf der Stelle einzuschreiten, und deshalb bin ich da.
Und also hat es dieser lüsterne, man könnte fast sagen, gewissenlose Mann ausgeführt: als es ganz finster war, ist er nach der Stadt gestolpert und ist – wenn auch klopfenden Herzens – ins Haus des Schützenkönigsschmauses eingetreten.