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8.

Diese Heiratsbeschlüsse waren natürlich schon in der nächsten Viertelstunde im ganzen Lamprechtschen Hause bekannt und waren am nächsten Vormittag in der ganzen Stadt verbreitet.

Man billigte sie allgemein. Nur der Pfefferküchler Keller war nicht einverstanden und äußerte sich mißbilligend darüber gegen seine Frau. Er hatte doch dem Lamprecht deutlich genug gesagt, daß Dorel offenbar dem Schatten Wilhelm zugetan wäre, und dennoch wurde dieser aus irgend einem Widerwillen weggestoßen. Keller kannte eben doch den Lamprecht nicht hinlänglich.

Schimpfworte, wie arg sie seien, fliegen an uns vorüber, wenn sie den Punkt in uns nicht treffen, an welchem wir wirklich schwach sind. Treffen sie aber eine verborgene Schwäche in uns, dann haften sie in unserem Innern wie vergiftete Pfeile. Als Lamprecht im Rathause das Wort »Hanswurst« vom alten Schatten hören mußte, da schoß der Gedanke in ihm auf, daß er als schöner Mann wohl manchmal eitel sich gebärdet habe, ja daß er wohl von Jugend auf bis jetzt ein wenig prahlerisch gewesen. Das konnte man bemerkt haben, und man konnte das Wort Hanswurst hinter seinem Rücken ausgesprochen haben. Deshalb war er augenblicklich betroffen gewesen, weil der alte Schatten, ein trockener, nüchterner Kerl, gerade dies Wort gegen ihn ausgestoßen. Und deshalb haftete gerade dies Wort wie eine begründete Verhöhnung tief in seinem Innern. Feindlich war er dem alten Bauer schon immer gesinnt, nun lechzte sein Grimm nach einer Gelegenheit, diesem Schattenneste einen Schlag zu versetzen.

Wilhelm war auf seinem schwarzblauen Rosse über Land gewesen während dieses Montag Vormittags und wußte von alledem nichts. Er kam gegen zwölf heim zum Mittagstische bei Frau Stützer und sah mit Erstaunen, daß sie rote Bänder trug auf ihrer dunklen Haube. Sie zog die dunklen Farben vor wegen ihrer Gesichtsfarbe, welche ins Bräunliche spielte und bei einer weißen Haube herausfordernd erschien. Wenn sie aber rote Bänder trug, dann war ihr Herz streitlustig, ihre Gesinnung giftig. Wie konnte das heute anders sein! Zwei neue Hochzeiten bei den Lamprechts, und ihr Verhältnis zu Stiefmann rückte nicht von der Stelle, weil das Sterben seiner Frau kein Ende nahm.

Wilhelm erhielt also die Kunde von der beschlossenen Verheiratung der Lorel und Dorel Lamprecht in der schärfsten Form und – konnte nicht weiter essen.

Dagegen hatte sie nichts einzuwenden; es waren Kalbsfüße, die ließen sich morgen aufwärmen, brachten also eine Ersparnis mit sich. Sie zuckte bloß die Achseln.

Auf seinem Zimmer sank Wilhelm auf einen Sessel. Nun war alles vorbei, alles.

Eigentlich hatte er doch noch immer darauf gehofft, daß nur ein Irrtum obwaltete und daß dieser einmal seine Berichtigung finden würde. Dorels Betragen gegen ihn war ja gar nicht anders zu erklären. Nun kam auch jede Aufklärung zu spät, nun war jede Hoffnung dahin: Dorel gehörte für immer einem andern.

O Gott! war der junge Mann traurig, tief traurig! Eine Öde um ihn her in der feindlichen Stadt, und nun die Hoffnung im Herzen, der Trost im Herzen für immer zerbrochen und zerstört. Jetzt stand es in schrecklicher Klarheit vor ihm da: die ganze Welt ist öde für dich ohne dieses Mädchen, sie war dein alles. Die Gedanken vergingen ihm, er schloß die Augen.

Da wurde die Tür aufgerissen, und herein sprang Gottlob. Gottlob, der liebe Junge mit ihren Augen. War das nicht ein kleiner Trost? Trost? Ja. Er hatte den Jungen so lieb.

