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15.

Der kleine Doktor Knopf war schon seit dreißig Jahren Arzt in der Stadt, und zwar, wie schon gesagt, der einzige. Die Landpraxis kam hinzu, und so hatte er reichliche Erfahrungen gemacht und sich kaltes Blut erworben. Er pflegte zu sagen: Unser Ort ist sehr gesund und ernährt kaum einen Doktor. Die Einwohner haben auch kein Geld und keine Gelegenheit zu Ausschweifungen. Gewürze und Wein spielen nicht mit, um den Körper aufzuregen, und manchmal gibt es längere Zeit nur die herkömmlichen Kinderkrankheiten. Solch ein Fall wie der des Meisters Lamprecht ist eine Seltenheit. Herzkrankheiten im Alter kommen wohl vor, aber hier ist's eine absonderliche Art, hier haben wir einen starken Mann noch in den besten Jahren, und seine Herzkrankheit ist hervorgebracht durch Aufregungen, wie sie selten vorkommen, und zwar durch ein Gemisch von Aufregungen, durch Schmerz und Zorn – hier kann der Arzt nichts mit Gewißheit vorhersagen. Gemütsruhe wäre für ihn die sicherste Medizin. Aber woher die nehmen? Der Mann ist cholerischen Temperamentes. Seine Wut gegen den jungen Schatten und gegen die Kiesels ist eine Ausgeburt. Kann man ihm diese ausreden, gut, kann man's nicht, dann kann ich für nichts stehen.

So sprach Dr. Knopf zu jedermann, denn die ganze Stadt fragte. Dasselbe, wenn auch etwas milder, sagte er zur Frau Lamprechtin, die er als Nachbar genau kannte und sehr schätzte, und von der er auch die richtige Krankenpflege erhoffen durfte. »Sie besteht«, sagte er dreimal, »in Ruhe, Ruhe, Ruhe.«

Lamprecht war lange besinnungslos geblieben, und als er endlich zu sich gekommen, hatte sich leider eine peinliche Atemnot gezeigt. Den zweiten Tag indessen war es schon besser gegangen, nun kam aber mit dem dritten Tage das Begräbnis Gottlobs; wird da die Ruhe einzuhalten sein? Schwerlich, denn Lamprecht war geistig gar nicht gestört, er wußte alles, was vorgegangen. Er weinte manchmal bitterlich, und die Frau mußte ihm dann vorhalten, daß der Herr Doktor dies Weinen gar nicht gern sähe. Er gab sich auch Mühe, es zu unterdrücken, denn bei allem Herzeleid wollte er doch wieder gesund werden.

»Schlafen,« sagte sie, »schlafen ist das beste«, und er schlief auch wirklich sehr viel.

Nun war der dritte Tag da. Gottlob lag oben in der Vorderstube schon in einem gelb angestrichenen Sarge, denn erst zehn Jahre später kam durch eine eingewanderte Offiziersfrau der erste schwarze Sarg in der Stadt zum Vorschein, noch dazu lackiert. Greif lag regungslos neben dem Sarge und sah nur auf, wenn man Laubgewinde und wenn Dorel einige Blumen brachte. Es geschah alles still im Hause, und man hoffte, Lamprecht werde ruhig im Bette bleiben.

Da irrte man aber sehr. Er hatte alles bemerkt, was vorging, er wußte, daß es die Bahre wäre, welche man, obwohl leise, im Hausflur niedergesetzt, und er schlief schon lange nicht mehr, als seine Frau nachsehen kam, wie es mit ihm stünde und ob er nun endlich eine Tasse Kaffee genießen könnte zum Frühstück. Seit er umgefallen im Hausflur, habe er ja nicht einen »Mundbissen« zu sich genommen.

»Ja,« sagte er, »es ist mir leichter, und ich möchte was genießen.«

Die Worte kamen noch einzeln, aber der Fortschritt war doch außerordentlich. Leider konnte sich die Frau nicht vollständig darüber freuen. Jetzt noch ein paar Stunden lang wäre es ihr lieber gewesen, wenn er geschlafen hätte. Der Doktor hatte gesagt, ihres Mannes Leben hinge davon ab, daß er vom Begräbnisse nichts erführe. Eine neue Szene wie beim ersten Anblicke der Leiche könnte einen tödlichen Herzschlag zur Folge haben.

Er trank den Kaffee und aß sogar die Semmel, weiß genannt, aber recht ins Graue hinüberspielend, ja er konnte sich dazu der eigenen Hände bedienen. Dann versuchte er tief Atem zu holen, und dies, die Hauptsache, gelang beinahe.

