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Er wußte nicht, ob er wirklich geschlafen hätte, als er am nächsten Morgen spät aufwachte, der glückliche Wilhelm, aber er wußte, daß er der glücklichste Mensch auf der Erde wäre.
Wie in einem glückseligen Taumel besorgte er seine Geschäfte, nichts denkend, als: Wo, wann siehst du sie wieder? Vielleicht bringt Gottlob wieder Gelegenheit. Für heute nachmittag ist er ja bestellt zum Schwimmen. Warte so lange! Jetzt kannst du ja warten, du befindest dich ja vortrefflich.
Nicht so vortrefflich befand sich Wachmeister Kiesel. Im Gegenteile. Seit dem historischen Irrtume mit Schinderhannes draußen am Kirchel fühlte er seine ohnehin mangelhafte Lebensstellung gänzlich erschüttert. Jedermann fragte ihn, selbst bei flüchtiger Begegnung auf der Gasse fragte man ihn: »Nun, Herr Wachmeister, wie befindet sich Schinderhannes?«
Er litt darunter bitterlich. Die Achtung vor dir – sagte er sich – ist untergraben, das scheußliche Wort »Blamage« ist nicht mehr zu vertilgen. Wie kann ein stolzer Mann von Bildung wie du fortbestehen, wenn Blamage auf ihm lastet und ihn täglich foppt? Nein, eigentlich kann er nicht fortbestehen. So dachte er wirklich mitunter an Selbstmord. Aber die Wahl der Todesart hielt ihn auf, und er erinnerte sich doch immer, wenn er sich für eine entscheiden wollte, daß er ein Christ wäre.
Selbst die Mitteilung seines Sprößlings über das nächtliche Rendezvous Schattens junior und Dorels am Brauhause, welche Fritze noch gestern abend gemacht, selbst diese sonst erwünschte Nachricht verfing nicht mehr in seinem abgespannten Gemüte. Ja, es war eine Schandtat dieses jungen Schatten, wie sie Lamprecht bestellt hatte, aber Lamprechts eigene Tochter war dabei! Anzeigen mußte er sie dem wilden Fleischer, welcher ihn an der Schlinge des Zettels festhielt; er bezeugte ja durch die Anzeige, daß er aufmerksam dem Gebote Lamprechts Folge leistete. Aber Lohn war nicht zu erwarten, o nein, der Dorel wegen gewiß wieder ein brutaler Ausbruch des Fleischhauermeisters.
Auch das Thema selbst war ihm unangenehm. Er war gar nicht ohne Herz für Liebesleute. Sonst wohl neidisch, wenn es Ehrenbezeigungen und Nahrungsmittel betraf, bei Vergehungen durch Zärtlichkeit war er's nicht. Der Anblick von Zärtlichkeiten belebte ihn, nährte seine Romantik. Also fragte er sich: Sollst du? Oder sollst du nicht lieber die Rachegeschichte Lamprecht contra Schatten einschlafen lassen? Auch der Fleischhauer wird sie mit der Zeit vergessen. Nein. Der ist durch sein Handwerk blutdürstig, der vergißt nie. Also vorwärts!
So ging er denn an diesem Vormittage ins Lamprechtsche Haus, um die Anzeige zu machen. Im Hausflur begegnete ihm Gottlob und lachte.
»Warum, junger Freund, lachen Sie denn? Ich will Ihren Herrn Vater sprechen.«
»Mein Vater schlachtet just eigenhändig ein Kalb, weil er den Traugott fortgejagt hat, und da ist er nicht zu sprechen.«
»Es soll nicht sein!« sagte der Wachmeister erleichtert und wendete sich zum Fortgehen. Da hörte er Gottlob wieder lachen.
»Warum lachen Sie denn immerfort?«
»Ich denke an den Schinderhannes, wie mag sich der heute bei dem schönen Wetter befinden?«
Ins Herz getroffen, ging Kiesel schweigend fort, dachte aber bei sich: »Du reiche Brut, bist auch nicht sicher vor Unglück.«
Die Sonne schien wirklich sehr warm, der Sommer schien kein Ende zu nehmen, und alte Bürger sagten: »Es muß ein Komet im Anzuge sein.«
Ja, er war mit seinem Unglücke im Anzuge, das zeigte sich noch an diesem Tage.