Er berichtet schnell, daß der Vater von dem abscheulichen Wachmeister erfahren gehabt: er, der Gottlob, verkehrte immer noch mit dem Herrn Baumeister. Und da hätte ihn der Vater beim Kragen genommen –

»Und jetzt kommst du doch?«

»Ja, jetzt kümmert sich kein Mensch um mich. Lorel und Dorel heiraten, und da gibt's im ganzen Hause zu tun; der Vater aber ist mit dem Greif über Land, weit fort, um Ochsen zu kaufen. Der Rabbiner Abraham hat laut geschrien: ›Wir armen Juden haben nichts zu essen‹ – und jetzt bin ich frei.«

»Freust du dich denn über die Hochzeiten?«

»O, die gehen mich nichts an.«

»Aber die Schwestern gehen aus dem Hause.«

»Richtig. Die Dorel auch. Das ist schade. Die ist mir die liebste.«

Wilhelm konnte sich nicht enthalten, Gottlobs Kopf an sich zu drücken, und erst nach einer Pause sagte er: »Kannst du ein Geheimnis bewahren? Das heißt: nicht ausplaudern?«

»Ein Geheimnis? Ach, das ist hübsch! Stumm wie ein Fisch – warum sind denn die Fische stumm?«

»Das wissen wir nicht. Also gelobe und höre!«

»Ich gelobe, ich gelobe und – ich höre.«

»Siehst du! Hier ist ein kleines Buch; darin stehen Gedichte.«

»Gedichte? Was ist das?«

»Worte, die man singen kann in Freud' und Leid.«

»Singen kann ich nicht.«

»Also sieh gar nicht hinein in das Buch; du verstehst es noch nicht; deine Schwester versteht's vielleicht auch noch nicht, aber mit der Zeit wird sie's verstehn. Dann wird es ihr wohltun, und ich möchte ihr gern heimlich ein Hochzeitsgeschenk zukommen lassen.«

»Der Dorel?«

»Ja. Aber sie darf nicht erfahren, daß es von mir herrührt. Dies ist das Geheimnis, welches du bewahren sollst.«

»Weiter nichts? Stumm, stumm, stumm!«

»Du darfst es ihr also nicht geben, sie muß es finden.«

»Aha! O ganz leicht. Die Mädel haben alle drei oben in der Hinterstube ihre Betten. Ich leg's in das Bett der Dorel. Da muß sie's heute abends finden, und sie wird denken: das Christkindel hat's gebracht.«

»Richtig!«

Es kam Wilhelm wie ein Genüge vor, daß sie seine Lieblingslieder lesen und besitzen, also immer wieder lesen und am Ende lieben werde. Das gäbe doch eine bleibende Gemeinschaft zwischen ihnen, und wenn er sie vor sich hinsänge – falls er wieder einmal singen könnte – dann würde er immer denken: Das kennt Dorel auch und ihre Seele ruht darauf.

Gottlob steckte das Büchlein in die Tasche und sagte: »Heut' ist's schön warm. Gehn wir nicht wieder einmal baden und schwimmen?« Ich schwimme schon hübsch, nicht wahr?«

»Nein, Gottlob, du schwimmst noch lange nicht. Du hast einen fleischigen Körper, der im Wasser schwer liegt und immer untersinken will. Solche Menschen müssen sehr geschickt im Schwimmen sein, sonst ertrinken sie leicht. Du bist mit den Beinen noch weit zurück.«

»Ich mach's ja aber schon wie ein Frosch. So haben Sie's ja verlangt.«

»Nein, du machst es noch nicht wie ein Frosch. Du streckst die Beine immer noch nur geradeaus nach hinten, und solange du das tust, sinkt der Körper immer nach unten. Wag dich ja nicht einmal ohne mich in tiefes Wasser, du würdest untergehen.«

»O nein! das glaub' ich nicht. Ich schwimme schon so gut wie Kiesel Fritze.«

»Nein. Der Fritz ist dünn und mager, dem wird's leichter. Aber die Sonne scheint wirklich warm, wir wollen hinaus in den Strom, ich brauch eine Erfrischung. Geh voraus und erwarte mich zwischen den Brücken, damit dich nicht gleich wieder die ganze Stadt neben mir sieht.«

»Ja, besonders der Klatscher, der Wachmeister, nicht. Ich spring' voraus.«

Man sollte denken, die Nähe des kleinen Bruders und dessen Ähnlichkeit mit Dorel hätte Wilhelms Trauer und Schmerz erhöhen müssen. Es war nicht so. Der Knabe brachte ihm gleichsam einen Übergang, der Verlust erschien neben ihm nicht so grell.

