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Entscheidende Schritte! Ja, welche?
Der Schlingel, der Gottlob, welcher vielleicht nützen könnte, ließ sich gar nicht mehr sehen. Es war nicht seine Schuld. Der Vater, erbittert gegen die Frauenzimmer im Hause, nahm nun erst recht seinen Jungen ganz in Beschlag. Während dieses wichtigen Vorganges in der Kirche hatte er ihn hinaus in den Garten geschleppt und zu Umgrabungen genötigt, welche ihm sonst nie eingefallen waren, und auch in den folgenden Tagen kettete er ihn fortwährend an sich. Die Niederlage, welche er im Hause erlitten, wurmte ihn unaufhörlich. Die Frau hatte ja die Führung an sich genommen, und er mußte sich eingestehen, daß es nötig gewesen. Der Junge war seine einzige Freude geblieben – er war es ja immer gewesen! – und er bildete sich ein, das männliche Regiment im Hause wieder emporzubringen, indem er den Sohn in allem Möglichen unterrichtete, in Wahrheit aber verhätschelte.
Während der nächsten Tage übernahm indessen gerade dieser Julius, welcher ihn mit Dorel im Stiche gelassen, Lamprechts Partei. Das heißt, er bereitete einen Schlag vor gegen die Schattens. Nicht etwa aus irgend einem Grolle. Die Dorel und das Haus Schatten waren ihm gleichgültig. Aber sein Vater hatte der Frau Lamprechtin gesagt, sein Julius müßte erst weiter vorwärts sein in seiner Amtslaufbahn, ehe er ans Heiraten denken dürfte, und so dachte Julius selbst. In diesem Sinne unternahm er einen Schritt, welcher bedrohlich war für die Schattens. Als er nämlich erfahren, daß die Stadt den Prozeß verloren gegen den alten Schatten, setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb einen langen Brief an den Regierungspräsidenten, welcher den Staat vertrat im Regierungsbezirke. Zu diesem Regierungsbezirke gehörte die Stadt. Er erzählte dem Präsidenten den Prozeß und machte ihn aufmerksam, daß die Stadt wohl hätte unterliegen müssen, weil sie kein ausreichendes Grundrecht besäße in Gelsendorf, daß der Staat aber siegreich den Prozeß aufnehmen könnte, denn ihm gebühre der Anspruch auf gefundene Metalle. Dabei ließ er einfließen – und deshalb schrieb er ja – daß er gern die juridische Laufbahn verlassen und in die Staatsverwaltung eintreten möchte, wenn eine leidliche Stelle in der Regierung frei wäre für ihn.
Dieser Brief hatte zur Folge, daß die Regierung wirklich den Prozeß einleiten ließ gegen Schatten senior.
Davon wußte Wilhelm nichts, er zersann sich nur Tag um Tag: Wie kommst du in die Nähe Dorels?
Da erschien endlich wieder einmal Gottlob bei ihm. Der Vater hätte ihn gar nicht von sich gelassen; heute jedoch sei er über Land, und im Hause sei alles mit dem Bierbrauen beschäftigt. So sei er frei und komme mit der Bitte, die Schwimmlektion wieder aufnehmen zu dürfen. Das Regenwetter sei vorüber, und es würde schon wieder sehr warm.
Wilhelm fragte, was zu Hause vorginge, hoffend, daraus etwas für sich entnehmen zu können. Und dies fand sich auch wirklich.
Gottlob erzählte, daß dies jetzige Brauen vom Schützenkönigtume des Vaters herrühre, daß sie später noch einmal brauen würden, und daß ihm das Brauen ganz wohl gefiele, weil es da auch für ihn Würze zu trinken gebe.
»Würze? Was ist das?«
»Das wissen Sie nicht? Was man da zuerst heraustropfen läßt aus dem großen Bottich in eine schmale Rinne – ich hab' zugesehen – das ist die Würze, und die schmeckt sehr gut, so halb bitter, halb süß, eigentlich mehr süß. Wir trinken sie alle gern, besonders die Dorel und ich, und die Dorel hat jetzt die Woche, die geht heut' abends ins Brauhaus mit dem großen braunen Kaffeekruge, und den macht ihr die alte Schönfeldern ganz voll.«
»Wer ist die alte Schönfeldern?« fragte Wilhelm, um nicht gleich zu verraten, wie wichtig ihm dieser Besuch Dorels im Brauhause vorkomme.