Es mußte eine drohende Stimmung in der Luft liegen, denn auch der Wachmeister änderte bis nachmittags seinen Sinn. Die Verhöhnung mit dem Schinderhannes von dem unreifen Knaben wurmte ihn nachträglich noch, der grobe Lamprecht sollte dafür auch gezwickt werden, und er setzte sich aufgeregt hin und schrieb: »Laut Übereinkommen zeige hiemit pflichtschuldig an, daß gestern bei stockfinsterer Nacht Jungfer Dorothea Lamprecht vor dem Brauhause eine Zusammenkunft abgehalten hat mit dem bewußten Baumeister Schatten Wilhelm. Augenzeuge hievon ist gewesen mein leiblicher ehelicher Sohn Fritz Kiesel. – Der Stadtwachmeister Karolus Kiesel.«
Diese Note faltete er zu einem Briefe, welchen er versiegelte, und Jette wurde beauftragt, ihn im Lamprechtschen Hause abzugeben. Um dieselbe Zeit – es hatte drei geschlagen – kam Gottlob zum Hause Wilhelms gesprungen. Greif sprang mit ihm um die Wette. Sie fanden Wilhelm im Pferdestalle, wo er Schwarzblau sattelte, und Greif beroch angelegentlich das Roß, welches ihn erstaunt betrachtete.
»Gut, daß du früher kommst, Gottlob. So kann ich dir noch sagen, daß wir erst um fünf in den Strom gehen können; ich muß noch eine Bestellung in Wittendorf machen.«
»Ach, wenn Sie mich doch einmal mitnehmen wollten auf dem Schwarzblau! Hinter Ihnen; ich halte mich mit den Armen um Ihren Leib.«
»Das wollen wir einmal tun. Aber heute nicht; heute hab' ich Eile, und du darfst dann auch erst draußen beim Schießhause aufsteigen, wo's niemand sieht. Sonst lachen uns die Leute aus.«
»Prächtig! Prächtig! Ich hab' auch ein Geschenk für Ihren Geburtstag.«
»Der ist noch lange nicht. Was denn, du reicher Herr?«
»Meinen Matz.«
»Wer ist das?«
»Mein Star ist's. Das fällt mir ein, weil Sie nach Wittendorf reiten. Ich hab' ihn vom Wittendorfer Förster. Er kann sprechen. Wahrhaftig! Der Förster hat ihm die Zunge gelöst, und auch von mir hat er schon ein Wort gelernt. Darüber werden Sie lachen. Wie macht man's denn, wenn man einem Vogel die Zunge lösen will?«
»Ich weiß es auch nicht. Wir wollen den Förster draußen fragen. Wie geht's denn zu Hause bei euch?«
»O gut. Richtig! Würze hätte ich Ihnen gar nicht bringen können; die Dorel muß dummes Zeug gemacht haben, die Kanne war nicht voll, und die Mutter war ganz erstaunt, weil die Dorel dabei so lustig war. Mich hat sie beim Kopfe genommen und geküßt. Das mag ich gar nicht leiden.«
»Komm her, ich will dich auch küssen.«
»Nein, nein! – Greif, komm! Ich lauf' zum Kegelschlagen. Schlag fünf bin ich hier.«
»Greif gehorcht nicht, Schwarzblau wird ihn schlagen.«
»Greif gehorcht mir immer, er ist mein Bruder. Greif, hierher!«
Und Greif gehorchte. Sie sprangen beide in großen Sätzen von dannen.
Wilhelm betrachtete die Fortspringenden nachdenklich. Greif war dunkelgelb mit schwarzen Striemen. Er erinnerte an einen Panther, und er war so groß, daß er Gottlob bis über die Hüften reichte. Er hätte einen starken Mann mit Leichtigkeit niedergeworfen, gehorchte aber hier einem Knaben wie ein schwaches Kind. Gewiß scheint es, dachte Wilhelm, daß zwischen einzelnen Tieren und Menschen eine ursprüngliche Sympathie besteht, und ebenso gewiß, daß die Tiere durch unausgesetzten, gutmütigen Verkehr mit dem Menschen Züge in sich ausbilden, welche sonst nur Menschen eigentümlich sind.
Also denkend, bestieg er Schwarzblau und ritt in derselben Richtung, wo Gottlob und Greif gesprungen waren. Er wollte hinten an der Stadtmauer vorüber, wo seine Leute Steine ausbrachen. Er verwendete sie für die Grundmauern seines Spittelbaues. Diese alte Stadtmauer wurde seit Jahren abgetragen, aber sie schien gar nicht abzunehmen, es ging sehr langsam damit. Seine Leute brauchten Aufmunterung, sie klagten, daß sie die schwerste Arbeit hätten, weil im Altertum die Steine nur mit blankem Kalk verbunden worden wären, es fand sich kein Körnchen Sand dazwischen. Der Kalk aber sei so hart geworden wie der Stein selbst.
So gründlich hatten die Vorfahren gebaut, um das Städtchen gegen Raubritter zu schützen. Die Gelegenheit hatte es erleichtert: das braune Wasser, vom Kirchel draußen kommend, floß wie ein breiter Schloßgraben rings um die Stadt und machte sie zur Insel. So war sie eine natürliche Festung geworden. Jetzt hieß es aber im Rathause: Gott sei Dank, wir brauchen keine Festung mehr und wollen die Steine benützen.