Wilhelm schritt ihm langsam nach, die Gedanken abwehrend. Auf der ersten Brücke über dem Strom – denn dieser teilte sich dort für die Mühlen – begegnete ihm Keller, der Pfefferküchler, welcher von seinem Gelsendorfer Garten heimkam. Herr Keller grüßte ihn freundlich und blieb stehen, nach den Bauten Wilhelms fragend.

Wilhelm war angenehm überrascht von einer Freundlichkeit, welche ihm sonst nirgends widerfuhr. Herr Keller aber war vielleicht der einzige, welcher die allgemeine Feindseligkeit nicht teilte. Und jetzt hatte er eine Art Gewissensnot. Er hatte gestern den Lamprecht aufmerksam gemacht auf das Verhältnis Wilhelms zu Dorel, eigentlich um Wilhelm zu nützen, und daraus war plötzlich die Entscheidung für den Referendarius und gegen Wilhelm hervorgegangen. Das beunruhigte den braven Pfefferküchler, und er hätte jetzt gern dem Wilhelm eine Freundlichkeit erwiesen. Er fragte ihn also – er kannte die Bitternis der Frau Stützer – ob er denn wirklich mit dem Mittagstische bei dieser Frau zufrieden wäre.

»Ach nein,« erwiderte Wilhelm, »die Frau tut mir immer weh, aber ich will nicht gern in den Gasthof, und man ist auch dort eigentlich nicht eingerichtet auf einen täglichen Mittagsgast.«

»So nehmen Sie den Tisch bei mir! Meine Frau kocht gerne. Bezahlung wie bei der Stützer, topp?«

»Topp.«

Endlich einmal ein Wohlwollen. Wenn die Hauptsache verloren ist, sagte sein Aberglaube, da gelingen zur Entschädigung die Nebensachen.

Mit der Kündigung seines Mittagstisches war voraussichtlich auch die Wohnung bei Frau Stützer bedroht, denn die Frau war rachsüchtig. Er ging also gleich am nächsten Tage daran, sich zwei Zimmer im eigenen Hause einzurichten, indem er heizen und austrocknen ließ. Zum Staunen der Bürger, welche nie so was gesehen, war das Haus schon unter Dach gebracht, und ihm war nichts so willkommen, als dringende Beschäftigung. Sie hilft ja bis auf einen gewissen Grad über traurige Gedanken hinweg. Schwer ging es immerhin während der ersten Tage, wie unermüdlich er auch auf den Dörfern umherritt und früh wie abends in seinem Hause schaffte, recht schwer. Aber er hatte von Jugend auf ein Handwerk betrieben, er war gewohnt, körperlich zuzugreifen, er hatte ein sich immer mehr verzweigendes Geschäft zu leiten, er war ein praktischer Mann, der sich stracks für das augenblickliche Erfordernis zu sammeln wußte und der sich herb eingestand, das Unvermeidliche müsse ertragen werden, ob auch das Herz schmerzlich darüber blute.

Und doch! »Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf,« sagt der Dichter, und nie ist etwas Richtigeres gesagt worden. Die Hoffnung ist das sicherste Himmelsgeschenk, es versagt uns seinen Beistand nie und nirgends. Der Ärmste, der gänzlich Verlorene hofft, er hofft, obwohl nicht die geringste Wahrscheinlichkeit für ihn vorhanden, er hofft, und die Hoffnung tröstet den Trostlosen. Auch im tiefsten Innern Wilhelms entfaltete dieser Schmetterling Hoffnung seine kleinen Flügel und flüsterte ganz leise: Meine Flügel werden wachsen. Dazu trug wieder der Pfefferküchler Keller bei, indem er seinem Mittagsgaste Wesen und Charakter des Referendarius Julius schilderte. Dieser elegante junge Herr passe gar nicht für ein Bürgermädchen, die fremde Schöne draußen in der »Krone«, die sei geeigneter für ihn.