»Nun weiter schlafen,« sagte die Frau, »abends kannst du vielleicht, vom Schlafe erquickt, aufstehen.«

»Gott geb's! Schick mir jetzt einmal den Walter herein.«

»Den Walter?«

»Ja. Das Handwerk – darf nicht stille stehn – er muß – ein paar Tage – für mich eintreten.«

Die Frau sah ihn forschend an, sie traute nicht. Aber sie mußte doch gehen, mußte ihm Walter schicken.

Es war zehn Uhr vormittags. Um elf Uhr sollte die Leiche gehoben und fortgetragen werden.

Das Wetter stimmte zu der Betrübnis. Der Sommer war plötzlich verschwunden, es wehte ein kalter Wind über den Ring in die Fremdengasse hinein.

Dieser Wind schlug auch garstig an die schlecht verwahrten Fenster der kleinen Wohnung in der Pfortengasse, wo der hart betroffene Wachmeister hauste. Auch er trank Kaffee, freilich schlechteren, und aß dazu Schwarzbrot, äußerst dürftig mit Butter bestrichen. Er lag im Bette.

Vorgestern, nachdem er das Pferd in den Stall gebracht und dem Handlanger übergeben, hatte er, heimkehrend, seiner Jette erklärt: »Mir ist nicht gut, ich muß zu Bette.«

Wie ein Schauspieler hielt er in übler Lage das Bett für die sicherste Zuflucht. Er liebte es überhaupt, er meinte etwas von einem Sultan zu empfinden, wenn er im Bette lag.

Jette wurde ausgeschickt, um Nachrichten zu sammeln über die Vorgänge im Lamprechtschen Hause, und als Fritze in die Stube stürmte, ermannte sich Kiesel, auch wie ein Sultan, zu einem peinlichen Verhöre des heillosen Jünglings über die Vorfälle in der Mordlache. Leider war dies Verhör für den Vater peinlicher als für den Sohn. Dieser Fritze besaß eine zweifelhafte Eigenschaft des Geistes, auf alles einen Widerspruch zu wissen, welcher seinem Vater für Geist galt, im Grunde aber nur Frechheit war. Der gewandte Junge achtete nichts als seine Einfälle. So erzählte er denn auch die Vorgänge bis zum Abschlusse in der Mordlache wie etwas ganz Harmloses und schloß damit: »Warum hat der Fleischerssohn so dick getan, nun hat er's.«

»Er hat's und du wirst es kriegen«, sagte der Vater, welcher bei alledem fand, daß sein Sohn ein denkender Kopf wäre, ein überlegener junger Mensch.

»Kriegen? Was soll ich kriegen?«

»Einsperren werden sie dich, weil du schuld bist am Tode eines Menschen,«

»Da müßt' ich auch dabei sein!«

»Das wirst du auch. Und deinen Vater wirst du ruiniert haben. Den wird man absetzen, weil er seinen Kronprinzen schlecht erzogen hat, was für einen Sicherheitsbeamten höherer Ordnung, wie ich bin, die schlimmste Anklage ist. Jetzt müssen wir uns ein paar Tage stellen, als ob wir nicht auf der Welt wären. Ich bleibe im Bette und gelte für krank – am Ende bin ich's auch – und du kochst Kleister und buchbinderst endlich einmal wieder.«

Fritze hatte dazu verächtlich die Achseln gezuckt, Jette hatte schreckliche Nachrichten gebracht, die zwei Tage waren jämmerlich vergangen, und so war heute der Begräbnistag angebrochen, vor welchem Kiesel auch als Sultan besonders zitterte. Er hatte dem Fritze mit seinem Säbel gedroht, welcher am Bette hing, wenn er heute nicht wie eine stille Maus zu Hause bliebe. Aber Fritze war jetzt schon fort, vor zehn Uhr, und Kiesel blickte wehmütig auf seine Jette, das einzige Wesen, welches ihn unbedingt anerkannte.

Da schlug es zehn von den beiden Türmen rechts und links vom Rathause, und der Wind jagte den Schall so arg, daß er wie zerrissen klang. Trotz des Windes standen schon Leute vor den Haustüren und fragten einander. Die ganze Stadt war in Spannung, ob die nächste Stunde gefahrlos an Meister Lamprecht vorübergehen würde.