Nachdem er seinen in Schweiß gebadeten Leuten freundlich zugesprochen, ritt er hinter den Häusern weiter und kam so auf den Brauhausplatz. Welch eine süße Erinnerung! Er sah das Bänkchen, es stand noch da. Und die muntere Jugend war auch da, sie schlug Kegel. Gottlob darunter, Keller Karl und Kiesel Fritze. Greif lag in der Sonne und sah aufmerksam zu.
Gottlob flog grüßend herbei, und Wilhelm wiederholte seine Warnung: er möge trotz der Wärme ja nicht ohne ihn ins Wasser gehen. Sein Schwimmen reiche noch nicht zu.
»O ja!« rief übermütig Gottlob dem fortreitenden Wilhelm nach.
»O ja!« wiederholte spöttisch Kiesel Fritze, »du siehst danach aus! Du sinkst ja unter, wenn dich der Herr da nicht hält. Du wirst auch in deinem Leben nicht schwimmen lernen, du bist als Fleischersohn zu fett und zu schwer.«
»Ich bin nicht fett und ich kann besser schwimmen als du, weil ich ordentlich schwimme, wie's der Lehrer verlangt, du aber, du patschest bloß wie ein Frosch.«
»Ordentlich, ordentlich! Das heißt nix. Ich rutsche fort und du sinkst unter. Komme nur einmal hinaus in die Mordlache, wo ich gestern gewesen bin, da ist's in der Mitte ganz tief, und da bin ich gestern 'nübergeschwommen mir nichts, dir nichts. Frag' nur den Keller Karl.«
»Aber geschrien hast du doch, weil dir angst war«, entgegnete Karl.
»Nein, weil ich lustig war. Der dicke Gottlob da wird vor Angst schreien, wenn er sich da 'neinwagte und wenn er merkte, daß die Beine keinen Grund mehr finden.«
»Ich werde nicht schreien, ich werde gehörig 'nüberschwimmen.«
»Du? Das ist zum Lachen! Du wagst dich ja gar nicht hinein in die Mordlache, du fürchtest dich ja wie ein Schneider. Nicht wahr, ihr Jungen?«
Die drei anwesenden Jungen lachten hell auf; Karl nicht.
Dies Lachen empörte Gottlob, und er packte den Kiesel Fritze bei der Brust und wollte ihn niederwerfen.
»Das ist keine Kunst,« stöhnte dieser, »du bist als Fleischerjunge stärker.«
Karl drückte sie auseinander, aber mit halbem Atem fuhr Kiesel Fritze fort: »Schwimmen kannst du doch nicht. Darauf wett' ich!«
»Was?«
»Das ganze Papier, das du heute an mich verloren.«
»Das ganze Papier, gut, ich wette auch. Morgen gehn wir naus.«
»Morgen, morgen, nur nicht heute, sprechen alle faulen –«
»Halt dein ungewaschen Maul, wir gehn heute.«
»Heute?«
»Ja.«
»Gleich?«
»Gleich.«
»Laß dich doch nicht verhetzen, Gottlob,« trat Keller Karl dazwischen, »du bist schon rot wie ein Truthahn. Was schadet's denn, wenn du auch nicht so gut schwimmst wie der Flederwisch da!«
»Ich schwimme aber richtiger!«
Fritze schlug ein schallendes Gelächter auf, und die anderen Bengel lachten aufs ärgste mit. Sie sprangen dazu in die Höhe. Gottlob war außer sich, und als Fritze ihm unter die Nase höhnte: »So halt doch die Wette, du Großmaul!« da schrie Gottlob: »Ich halte sie auch. Vorwärts!«
Und sie rannten wie die Narren durch die Vorstadt hinaus auf die Viehweide, Greif laut bellend, mit ihnen.
Da blieb Gottlob stehen, es fiel ihm Herr Schatten Wilhelm ein, dem er ja versprochen hatte – Keller Karl faßte ihn am Arme und sagte:
»Komm, Gottlob!«
Aber er überstand es nicht, das höhnische Gelächter der anderen Jungen; er riß sich von Karl los, und in einem Zuge ging's nun bis an die Mordlache.