»Die alte Schönfeldern? Das ist die kleine, verschrumpfelte Frau, welche die ganze Nacht dort unten in der Hölle sitzt und immer Holz nachschiebt, damit das Feuer nicht ausgeht.«
»Die ist ganz allein im Brauhause?«
»Abends und in der Nacht ja. Nur der Hexenmeister, der alte Brauer, der Wolfsstange, kommt manchmal visitieren oben auf die schwarze Treppe. O, das hohe schwarze Brauhaus ist greulich! Aber die Alte ist brav, die fürchtet sich gar nicht, und die Dorel, die hat sie gern, der gibt sie mehr Würze als der Lorel oder der Rosel. Soll ich Ihnen ein Fläschchen Würze wegstibitzen? Es steht so ein leeres Medizinfläschchen im Erkerschranke, das nehm' ich dazu.«
»Nein, Gottlob, ich danke dir. Heute und morgen übrigens habe ich keine Zeit zum Schwimmen. Übermorgen um vier komm' her, da will ich dich mitnehmen. Aber geh' ja nicht vorher ohne mich ins Wasser, du kannst noch nicht gut genug schwimmen.«
»O ja.«
»Nein, sag ich dir, und wenn du mir darin nicht gehorchst, so nehm' ich dich nie wieder mit. Jetzt behüt' dich Gott! Ich muß hinaus zum Spittelhause, da lass' ich Grund graben.«
Der Bau des neuen Hospitals war ihm übertragen worden, und während er jetzt da hinausschritt, faßte er den Entschluß, diesen Abend Dorel im Brauhause aufzusuchen.
So geradezu und ohne weiteres, meinte er jedoch, sei es nicht zu wagen; der alte Brauer dürfte ihn nicht überraschen, denn alsdann käme es unter die Leute.
Wie das anfangen? Beim Mittagessen fragte er Keller nach diesem Wolfstange und erfuhr, daß die Frau des Brauers rote Augen hätte und deshalb für eine Hexe gehalten würde, und daß man dem Wolfstange selbst in vielen Dingen des Brauhauses nicht recht traute.
Feuersgefahr, sagte sich Wilhelm, nimmst du zum Vorwande einer Untersuchung des Brauhauses – und er ging nach der Wohnung des Brauers in der Fremdengasse, um ihm vorzuspiegeln, daß er als Baumeister der Stadt die innere Baulichkeit des Brauhauses besichtigen und prüfen müßte.
Ja, war denn aber dieser Schatten Wilhelm nicht ein streng rechtlicher Mann? Wie konnte er sich zu solch einer Täuschung entschließen?! – Ach, die Liebe ist eben ein unwiderstehliches Element und reißt alles nieder, was ihr im Wege steht.
Kurz, er ging in die Fremdengasse. Als er jedoch in die Nähe des Wolfstangeschen Hauses kam und schon die rotäugige Hausfrau an der Tür stehen sah, da sagte er sich plötzlich: Nein! Wenn du das ankündigst, da bleibt dem Brauer bis zum Abende zuviel Zeit. Da fragt er am Ende nach, ob und warum. Überrascht muß er werden. So trug er denn im Vorübergehen der Frau Wolfstangin nur auf, ihrem Manne anzukündigen, daß er heute abends um sieben ihn, den Baumeister Schatten, erwarten möge. Es handle sich um eine Baufrage.
Das Wetter war seit einigen Tagen wieder licht und hell. Um sieben, als Wilhelm ins Haus des Brauers trat, war es noch nicht dunkel genug, er sagte also, nachdem er eine Besichtigung des inneren Brauhauses angekündigt: »Nehmen wir eine Laterne mit, das Herumgehen wird länger dauern. Das Holz, Sparren- und Lattenwerk in den Malzböden soll arg ausgetrocknet sein von starker Heizung, ich muß das genau prüfen.«
Der Brauer sah ihn erstaunt an, fügte sich aber, da er wohl kein ganz reines Gewissen hatte, holte die Laterne, zündete sie an und ging mit ihm durch sein Hinterhaus nach dem Braugebäude hinüber.
Es fing jetzt an zu dunkeln, und Wilhelm wünschte zuerst in den Raum geführt zu werden, wo die großen Bottiche standen und wo nach Gottlobs Beschreibung die alte Schönfeldern und Dorel sein mußten. Er wollte zunächst – am liebsten ungesehen – einen Blick da hineinwerfen, ob Dorel schon da wäre.