Während Wilhelm in sein Haus eingezogen und zum Mittagstisch bei Keller eingekehrt war, hatte sich Gottlob gar nicht sehen lassen, hatte also auch keine Nachricht gebracht über das Büchlein für Dorel. Der Vater hatte seine Ochsenreise verschoben gehabt, Gottlob hatte nicht fortgekonnt. Jetzt kam er endlich und berichtete freudestrahlend, Dorel habe das Büchlein. Sie habe aufgeschrien, als sie es im Bette gefunden, und Herrn Julius einen unanständigen Menschen genannt, daß er das Buch in ihr Bett gelegt.

»Julius?«

»Ja. Der war nachmittags oben gewesen in der Mädchenstube. Aber sie hat's doch gleich aufgemacht, hatte eine Weile drin gelesen, hat mit dem Kopfe geschüttelt und hat's dann in die Schublade ihres Tischchens gelegt.«

Das war nun freilich wieder niederschlagend, sein Geschenk dem glücklichen Nebenbuhler zugeschrieben zu sehen. Aber Gottlob setzte hinzu, die Dorel sei übrigens jetzt unausstehlich und rede kein freundlich Wort, sie sei immerfort mürrisch.

»Mürrisch?«

»Ja, immerfort.«

Da regte sich sogleich der kleine Schmetterlingsflügel. Er wuchs unter den Reden Kellers, der immer sicherer behauptete, diese Heirat mit Julius könnte nicht zustandekommen, die Mutter Lamprecht sei eine zu gescheite Frau, die werde schon ein Einsehen finden.

Dazu kam der günstige Eindruck, welchen das Kellersche Haus auf ihn machte. Es war sauber, anmutig, friedlich und schien eine sichere Grundlage zu haben in den beiden Ehegatten Keller. Er war ein kleiner gesunder Mann mit roten Wangen und so gewiß feinen Augen von dunkler Farbe. Wenn er lächelte, war er sogar hübsch und zeigte weiße, gesunde Zähne, welche leider in Schlesien nicht häufig sind. Seine ebenfalls kleine Frau glich ihm auch übrigens ungemein. Rote Wangen, rundliche Formen, zärtliche Augen machten es begreiflich, daß er seine vierzigjährige Ehehälfte gar oft vor fremden Leuten küßte. Solch eheliches Küssen war in der Stadt durchaus ungewöhnlich, ebenso ungewöhnlich war's, daß ihr vierzehnjähriger Sohn Karl nicht nur von der Mutter, sondern auch vom Vater reichlich geküßt wurde. Frau Stützer fand das einfach unanständig, und eine schlechte Erziehung wurde es vielfältig genannt.

Befriedigung zu sehen, das befriedigt auch den Unzufriedenen. Wilhelm atmete auf in diesem wohltuenden Hause, und seine kleine Hoffnung wuchs täglich. Herr und Frau Keller sprachen zwar nie von seiner Neigung zu Dorel, aber er bemerkte immer, daß sie davon wußten und daß sie dafür hofften. Das war eine stille Erquickung für ihn.

Eines Tages nach dem Mittagsessen trat er aus dem Kellerschen Hause und erfuhr eine neue kleine Stärkung seiner Schmetterlingsflügel. Amélie Stammbach kam die Gasse daher, in leichter Sommertracht völlig leuchtend, sie sah in der Tat wie das fröhliche Leben selber aus, und sie lachte ihm schon von weitem entgegen. Sie hatte einen Besuch gemacht und ging heim. Keller wohnte nahe dem Südtor, und da hinaus ging ihr Weg zur »Krone«. Sie speiste vornehm erst um ein Uhr.