Dort rissen sie sich, er und der Fritze, die Kleider vom Leibe – die Sonne schien glühend warm – und Fritze, der nicht viel abzulegen hatte, war zuerst fertig. Er ging auch gleich in die Lache hinein, schreitend, solange sie Grund bot, also bis gegen die Mitte. Als ihm dort das Wasser bis über die Brust reichte, wendete er den Kopf zurück und rief: »Ein Hundsfott, der mir nicht nachkommt!« Dann streckte er seinen Körper und schwamm. Er war wirklich kein ordentlicher Schwimmer und prustete und spie Wasserstrahlen aus dem Munde, aber er kam über die Tiefe hinüber, stand bald wieder auf den Füßen und ging nun rasch ans jenseitige Ufer, sich niedersetzend und ausrufend: »Gewonnen! Der Fleischersohn kommt doch nicht.«
Gottlob aber, allerdings mit hochrotem Gesichte, schritt heftig in die Lache hinein und fing leider schon an zu schwimmen, ehe er es nötig hatte. So war seine unvollkommene Fertigkeit bereits erschöpft, als er keinen Boden mehr unter sich hatte. Er arbeitete mit Händen und Füßen, aber mit den Füßen fehlerhaft nach unten, und so fing er an zu sinken. Plötzlich hörte man ihn gurgeln, und – er verschwand unter dem Wasser.
Greif, der ihm nachgeschaut und ihn nun nicht mehr sah, sprang in die Lache und schwamm dahin, wo er verschwunden. Die Jungen schrien: »Fritze! Fritze!« Fritze, sehr erschrocken, stieg auch wirklich wieder in die Lache hinein, als wollte er retten. Aber war ihm nun selbst angst geworden, oder konnte er selbst nicht weiter, er rief nur dem umherschwimmenden Greif zu: »Such', such', verloren!« und griff mit den Armen ins Wasser hinein, als wollte er Gottlob fassen, aber seine Arme fanden nichts, Gottlob blieb verschwunden. Weinerlich schrie Fritze: »Ich find' ihn nicht, und der Hund taucht nicht!«
Entsetzt liefen die Jungen alle um die Lache herum nach der andern Seite, und Karl, nur seine Jacke abwerfend, ging ins Wasser, etwas weiter rechts als Fritze, und suchte ebenfalls mit den Armen im Wasser. Alle andern sahen totenbleich zu. Endlich rief Karl: »Ich hab' ihn! Ich hab' ihn! Fritze, komm her und hilf mir!« Fritze kam, und beide zusammen zogen wirklich den armen Gottlob ans flache Ufer hinaus.
Aber über dem Untersinken und dem Herausziehen waren wohl zehn Minuten vergangen; Gottlob war leblos.
»Stürzen, stürzen!« rief Fritze, und die Jungen rasch belehrend, was er damit meine, hoben sie den leblosen Körper an den Beinen in die Höhe, damit ihm das Wasser aus Mund und Nase herauslaufe. Fritz hatte dieses schädliche sogenannte Rettungsmittel von seinem weisen Vater rühmen hören, und es erwies sich denn auch, der väterlichen Weisheit entsprechend, als nichtig. Entmutigt ließen sie den Körper auf den Rasen nieder, und Keller Karl sprach unter Schluchzen: »Gottlob ist tot!«
Nach diesem Worte rannten die schlimmen Buben, von Schrecken gepeitscht, in vollem Laufe nach der Stadt zurück, Fritze nahm sich nicht die Zeit, drüben auf der andern Seite Hemd und Hose anzuziehen. Er tat dies während des Fortlaufens.
Keller Karl blieb allein bei dem Toten zurück, welchem Greif das Antlitz beleckte. Ratlos schaute er umher. Da sah er in der Ferne den Kuhhirten mit den Kühen kommen und schrie und winkte ihm zu. Langsam kam er herbei. Als er die Leiche erblickte, erhob er beide Arme und schlug sie über dem Kopfe zusammen; als ihn jedoch Karl bat, er möchte Leute holen, da sagte er:
»Ich darf nicht von den Kühen fort, aber da kommt ja von Wittendorf her ein Reiter, das ist der Herr Baumeister Schatten –«
So war es. Wilhelm wußte nicht warum; schon auf dem Wege hinaus hatte er den Zügel nicht angezogen und das Pferd laufen lassen, wie es gewollt. War es seine innere Freude, war es eine innere Ahnung? Auch jetzt schien er große Eile zu haben; er ließ Schwarzblau ausgreifen und galoppierte über den abgegrasten Wiesenplan. Karl lief ihm entgegen; Wilhelm hielt und fragte: »Was ist?«
»Gottlob ist ertrunken.«
»Was?«
Dies Was war ein Ton solchen Entsetzens, daß selbst der Kuhhirt erschrocken einen Schritt zurücktrat.
Nun sprang Wilhelm vom Pferde und eilte zur Leiche. Der Kuhhirt ergriff den Zaum Schwarzblaus, wohl aus Fürsorge, daß der Gaul nicht durch seine Herde hinlaufe.
Starr, am ganzen Körper bebend, stand Wilhelm einen Augenblick vor dem nackten, leblosen Körper, »Gottlob, Gottlob!« zu ihm hinabsprechend. Nur Greif wendete bei diesem Rufe den Kopf zu ihm hinauf.