Mit Teilnahme aber sahen auch die Leute vor den Türen auf den Baumeister Schatten, welcher gesenkten Hauptes und langsamen Schrittes nach dem Fremdentore hin in die Vorstadt ging. Er war gar nicht mehr verdächtigt und angefeindet wie früher. Besonders seit dem Schützenfeste, welches er verherrlichen geholfen, war er gern gesehen, und der Zorn Lamprechts gegen ihn wurde eigentlich nicht gebilligt. Dieser Zorn nämlich war kein Geheimnis geblieben. Der Pfefferküchler Keller hatte neben seinem Knaben gestanden, als Lamprecht jene furchtbaren Bewegungen mit den Armen gemacht, und er hatte Wilhelm und jedermann erzählt, was das bedeutet hätte. Auf die Namen Schatten und Kiesel war dieser Ausbruch Lamprechts gefolgt. Zerreißen hätte er sie wollen, diese Schatten und Kiesel.

Tief traurig kam Wilhelm jetzt nach zehn Uhr zu seinem Spittelbau in der Vorstadt. Seine Maurer sahen ihn betroffen an, daß er gegen schlechtes Mauerwerk eines schlechten Gesellen nichts einwendete. Er kam hierher, um dem Begräbnisse wenigstens nahe zu sein. Der Bau grenzte hinten an den evangelischen Kirchhof. Hier wollte er, wenn auch in einiger Entfernung, seinen kleinen Gottlob begraben sehen. Keller hatte ihm dringend abgeraten, sich dem Leichengefolge anzuschließen. Wenn auch Lamprecht selbst nicht mitgehen könne, so wisse doch die Familie, daß er Wilhelm feindseligst gesinnt sei und das Verunglücken seines Sohnes mit dem Schwimmunterrichte in schreckliche Verbindung bringe – und deshalb würde es auch die Familie unschicklich finden, wenn Wilhelm hinter dem Sarge herginge.

So setzte er sich denn hinter dem Spittelbau auf eine Balkenschicht und sah zu, wie jetzt schon Leute zu dem frischen Grabe strömten. Was fehlte jetzt noch zu seinem Leide? fragte er sich. Nichts mehr – mußte er antworten. Den lieben, lieben Jungen hast du verloren und deine Dorel dazu. Denn nun ist ja dieser grimme Vater nie zu gewinnen.

Trat ihm jedoch nicht die gefährliche Lage dieses Vaters vor Augen? Wenn da der Tod einträte, so wäre ja doch das Hindernis beseitigt. Ach, der beste Mensch ist nicht davor sicher, daß ihn frevelhafte Gedanken überfallen. Auch Wilhelm nahten sie sich. Aber er war ein grundredlicher Mensch, er jagte sie schamrot von sich hinweg, er wollte durchaus nichts anderes denken, als daß er seinen kleinen Freund jählings verloren, welcher seiner Schwester so ähnlich gewesen, er wollte sich in Entsagung hüllen über und über für ein freudloses, leeres Leben.

Vater Lamprecht selbst aber in seinem Krankenbette wollte nichts von Entsagung wissen. Er wollte ungeduldig schreien, als es zehn schlug und Walter noch nicht bei ihm war. Zum Schreien fehlte ihm jedoch die Kraft des Atems, und Walter kam denn auch.

Lamprecht schob seine Beine aus dem Bette und verlangte seine Strümpfe und daß Walter behilflich sei, dieselben anzuziehen. Desgleichen Schuhe und Hosen.

»Um Gottes willen, Meister, Sie wollen doch nicht –?«

»Natürlich will ich –«

»Der Doktor hat das Aufstehen verboten.«

»Ich will nicht bloß aufstehen. Geben Sie her! – Walter, Sie wollen – meine Tochter Lorel – zur Frau haben. Die kriegen Sie nur, wenn – Sie jetzt alles tun, was – ich verlange. Das heißt – mich anziehen helfen – und mich führen, wenn – der Sarg fortgetragen wird.«

»Sie wollen doch nicht?«

»Ja, ich will. Denkt Ihr, ich werde – meinen Jungen – einscharren lassen – ohne daß ich – dabei bin? Und wenn's mein Leben kostet – 's ist ohnehin nichts mehr wert, seit mir der Junge – und Ihr hört ja, 's ist nicht so arg mit mir – ich hab' wieder leidlich Atem, ich – red' ja! Also die Strümpfe her! – Oder 'naus und keine Lorel!«

Das war ein Trumpf, welchem Walter nicht widerstand. Es kam ihm aber auch wirklich vor, als ob der Meister sich erholt hätte. Bis auf einiges Schlottern ging das Ankleiden langsam von statten. Langsam. Besonders als Lamprecht sich aufrichten wollte. Da schwankte er sehr und Walter mußte ihn festhalten. Endlich stand er.