»Sieh da!« rief sie, ihm wiederum die Hand entgegenstreckend, »endlich trifft man einmal den Herrn Baumeister, welcher nur stolz vorüberreitet an der ›Krone‹ und gar nicht hinaufblickt nach dem ersten Stocke, wo eine junge Dame gegrüßt sein möchte. Stört Sie denn wirklich der Courmacher dieser Dame, der hübsche Referendarius? Nicht doch! Dem hat man ja eine Braut diktiert. Dem! Ist das nicht lächerlich? Glauben Sie, daß der die Dorothea des Fleischhauerältesten wirklich heiraten werde? Ich glaub's nicht. Den kenne ich, der heiratet noch lange nicht. Besonders viel Geld kriegt das Mädchen auch nicht, was also? Er ist nicht dumm, der Leichtfuß, er sucht Unterhaltung, jetzt in der Stadt, jetzt in der Vorstadt. Er kommt noch einen Tag um den andern zu mir, aber der braucht Sie, lieber Herr Schatten, von nichts abzuhalten. Mit einem Worte noch einmal, der ist nichts als ein artiger Courmacher ohne Konsequenzen, wie mein Papa von ihm sagt. Glauben Sie mir das getrost und lassen Sie sich bald sehen in der ›Krone‹! Jetzt muß ich fort, Papa will zu Tisch. Also auf bald! Bald!«

Wilhelms kleiner Schmetterlingsflügel wuchs sichtlich. Das Mädchen mußte ja seinen Nebenbuhler kennen.

Er war viel ruhiger, als er jetzt nach Hause kam und in das große Vorderzimmer trat, welches er für sich eingerichtet hatte. Zum ersten Male blickte er wieder in den wüsten Nebenraum, den er früher bestimmt hatte für – ach nein, so groß war die Hoffnung noch nicht, er wendete sich doch noch seufzend ab von dem wüsten Nebenraume, welcher das schönste Zimmer des Hauses hätte werden sollen.

Da flog Gottlob noch sprunghafter als gewöhnlich ins Zimmer und schüttelte sich mit »Ah, ah, ah!«

»Was hast du?«

Er erzählte mit fliegendem Atem. Gedankenlos war er in Wilhelms frühere Wohnung bei Frau Stützer gelaufen, als ob der Herr Baumeister noch da wohnte. Da hatte ihn Frau Stützer erwischt und hatte ihn »nausgeschmissen« – dies war der landesübliche unangenehme Ausdruck – ihm nachrufend: »Der Stadtverräter ist Gott sei Dank ausquartiert worden.«

»Was heißt das?« schloß Gottlob Atem holend.

»Dummes Zeug, das du nicht verstehst. Wie geht's bei dir zu Hause?«

»O, da ist's auch losgegangen! Die Mutter schickte mich gestern abends hinauf in die Mädchenstube, ich sollte was holen. Da sitzt die Dorel bei einem Lichtstumpfel an ihrem Tischel, abends um neun, und liest in ihrem kleinen Buche –«

»Ah!«

»So wie sie mich sieht, springt sie auf mich zu, packt mich vorne am Kopfe – sie ist stark – und sagt: ›Der Julius hat das Buch nicht ins Bett gelegt, ich habe ihn gefragt. Du bist ein Lügenmaul! Du hast's getan, du bist ein Zwischenträger, du!‹ – Warum nicht gar! schrei ich und reiß' mich los. Den Knopf hat sie in der Hand behalten.«

Wilhelm schwoll das Herz. Sie wußte es also jetzt, von wem das Büchlein gekommen, und doch las sie darin!

»Warum sagen Sie 's ihr denn nicht, daß Sie das Buch geschickt haben? Weil der Vater böse auf Sie ist? So heißt's jetzt bei uns. Ach, reden Sie nur mit ihm! Er ist gut. Wissen Sie was? Kommen Sie morgen! Da ist großer Schlachttag, da schlägt der Vater einen Ochsen, und da ist er immer guter Laune und freut sich, wenn Leute zusehen, wie er das schwere Beil hoch in die Höhe hebt und den Ochsen zwischen die Hörner schlägt, daß er gleich mausetot hinfällt.«

»Das ist nicht die sicherste Methode, den Ochsen zu töten.«

»Ach gar! Das verstehn wir doch am besten, wir Fleischer.«

»Nein. Ich hatte in Berlin einen Freund, den Doktor Regel, der studierte Naturgeschichte und wußte von allen Tieren, wie und wo sie am sichersten zu töten wären. Der hat mich einmal mitgenommen ins Schlachthaus und da hat er zum Ärger der Berliner Fleischer einen Ochsen blitzschnell getötet mit einem bloßen Hammer.«