»Das ist ja nicht möglich, nicht möglich –« stöhnte Wilhelm dann, kniete nieder, befühlte den Leib mit fliegenden Händen, auf der Gegend des Herzens verweilend und endlich Atem einhauchend in den Mund Gottlobs. »Junge, mein lieber Junge, wo bist du? Komm zu dir!« Er regte sich nicht.
»Herr des Himmels, er ist wirklich tot!«
Und nun regte auch er kein Glied mehr und blickte irren Auges auf die Leiche.
Jetzt erzählte Keller Karl den ganzen Hergang. Wilhelm schien nicht zu hören. Aber es schien nur so, er hörte alles, und als die Erzählung zu Ende war, blickte er zu dem Knaben in die Höhe und ächzte. Dann strich er mit der Hand Gottlob die Haare aus dem Gesichte, Greifs Kopf wegdrängend, und sprach leise: »Ist das ein Unglück!«
Hierauf erhob er sich, sah sich um und schien seine Gedanken zu sammeln. Erst nach einer Weile sprach er langsam, fast tonlos: »Wir müssen die Leiche zu den Eltern bringen. Du, Karl, nimm die Zügel des Pferdes in die Hand; der Kuhhirt soll mir helfen. Wir wollen ihn ins Schießhaus hinübertragen, dort finden wir wohl einen Wagen; die Stadtkutscher führen Bretter von den Buden in die Stadt.« Der Kuhhirt weigerte sich. Seine Kühe liefen hinter ihm her, wenn er fortginge.
»Dann komm her und hilf mir den Gottlob aufs Pferd ziehen. Erst, Karl, hol' die Kleider! Er soll nicht nackt bleiben.«
Karl, welchem die heiße Sonne die eigenen Kleider am Leibe trocknete, sprang nach der andern Seite hinüber, brachte Gottlobs Kleider und half dann Wilhelm, sie Gottlob anziehen. Als dies peinliche Geschäft beendigt war, stieg Wilhelm auf sein Pferd, und nun hoben der Kuhhirt und Karl den Leichnam so hoch, daß ihn Wilhelm unter beiden Armen fassen und zu sich auf den Schoß setzen konnte. Als er ihn oben hatte, drückte er ihn an sich und küßte ihn. »Du, Karl« – sagte er – »führe das Pferd, ich habe keine Hand frei.«
So ging es fort, Greif ging zur Seite mit, der Kuhhirt blieb zurück und blickte ihnen nach.
Das Schießhaus war nahe, und die Stadtkutscher waren in der Tat noch mit dem Fortschaffen der Budenbretter vom Schützenfeste beschäftigt. Das dauerte eben sehr lange, weil sie ihre Pferde schonten. Erstaunt ließen sie sich herbei, den toten Knaben auf einen erst halb beladenen Wagen zu legen.
»Wartet noch!« sagte Wilhelm und ging ins Schießhaus. Es tat ihm weh, daß sein lieber Junge so hart gebettet sein sollte. Nach kurzer Pause kam er mit der schluchzenden Wirtin wieder, und beide zusammen brachten einen Strohsack. Der wurde Gottlob untergelegt. Matratzen gab es noch nicht, man legte ein dünnes Federbett auf den Strohsack, dies war die Unterlage.
»Noch ein Bettuch, Frau Wirtin, damit er nicht offen daliegt.«
Sie brachte es, und Gottlob wurde zugedeckt.
»Fahrt langsam, damit er nicht zu arg geschüttelt wird, ich reite voraus.«
Er war sich der schrecklichen Aufgabe vollbewußt, die mit der Ankündigung des Unglücks auf ihm lastete, als er fortritt. Der Schweiß rann ihm von der Stirne.
Der Wagen folgte langsam. Karl und Greif gingen neben ihm her.
Du mußt früher ankommen, sagte er sich bald, sonst ist der Schreck noch größer. Und er trieb sein Pferd an.
Über der Stadt lag der Sonnenschein warm und voll, als ob die ganze Welt voll Glück und Frieden wäre. Die Leute saßen vor den Haustüren und sagten sich behaglich: »Trotz der heißen Sonne ist die Luft nicht mehr drückend, sie weiß schon was vom nahen Herbste.«
Auch vor dem Lamprechtschen Hause, wo der Vater vor zehn Jahren zwei Bäumchen eingepflanzt, saßen die Mädchen Dorel und Rosel und freuten sich, daß die Bäumchen so schön gewachsen wären. Sie gäben schon Schatten. Im kühlen Hausflur saßen die Mutter und Lorel. Sie strickten Strümpfe.