»Wenn man recht schaffen will,« stöhnte er, »geht alles. Nun meinen dicken Eichenknüppel dort – in der Ecke, dort – paßt doch auf! So. Nun festhalten beim Führen, nun wird – probiert.«

Das Sprechen wurde leichter, vielleicht wegen der aufrechten Stellung, und nun ging er, auf Walter sich stützend, im Zimmer hin und her. Es ging. Plötzlich stand er still und flüsterte: »Ihn noch einmal sehen.«

»Er liegt oben, die steile Treppe hinauf –«

»Nein, das – kann ich nicht. Und 's ist der dritte Tag; da hat – der Tod – das Gesicht schon verzerrt. – Drei Viertel!«

Es schlug drei Viertel auf elf. Das schwierige Ankleiden und Herumführen hatte lange gedauert.

»Drei Viertel! Die Glocken fangen an. – Jetzt holen sie ihn – herunter und – setzen ihn auf die Bahre. Walter, die Tür aufmachen, erst wenn sie – die Bahre heben. – Wir merken's. – Meine Frau und die Mädel – fangen dann an – laut zu schluchzen, wenn er aufgehoben wird.«

So geschah's. Als sie das Schluchzen hörten, führte ihn Walter an die Tür und öffnete diese.

Ein Schrei der Seinigen empfing ihn. Sie traten ihm alle entgegen, um ihn abzuhalten, und die Frau rief: »August, was hat der Doktor gesagt? Du setzest dein Leben aufs Spiel?«

Er erhob nun den dicken Stock und machte in der Luft eine abwehrende Bewegung. Dabei schwankte er; Walter brachte ihn ins Gleichgewicht.

Die Träger des Sarges hatten von alledem nichts bemerkt und waren zum Hause hinausgeschritten. Die Familie mußte folgen. Nur Walter konnte ihnen noch nachrufen: »Langsam! Langsam!« damit er seinen Herrn bis dicht hinter den Sarg bringen konnte.

»Seht Ihr's,« flüsterte Lamprecht, »auch der Greif!«

Der große Hund war nicht von der Leiche gewichen und hatte Tag und Nacht oben neben ihr gelegen, auch die Nahrung nicht annehmend, welche ihm Dorel gebracht. Jetzt ging er niederhängenden Kopfes und Schweifes neben Lamprecht hinter dem Sarge.

Mutter und Töchter, über und über schwarz angetan, gingen dicht hinter dem Vater. Die Sorge um ihn nahm sie augenblicklich ganz in Anspruch; sie fürchteten, er könnte fallen. Ach, wie waren sie abgemattet vom Weinen und vom Arbeiten. Sie hatten sich die schwarzen Kleider selbst nähen müssen Tag und Nacht. Lorel hatte sie zugeschnitten; sie verstand das am besten. Sie allein auch hatte den rauhen Stoff beim Elias gekauft, der die Tochter Abrahams heiraten sollte. Nur die Mutter hatte Tag und Nacht untätig bei ihnen gesessen, die Hände im Schoße, vor sich hinblickend und kein Wort sprechend. Wenn jedoch Anordnungen zu treffen waren für Haus, Küche und Begräbnis, da hatte sie klar bestellt, was und wie es zu machen wäre.

Der Leichenzug ging langsam durch die Fremdengasse zum Tore hin. Der Drechsler Schneericke stand unterm Tore und drückte trübselig blickend sein Beileid aus. Walter rief öfters den Trägern zu: »Langsam! Langsam!« wenn Lamprecht stockte und ihm schwer auf dem Arme lag, aber es ging doch immer weiter, links und rechts unter dem Geleite schweigsamer Menschen. Der Wind jagte Staub über sie hin, und unter dem Torbogen klang das Glockengeläute dumpf wie heranziehendes Unglück.

Auf dem Kirchhofe warteten der Pastor Primarius, der Küster, der Kantor mit dem Schülerchor und empfingen die Leiche mit einem melancholischen Kirchenliede.

Unter den Arkaden wurde der Sarg vor dem Primarius niedergesetzt. Diese Arkaden bestanden aus einer nicht eben langen Mauer mit einem überhängenden, auf einige gemauerte Pfeiler sich stützenden Dache gegen Regen und Schnee. Dort hielt der Primarius eine kurze Rede. Er schilderte den jungen Weltbürger Gottlob Lamprecht, welcher erst beim letzten Osterfeste in die Gemeinde des Christentums eingeführt worden und welchen Gott frühzeitig zu sich gerufen, um ihm die bitteren Schicksale des Erdenlebens zu ersparen. »Die unerforschlichen Wege des Herrn«, schloß er, »seien gepriesen!«

Lamprecht hielt sich aufrecht, ja er weinte nicht. Er schien ruhig zu sein und folgte nun mit den Seinen dem Sarge, welcher zum nahen Grabe getragen wurde.