»O, einen Hammer haben wir auch! Aber mit dem schlagen wir nur an den Haken oben an der Decke, ob er auch fest ist. Durch den Haken wird der Strick gezogen, der unten den Ochsen festhält. Aber mit dem bloßen Hammer bringt man keinen Ochsen um.«

»Doch, Gottlob. Sieh! Oben hinter den Hörnern des Tieres ist eine kleine Spalte verborgen zwischen Gehirn und Rückgrat. Wenn man die trifft, so stirbt das Tier augenblicklich. Mit dem breiten Beile aber trifft man mitunter diese Spalte nur oberflächlich, und das Tier wird nur betäubt, wird gewöhnlich wütend. Mit dem Hammer jedoch kann man die Spalte genau und wirksam treffen.«

»Glaub' ich nicht. Mit dem Hammer! Das wär' ein schöner Fleischer! Kommen Sie nur morgen zusehen! Heut' abend kommt der Vater mit den gekauften Ochsen heim, und der stärkste kommt morgen dran. Wenn er daliegt, reden Sie mit dem Vater, da lacht er. Ja? Sonst kann ich nicht wiederkommen, denn jetzt verrät mich vielleicht auch die Dorel. Kommen Sie nur!«

Wilhelm wußte nur zu gut, daß dies nicht der richtige Weg wäre. Dorel mußte er sprechen, um ihre Anklage kennen zu lernen und zu widerlegen. Das war die Aufgabe. Aber wie sie lösen?

Jedenfalls wollte er morgen – er mußte nach Wittendorf – am Hause vorüberreiten. Zu dem Ochsenschlage drängte sich alles hinzu, das wollten alle sehen. Vielleicht sah er da endlich auch wieder einmal Dorel im Vorbeireiten.

Der Morgen kam mit vollem Sonnenscheine, und Wilhelm führte sein Vorhaben aus. Statt geradeaus nach Süden, ritt er links um den Ring der Fremdengasse zu. So kam er vorbei an Lamprechts Hause.

Als er schon ganz in der Nähe war, wurde er angesprochen und angehalten. Es war der Referendarius Julius, welcher mit Akten unter dem Arme wohl nach dem Gerichtshause an dieser Seite des Ringes ging. Er rief ihm zu: »Nehmen Sie Ihr Pferd in acht, es kann scheuen. Dort im Eckhause wird Blut vergossen, es gibt einen Totschlag. Das ist doch ein widerwärtig Gewerbe, dies Fleischerhandwerk! Finden Sie nicht?«

Wilhelm antwortete nicht. Er sah oben im ersten Stocke des Lamprechtschen Hauses bei offenem Fenster Dorel stehen. Sie blickte herab auf die beiden jungen Männer. Sie mochte vergleichen. Sollte der Reiter nicht im Vorteile sein?

Aber plötzlich verschwand sie. Man hörte Lärm von unten im Hausflur.

»Da geschieht was!« sagte Wilhelm und ritt hinzu.

Ja, da geschah was. Alles war bereit gewesen zur Tötung des Ochsen, welcher von dem Ringe an der Decke herab mit einem Stricke gefesselt war. Der Ring oben hatte sich fest erwiesen. Traugott, der Fleischergesell, hatte mit dem Hammer probiert und hatte befriedigt den Hammer auf den schweren Hackklotz nahe an der Tür gelegt. Meister Lamprecht hatte schon ausgeholt mit dem Beile, der kleine Rabbiner, welcher zur Koscherfrage sich eingestellt, war furchtsam zurückgefahren unter die zuschauenden Mädchen und Dienstleute – da hatte Meister Lamprecht unerwartet innegehalten und hatte dem Traugott zugeschrien: »Dummkopf, da hat Er mir ja ein falsches Beil gegeben!«, hatte dies, welches er in der Hand hielt, auf den Hackklotz geworfen und war fortgegangen, um sein richtiges Beil zu holen. Auf solch einen Umstand hatte Traugott schon lange gewartet, und er hatte ihn mit Verwechslung des Beils herbeigeführt. Der Meister ließ ihn nie zu bei den wichtigsten Taten eines Fleischers. Jetzt und rasch – Dummkopf hatte er ihn noch dazu vor allen Leuten gescholten – jetzt wollte er zeigen, daß er auch das Wichtigste vermöchte, einen Ochsen zu erschlagen. Er hatte das weggelegte Beil genommen und hatte übereilig aus Leibeskräften den Ochsen zwischen die Hörner geschlagen. Aber es war ergangen, wie Wilhelm gestern zu Gottlob gesagt, der breite Schlag war oberflächlich gefallen, der tödliche Punkt war nur gestreift worden, der Ochse fiel nicht, sondern stieß ein furchtbares Gebrüll aus und drängte gegen den ihn fesselnden Strick, um sich zu befreien.