Dorel freute sich still ihres Liebesglücks, und daß auch die Begegnung des dreisten Jungen, des Kiesel Fritze, keine Folgen gehabt, daß er also wohl im Finstern den Wilhelm nicht gesehen hätte – da wurde sie aufgeschreckt: Der Wachmeister kam über den Ring daher gerade auf sie zu!
Jette hatte sich geweigert, den Brief ins Lamprechtsche Haus zu tragen bei dem hellen Sonnenschein. Ihre Schuhe wären ganz zerrissen, und das möchte sie nicht sehen lassen in dem »proppern« Hause.
Zum Himmel aufblickend von den zerrissenen Schuhen und stumm fragend: Wo bleibt deine Gerechtigkeit! hatte er mit Fassung erwidert: »Jette, du hast recht. Die äußere Würde muß gewahrt bleiben. So werde ich denn mein eigener Botschafter sein, wie am Königshofe der Gesandte selbst seine Briefe überreicht.«
So trat er jetzt, innerlich von der Furcht geschüttelt vor dem Fleischer, an Dorel heran mit der Frage, ob der Herr Vater zu sprechen wäre, er hätte ihm ein Schreiben zu übergeben.
Dorel stockte die Stimme. »Also doch!« dachte sie; Rosel aber antwortete kurz: »Geben Sie nur den Brief her; der Vater schläft in der Hinterstube, und wir dürfen ihn nicht wecken.«
Dem Wachmeister war ja das sehr angenehm; er übergab Rosel den Brief und wollte eben weiter, da hörte er den Hufschlag des Pferdes, da sah er Wilhelm die Fremdengasse dahergesprengt kommen und trat erschrocken zurück nach dem Lamprechtsgassel hin, rasch denkend:
»Da ist was passiert!«
Die Mädchen sahen erstaunt auf den so lärmend ankommenden Reiter, und als er vor ihnen sein Pferd parierte, daß es mit den Vorderfüßen einknickte, da sprangen sie auf, und Dorel trat rasch zu ihm halblaut hastig sagend: »Das geht nicht, Wilhelm, der Vater ist zu Hause!«
»Armes Dorel, es handelt sich um schlimmere Dinge!« Und lauter fuhr er fort: »Ihr müßt die Eltern vorbereiten. Es ist ein Unglück geschehen mit dem Gottlob –«
»Mit dem Gottlob?!« riefen alle vier, denn die Mutter und Lorel waren herausgekommen.
»Was denn?« fragte erschrocken die Mutter.
»Ich hatte es ihm strenge verboten, ohne mich baden zu gehen; er ist aber doch, verleitet vom Kiesel Fritze, in die Mordlache auf der Viehweide, gegangen und ist da –«
»Ertrunken?« schrie die Mutter.
»Verunglückt, ja.«
»Ertrunken?!« schrien alle vier.
Wilhelm nickte lautlos. Die Mädchen schrien auf, die Mutter sank lautlos an die Mauer, aber sie blieb aufrecht.
»Sie bringen ihn gleich auf einem Wagen, ich bin vorausgeeilt, damit Sie den Vater vorbereiten.«
Das jammervolle Schluchzen der Mädchen wurde durch die Frage Dorels unterbrochen: »Und ist er wirklich tot?«
»Ich schicke gleich den Doktor her. Eilen Sie nur mit dem Vater. Der Wagen kann jeden Augenblick kommen.«
Er wollte zum Doktor. Es gab nur einen, den Herrn Dr. Knopf. Er wohnte nur ein paar Schritte vom Lamprechtschen Hause entfernt, an der Ringecke, wo sie ans Lamprechtsgassel stieß. Dahin führte Wilhelm sein Pferd und kam da am Wachmeister vorüber, welcher dastand wie eine schlecht geratene Statue; er hatte die Anklage seines Fritze gehört.
»Machen Sie sich aus dem Staube,« sagte Wilhelm, »und da haben Sie einen Vorwand, führen Sie mein Pferd in den Stall.«
Dies sagend, trat er ins Haus des Doktors, obwohl er wußte, daß hier kein Doktor helfen könnte.
Der Wachmeister nahm mechanisch die Zügel, war aber doch bei allem Schreck so geistesstark, daß er den nächsten Weg über den Ring vermied – da hätten ihn alle Leute gefragt! – sondern den unnatürlichen Umweg einschlug durchs Lamprechtgassel. Der Schlag mit dem Fritze wirkte betäubend auf ihn. Totschlag wird's heißen – sagte er sich – durch deinen Fritze, und der wütende Fleischer wird keinen Knochen ganz lassen an den Kiesels.