Das Grab war schon umringt von einer vier- bis fünffachen Menschenreihe, und hinter diese wagte sich jetzt auch Wilhelm von seinem Balkensitze, weil er meinte, von diesen Menschenreihen verdeckt zu werden. Das Herz trieb ihn unwiderstehlich, seinem armen Jungen doch noch einmal nahezukommen, ehe er für immer unter der Erde verschwände. Leider trieb es ihn, als er einmal in der Nähe war, dergestalt, daß er weiter und weiter nach dem Grabe zu vordrang. Die Leute machten ihm bereitwillig Platz.

Jetzt wurde der Sarg in die Grube hinabgelassen. Der Primarius sprach noch einige Segensworte und warf die erste Handvoll Erde hinab. Ein heftiges Weinen der Schwestern brach aus, und ringsum weinte jedermann. Man hörte unter dem Schluchzen einzelne sagen: »Der liebe Gottlob!« Mutter und Schwestern ließen nun auch ihre Handvoll Erde hinunterfallen, und nun griff endlich auch Lamprecht nach dem Erdhaufen neben dem Grabe, und Walter mußte alle seine Kräfte aufbieten, daß der jetzt heftig zitternde Mann beim Niederbücken nicht in das Grab fiele. Mit seiner Fassung schien es aus zu sein. Als seine Handvoll Erde auf den Sarg unten auffiel, da brach der arme Vater in ein so entsetzliches Schluchzen aus, daß es ringsum totenstill wurde, weil jedermann im Innersten erschrak.

Dann schien ihm der Atem zu versagen, er bewegte lautlos die Lippen, bis sie einen einzelnen Jammerton hervorbrachten. Nach diesem Tone hob Greif den Kopf – er lag neben Lamprecht am Grabe und hatte bisher stumm hinabgeschaut – und wimmerte laut. »Der Hund!« rief Lamprecht plötzlich, »selbst der Hund!« und mit diesen Worten richtete er sich hoch auf, der Stock fiel ihm aus der Hand und polternd auf den Sarg hinunter, er selbst aber starrte mit unnatürlich geöffneten Augen über die Menschen hin. »Canaille!« schrie er plötzlich auf zu allgemeinem Entsetzen, riß sich von Walter los, trat unter die Menge, welche auseinanderfuhr, ergriff einen Jungen bei den Schultern und schleuderte ihn in die Luft.

Es war der verwegene Bube Kiesel Fritze, welchen die freche Neugier bis daher gelockt und welcher jetzt, wie in einem Purzelbaume sich rücklings überschlagend, auf den Erdboden flog.

Die Leute drängten hinzu, um den von der Anstrengung wankenden Lamprecht zu unterstützen, und sie drängten dabei Wilhelm nach vorne. Obschon nach rückwärts taumelnd, erkannte Lamprecht sofort diesen verhaßten Schatten Wilhelm, streckte ihm einen Arm entgegen und sprach mit bereits versagender Stimme ein gräßliches Wort –

So nannte man's, obwohl es niemand genau verstanden hatte. Das Wort »Schatten« nur hatte man deutlich gehört.

»Er hat ihn verflucht«, murmelten die Leute einander zu, und sie schienen darüber unwillig zu werden.

Lamprecht selbst war nach diesem Ausbruche niedergefallen, erst dicht am Boden aufgefangen von dem herzueilenden Walter.

Er war besinnungslos, wohl gar leblos. Man mußte ihn auf die Bahre legen, um ihn fortzubringen.

Die Menschen eilten verstört vom Kirchhofe hinweg, nur der Kantor mit seinen Knaben sang unbeirrt in plärrendem Tone den herkömmlichen Schlußchor:

Begrabt den Leib in seiner Gruft,
Bis ihn des Richters Stimme ruft.

Mitten in der letzten Zeile marschierten die Knaben schon dem Ausgange zu.

Und auch diesen gewaltsamen Luftsprung und Fall hatten die geschmeidigen, jungen Glieder des Kiesel Fritze heil überstanden, er ging protzig neben den singenden Knaben hinweg und riß erst aus, als ihm der Polizeiratmann, an welchem er vorüberkam, mit lauter Stimme zurief: »Dich, Taugenichts, wollen wir schon unschädlich machen.«


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