Sie war noch nicht da, und die alte Frau unten in der Hölle rührte sich nicht. Wilhelm trat rasch zurück, nachdem seine Voraussetzung sich bewährt und er entdeckt hatte, daß rechts eine Treppe von den Malzböden herab in diesen Raum führte. Zu dieser Treppe wollte er gelangen und dann den Brauer verabschieden. Er sagte also: »Zuerst, Meister Wolfstange, von der anderen Seite auf die Malzböden!«
Der Brauer sah wieder erstaunt auf ihn, folgte aber ohne Widerspruch.
Während er nun auf den Malzböden sorgfältig die Balken, Sparren und Latten beim geringen Lichte der Laterne untersuchte, war es draußen finster geworden, und Dorel war wirklich mit ihrer großen braunen Tonkanne bei der alten Schönfeldern angekommen, welche unten in der Hölle kauerte.
Es ist nicht ausgemacht, ob das Wort Hölle oder Helle geschrieben werden muß. Darum nicht ausgemacht, weil die Schlesier hartnäckig einen Widerwillen haben gegen ö und ü. Diese breiteren Doppelvokale scheinen sie anzustrengen, und sie sprechen ö und ü aus wie einfache e und i. Das rächt sich bei diesem Worte. Es bezeichnet einen Ort am Feuer. Bedeutet das Wort nur einen lichteren Raum in der Nähe des leuchtenden Feuers, dann darf man »Helle« schreiben. Hängt es aber mit der religiösen Vorstellung zusammen, daß es in der Hölle des jenseitigen Lebens immer brenne, dann muß man »Hölle« schreiben.
Hier im Brauhause mußte es da unten immer brennen, und deshalb darf man sich für »Hölle« entscheiden.
Es war ein weiter Raum, schwarz an den Wänden, schwarz an der Decke vom ewigen Rauche. In der Mitte standen zwei riesige Bottiche. Sie waren unten durch eine schmale Rinne miteinander in Verbindung. Nach rechts hin war ein gemauerter Ofen, welcher in einen bis ins Dach hinausmündenden Schornstein gerade aufstieg. Der Eingang zu diesem Ofen, das Ofenloch also, lag sechs Stufen tief unten. Sechs Stufen führten von beiden Seiten da hinunter zu dieser Hölle, welche etwa fünf Schritte breit war im Geviert. Dem Ofenloch gegenüber stand eine Bank an der Mauer, und auf dieser Bank wohnte Tag und Nacht die alte Schönfeldern. Sie hatte das Feuer im Ofen ununterbrochen zu erhalten, und ihre vorzügliche Eigenschaft bestand darin, daß sie nie ganz einschlief, wenn sie auch zu schlummern schien. Sie mußte stets von der Bank aufstehen, wenn das Feuer im Ofenloche sank. Ein Haufe gespaltenen Holzes lag dazu immer bereit neben dem Ofenloche.
Als jetzt Dorel in das finstere Brauhaus eintrat und erst zu dem hohen, kohlschwarzen Raume in die Höhe blickte, welchen der Feuerschein von unten aus der Hölle unheimlich beleuchtete, da gab die in sich zusammengeschobene Alte da unten gar kein Lebenszeichen, der Unkundige konnte meinen, sie schliefe ganz fest. Als aber Dorel, obwohl leisen Schrittes, die sechs Stufen links hinabstieg, da sagte die Alte, ohne sich zu rühren, plötzlich wie eine ganz wache Person:
»Aha, das liebe Dorel kommt nach der Würze.«
»Ja, Mutter Schönfeldern.«
Es herrschte eine gewisse Vertraulichkeit zwischen den beiden so verschiedenen Frauenspersonen. Dorel war bei den Brautagen des Lamprechtschen Hauses von früh auf nach Würze ins Brauhaus gekommen und war oft lange bei der Alten verblieben, weil diese gern von ihrer Jugend erzählte und Dorel gern zuhörte. In den letzten Jahren, als Dorel schon ein erwachsenes Mädchen geworden, hatte sie der Alten oft ihre Bewunderung ausgedrückt, daß diese seit so viel Jahren standhaft ein so einsames Leben führte, welches so anstrengend wäre. Dadurch geschmeichelt war die gegen andere Leute schweigsame Alte gegen Dorel immer mitteilsamer geworden.