Ein paar Sekunden darauf war Wilhelm vor dem Hause, übersah die ganze Lage, sah die Gefahr, vor welcher die Leute schreiend nach hinten flüchteten, sah aber auch den Hammer auf dem Hackklotze und sprang vom Pferde, welches ruhig stehen blieb, ergriff den Hammer und sprang zum Ochsen, welcher sich hoch aufbäumte und gräßlich brüllte. Die Zuschauer im Hintergrunde des Hausflurs stießen ein Jammergeschrei aus darüber, daß sich ein unkundiger Mensch da in Lebensgefahr stürzte. Wilhelm aber war mit einem Schwunge dergestalt an dem bäumenden Ochsen in die Höhe geschnellt, daß er mit dem linken Arme das Horn des Ochsen erreichte und mit seinem Körpergewichte das Tier niederzog.

Selbst feststehend, schlug er nun mit dem rechten Arme den Hammer fest auf den richtigen Fleck, und augenblicklich stürzte der Ochse zusammen. Wilhelm hatte die größte Eile nötig, beiseite zu springen. Der Strick war zerrissen, der Ochse jedoch zuckte nicht mehr, er war tot.

In diesem Augenblicke war Lamprecht mit seinem Beile aus dem Hintergrunde gekommen, er hatte den eigentlichen Totschlag noch gesehen, und da er von Traugotts Fehlschlag nichts wußte – Traugott stand wie leblos da – so hielt er Wilhelm für einen unberufenen Eindringling und fuhr auf ihn los mit den Worten: »Was untersteht sich der Herr? Er mischt sich in alles. Man wird den Wachmeister rufen gegen ihn zum Schutze für redliche Gewerbsleute.«

»Nein, nein!« rief der Rabbiner, »nein!«

»Der Vater hat unrecht«, rief Gottlob, und zuletzt rief Dorel, welche von der Treppe aus zugesehen, mit klarer Stimme:

»Sie tun ihm unrecht, Vater!«

»Haltet 's Maul! Und Sie, Herr, gehen Ihrer Wege!« schrie Lamprecht.

»Es wäre Ihnen wohl lieber,« entgegnete Wilhelm in großer Aufregung, »wenn das nur verwundete Tier ausgebrochen und in seiner Wildheit Menschen niedergestoßen hätte! Das halt' ich nicht für menschlich.«

Damit warf er den Hammer wieder auf den Hackklotz, ging hinaus, bestieg sein ruhig harrendes Pferd und ritt weiter.

Hatte er Dorel nicht gehört? O doch! Aber wie hinter einem Vorhange. Seine Erregung von der raschen Tat war doch zu groß gewesen. Jetzt erst, als er nach der Vorstadt bis zum Schießhause kam, meinte er, daß sie für ihn gesprochen habe. Aber der Vater Lamprecht stand ihm noch im Vordergrunde und mit ihm die traurige Klarheit, daß sein Verhältnis zu diesem Vater Dorels nur noch feindlicher geworden.

Zerstreut blickte er im Vorüberreiten auf die Zimmerleute, welche zwischen den jungen Birken, dem Schießhause gegenüber, große Buden aufschlugen für das bevorstehende Schützenfest.

Endlich, als er am Kirchlein vorüberkam, fielen ihm Dorels Worte ein:

»Sie tun ihm unrecht, Vater!«

Diese Worte sprach er mehrmals vor sich hin und setzte dann seinen Schimmel in rasche Bewegung.


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