Innen im Hausflur, in welchen die Töchter ihre Mutter geführt, beratschlagte man unter Schluchzen, wer es dem Vater sagen sollte. Mühsam sprach endlich die Mutter: »Ich muß es tun.«
Dorel lief rasch noch einmal vor die Haustür, um Wilhelm fortzutreiben, wenn er noch da wäre. Aber sie mußte rufen: »Er kommt! Gottlob kommt! Die ganze Gasse ist voll Menschen, der Wagen bringt ihn.«
Das lähmte Mutter und Töchter in dem Gedanken an den Vater, und sie schleppten sich bebend an die Haustür.
Der Stadtkutscher hatte schon in der Vorstadt den Vorübergehenden Auskunft gegeben, was das weiße Leintuch auf dem Wagen verdeckte, und jeder Vorübergehende war sogleich umgekehrt und hatte es anderen zugerufen, die sich sehen ließen, und alle waren mitgegangen, so daß wohl ein halbes hundert Menschen mit dem Wagen daherkam, darunter gesetzte Bürger, wie Keller, den Karl herzugewinkt hatte.
Es fehlte also nicht an Händen, als der Wagen hielt, den Strohsack mit der Leiche herunterzuheben und im Hausflur niederzulegen. Die tapfere Mutter war die erste, welche das Leintuch aufhob. Ein Schrei des Entsetzens flog durch den Hausflur. Die Mutter wie die Töchter fielen beim toten Gottlob auf die Knie. Ach, er sah sie nicht mehr, seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht aufgeschwollen.
»Steht auf, Kinder! Laßt mich hin! Ich will sehen, ob es wirklich vorbei ist.«
So sprach ein kleiner runder Mann mit einem ältlichen, gar freundlichen Antlitz und mit einem zierlichen Zöpflein im Nacken.
Es war der Doktor Knopf, der Hilfsengel der Stadt. Er gab sein spanisches Rohr an Wilhelm, der mit ihm gekommen war, und kniete nieder an der Leiche, das Hemd derselben zurückschiebend und sein Ohr ans Herz Gottlobs legend. Dann hob er den Kopf zu Wilhelm hin und fragte: »Wie lange ist's her?«
»O, eine Stunde.«
»Dann,« sprach der kleine Doktor langsam, »dann, liebe Frau Lamprecht, müssen Sie sich fassen, denn der Gottlob ist im Himmel.«
Ein schneidendes Wehgeschrei folgte.
»Wo ist der Vater?« fragte Doktor Knopf.
»Er schläft.«
»Darf's nur nach und nach erfahren; er ist vollblütig.«
»Walter vielleicht, Mutter, könnt' es am besten übernehmen, er war vorhin im Hofe«, sagte Dorel.
Es war zu spät. Das Geschrei hatte Lamprecht aufgeweckt. In Hemdärmeln, sich den Schlaf aus den Augen wischend, erschien er an der Tür der Hinterstube und fragte, was das für ein Lärm wär'.
Der Hausflur war ganz angefüllt von Menschen, er konnte das Unglück noch nicht sehen, und Dorel benützte den Augenblick, Wilhelm zuzuflüstern: »Geh' fort; er darf dich nicht sehen!«
Wilhelm entfernte sich still, während Lamprecht, erstaunt über die Menschenmenge, einige Schritte vorwärts ging.
Der Doktor Knopf, welcher sein spanisches Rohr wieder in der Hand hatte, stellte dasselbe mit einem gewissen Nachdrucke vor Lamprecht hin und sprach: »Alter Freund! Wir müssen alle sterben, Sie und ich. Aber wann? Unsere Vorsicht kann das hinausschieben. Wenn aber ein Unglück kommt – und ein Unglück ist da für Sie –«
»Was denn?«
»Dann müssen wir an uns selber denken und uns herzhaft zusammenfassen, damit uns der Schreck nicht umwirft. Dafür sind wir Männer. Lamprecht, zeig' das!«
»Aber was ist denn?«
»Dein Sohn ist ertrunken.«
»Gottlob?«
Ein unartikulierter Ton rang sich aus Lamprechts Kehle. Er klang grauenhaft. Die anwesenden Leute wendeten erschrocken die Köpfe und traten unwillkürlich zurück, so daß die Bahn und der Blick frei wurde für Lamprecht. Wie ein Blitz schien der Gedanke durch sein Hirn zu schießen: Was der Doktor da gesagt, und was du da siehst, das ist – und die Arme ausbreitend, lief er mit langen Schritten hin, hob den toten Gottlob so weit in die Höhe, daß er zu sitzen schien, starrte ihm ins Antlitz, schob ihm, indem er ihn nur mit einem Arme festhielt, die Augenlider in die Höhe, sah eine Sekunde lang, heftig mit dem Kopfe nickend, in die verglasten Augen seines Kindes und ließ dann den starren Körper wieder auf den Strohsack fallen. Als ob er sich besinnen müßte, regte er sich gar nicht mehr – es war eine Totenstille, denn niemand atmete auch nur hörbar. Dann schrie der arme Vater zweimal:
»Tot?! Tot?!«
Der Klang dieser Worte war unbeschreiblich. Er kam aus dem Innersten eines an Gott und der Menschheit Verzweifelnden und hatte etwas vom Gebrüll eines ins Leben getroffenen Geschöpfes.