»Der Tag draußen« – hatte sie gesagt – »und das Leben draußen ist für mich schlafen gegangen schon vor vierzig Jahren. Man hat mir damals meinen Schatz weggenommen. Er war der allerschmuckeste, das kannst du mir glauben.«
»Ich hab' noch gar keinen!« hatte Dorel eingeschoben.
»Wird schon kommen!« hatte die Alte gesagt – »wart ock! (Ock heißt nur). Und von da an hab' ich nichts mehr sehen wollen von der ganzen Welt, sondern bin hier herunter in die Hölle gekrochen. Hier ist's ganz hübsch, hier sprech' ich jede Nacht mit meinem Gottfried, und wir bleiben beide jung und lustig!«
Heute sprach sie mit absonderlicher Lebhaftigkeit, als sie nebeneinander auf der Bank saßen: jung und lustig!
»Geht das?« fragte Dorel.
»Freilich geht's«, erwiderte die Alte geradezu heftig, und ihre kleinen Augen blitzten aus dem runzeligen Gesichte hervor wie glühende Kohlen – »freilich geht's! Und das kann einem kein Mensch wehren.«
»Auch der Vater nicht?«
»Aha! Nun hat die Dorel doch auch ihren Gottfried.«
»Ach nein.«
»Ach ja, ich merk's. Und der Vater will nicht. Kind, da muß man schreien, herzhaft schreien. Ich dummes Schaf hab' mir's still gefallen lassen. Hätt' ich nur geschrien, in einem fort geschrien! Das halten die Väter auf die Länge nicht aus, da laufen sie fort, und man nimmt seinen Gottfried bei der Hand – aber was ist denn das?«
»Was denn?«
»Stille! Mein Gehör ist noch gut, weil ich nicht viel höre. 's ist da oben. Schlappt der alte Brauer wieder einmal im Finstern herum, weil sein Weib Hexerei treibt? Ja hörst du?«
»Nein. Aber ich fürcht' mich.«
»Weil du jung bist. Ich fürcht' mich schon lange nicht mehr. Da kommt's!«
Und nun reckte die Alte aus dem dunklen Kleiderstoße, welcher einen Menschenkörper gar nicht andeutete, ihren sehnigen Hals empor nach der schwarzen Holztreppe hinauf, welche auf die Malzböden führte, und schwieg plötzlich still.
»Ist's was?«
»Ja doch. Die Tür knarrt, 's schmiert sie halt kein Mensch ein. Da, da ist er richtig im Schafpelze, den er Sommer und Winter trägt, ho, ho, und noch einer!«
Nun blickte auch Dorel hinauf und sah einen langen, weißen Schafpelz, in welchem der Brauer steckte, und sah hinter ihm noch einen Mann – »Allmächtiger! Das ist der Wilhelm!«
»Der Gottfried heißt jetzt Wilhelm? Na, warte nur ganz stille. 's kommt alles. Ja doch! Der Brauer zeigt auf unsere Tür drüben, schlappt wieder in den Malzboden zurück, und der Gottfried, der Wilhelm drückt die Tür hinter ihm zu. So ist's recht, der kommt herunter. Gib deinen Krug her, ich werd' die Würze hineinlaufen lassen; das dauert eine Weile. Unterdes gute Verrichtung.«
Und die kleine, zusammengekrümmte Gestalt kroch langsam links die sechs Stufen hinauf, vor sich hinkichernd, und verschwand oben zwischen den Bottichen, wo die Würze in die Rinne träufelte, nämlich der Saft des zerweichten Malzes, welcher erst Bier wird, wenn der Hopfen hinzukommt.
Dorel regte kein Glied, nein, aber die Glieder selbst taten es. Sie zitterte, und sie wußte nicht, ob es Freude wäre oder Angst.
Wilhelm blieb rechts von den sechs Stufen stehen und sagte halblaut: »Darf ich hinunterkommen?«
Dorel machte eine ängstliche Bewegung mit der Hand, sagte aber kein Wort.
Er stieg langsam hinunter. Das Feuer leuchtete eben hell aus dem großen Ofenloche, und er sah deutlich, daß Dorel zitterte.