Dann fiel der starke Mann auf die Knie, mit dem Kopfe auf die Brust Gottlobs sinkend, und brach in ein Schluchzen aus, daß jedermann mitweinen mußte.
Nur der Doktor Knopf stieß wieder sein spanisches Rohr heftig auf das Ziegelpflaster und schüttelte den Kopf hin und her. Das bedeutete wohl ärztliche Furcht für Lamprecht.
Jetzt trat Frau Lamprechtin zu ihrem Manne, legte die Hand auf seine Schulter und sprach: »August, fasse dich! Gott hat ihn uns gegeben, Gott hat ihn zu sich genommen, der Name Gottes –«
»Tot!« rief er wie ingrimmig und erhob sich mit dem Oberkörper, »das einzige, was ich hatte auf dieser Erde, mein Junge, mein Junge!«
Neues Schluchzen unterbrach ihm die Stimme; er griff krampfhaft in das Haar Gottlobs und starrte ins Leere.
»Fassung, Lamprecht! Sonst gehen Sie mit zugrunde«, sagte der Doktor.
Lamprecht rührte kein Glied. Seine Hand lag unbewegt in Gottlobs Haaren – man konnte glauben, der unglückliche Vater sei zu Stein erstarrt.
Das gab eine unheimliche Stille, während auf einmal der kleine Keller Karl, von seinem Vater angestoßen, unter lautem Weinen zu sprechen anfing. Er sagte: »Der Gottlob kann nichts dafür, der Kiesel Fritze ist schuld!«
Und nun erzählte er Wort für Wort die Szene auf dem Brauhausplatze und wie der Fritze ihn aufgereizt und verspottet hätte über sein Schwimmen mit dem Herrn Schatten und wie's zur Wette gekommen wäre, obwohl Gottlob nicht gewollt hätte, und wie zuletzt Gottlob auch über das Tiefe in der Lache weggekommen wäre, wenn das Tiefe nur einen Schritt kürzer gewesen wäre, »denn« – schloß er – »er hatte wohl schwimmen gelernt beim Herrn Schatten –«
Bei diesen letzten, vom Weinen fast erstickten Worten des Knaben schnellte Lamprecht in die Höhe, faßte den kleinen Karl an die Brust und schüttelte ihn, so daß Vater Keller seinen Knaben wegziehen mußte.
Man hatte gedacht, Lamprecht hätte gar nicht zugehört und nicht verstanden. Dem war nicht so; er hatte alles gehört und verstanden, und der Zorn, die Wut waren in ihm erwacht, den Schmerz beiseite drängend. »Der Schatten und die Wachmeisterbrut!« schrie er, als ihm der Knabe entrissen worden, und er erhob beide Arme mit geballten Fäusten nach der Straße hinaus. »Die beiden, die beiden sind schuld, und sie müssen – sie werden« – da verließ ihn die Stimme, er machte nur, die Hände öffnend, eine gräßliche Bewegung mit den Armen, als ob er jemanden zerreiße, und sein ganzer Körper geriet dabei in eine konvulsivische Bewegung. Er machte einen Schritt gegen die Haustür, alle wichen entsetzt vor ihm zurück, denn sein Gesicht war verzerrt, war dunkelrot, und die Lippen bewegten sich lautlos –
»Walter, herbei!« rief der Doktor. Und es war die höchste Zeit, denn der große, starke Mann, der Lamprecht, stürzte plötzlich nach hinten zurück wie eine tote Masse, und der ihn auffangende Walter war kaum imstande, ihn zu halten. Er war bewußtlos und röchelte.
»Aufs Bett! Aufs Bett!« rief der Doktor.
Mehrere Männer griffen zu, um Walter zu unterstützen. Frau Lamprechtin öffnete die Vorderstube, und da hinein trug man ihn.
»Essig, Branntwein, Spiritus! was Sie haben«, rief ihr der Doktor zu. Und die Mädchen liefen danach.
»Das ist das Herz, Herr Doktor,« sagte die Frau, »nicht wahr, das Herz? Es war nie sicher bei ihm. Nun werd' ich auch ihn noch verlieren. Allmächtiger Gott! Ja?«
»Na, na, so geschwind geht's wohl nicht. Das Herz hat ja zwei Klappen. Wir werden nach Kräften kurieren. Schaffen Sie nur rasch die scharfen Sachen herbei.«
Dies sagend, ging er in die Vorderstube.