»Fürchten Sie sich vor mir?«
»Nein.«
»Ich komme fragen, liebes Dorel, warum Sie mich so hart behandelt haben am Tage nach unserer Begegnung im Hochwalde? Ich hatte nach dieser Begegnung im Hochwalde gehofft – Sie hatten mich lieber Wilhelm genannt – ich hatte gehofft, daß Sie mir ein wenig gut wären, liebes Dorel. Aber den Tag darauf in Ihrer Hinterstube stießen Sie mich mit Ihrem Arme gleichsam zurück und waren ganz unfreundlich –«
»Weil Sie falsch gewesen waren und mit dem schönen Fräulein in der ›Krone‹ Liebschaft getrieben«, sagte sie rasch und scharf.
»Ich?«
»Ja, Sie! Der Wachmeister hat's erzählt, wie Sie Hand in Hand mit ihr auf dem Sofa gesessen.«
»Der Wachmeister ist ein Lügner.«
»So?«
»Nein, das kann ich doch nicht sagen, denn gelogen hat er nicht.«
»Nun also! Kann man einem Menschen gut bleiben, der so –«
»Wieder nein! Nicht so. Gelogen hat der Wachmeister nicht, aber falsch berichtet hat er.«
»Wieso?«
»Das Mädchen in der ›Krone‹ ist mir vollständig gleichgültig –«
»Ja doch!«
»Ja doch. Wegen des Prozesses, den mein Vater führt, hab' ich zweimal zu Herrn Stammbach gehen müssen, und da ist die Amélie in sein Zimmer gekommen, und als der Vater mit mir fertig geworden, da hat sie mich ins andere Zimmer und aufs Sofa geführt und hat mich bei den Händen genommen und unter Lachen allerlei Fragen gestellt – sie ist sehr frei und dreist, und gerade da ist der Wachmeister eingetreten. Ich selber war nur verlegen, weil mir die Vertraulichkeit peinlich war.«
»Peinlich?«
»Jawohl. Mein Herz war voll von Ihnen, Dorel, was sollte mir da die Zudringlichkeit eines andern Mädchens!«
»Zudringlich ist sie?«
»Sehr. Man kann sich kaum retten vor ihr. Und wenn das meine Schuld sein soll, Dorel, dann bin ich ganz unschuldig, und Sie haben mir unrecht getan und haben mir recht weh getan.«
»Weh?« sagte sie ganz leise.
»Recht weh, liebe Dorel.«
Sie schwieg. Aber auf ihrem Antlitze schienen laute Stimmen zu sprechen. Die Vorwürfe mit der Amélie waren ja ohnehin nur der Vorwand gewesen, ihn reden zu hören – und nun erhob sie die Augen zu ihm und blickte in die seinen so voll, so tief, und als ihre Augen sich mit Wasser füllten, da fiel sie ihm plötzlich um den Hals und küßte ihn, als wollte sie ihn ersticken. »Vergib! Vergib!« Dies einzige Wort schlüpfte kaum verständlich dazwischen.
Wenn auch zum Äußersten überrascht von diesem jähen Übergange, fand doch Wilhelm augenblicklich die erforderliche Fassung, Umarmung und Kuß aufs herzhafteste zu erwidern, und es ward eine ganze Weile kein Wort gesprochen.
Wenigstens hörte oben an der Rinne die alte Schönfeldern gar nichts mehr, als das Eintropfen der Würze in die Kanne.
Als endlich das Küssen doch einmal aufhören mußte, da sahen sie einander in die Augen wie zwei glückselige Geschöpfe.
»Ich hab' auch recht sehr gelitten, Wilhelm,« sagte nun Dorel, »aber nun ist's gut. Nicht wahr, du hast wirklich nichts mit der Amélie?«
»Wirklich nichts.«
»So. Nun sind wir einig, ja?«
»Mit Herz und Mund.«
»Na, der Mund hat ein bißchen viel getan, und daran bin ich schuld, weil ich dich doch halt so lieb habe. Jetzt aber lassen wir den Mund reden – setz' dich! – was soll denn nun werden mit meinem Vater?«
»Wir müssen ihn halt zu gewinnen suchen.«
»Nur schreien!« – sagte die alte Schönfeldern, welche oben an der Treppe erschien – »nur schreien! Kümmert euch nicht um mich« – fuhr sie beim langsamen Herunterhumpeln fort – »ich hör's gern, und ich hör' doch nichts, denn ich denke an meinen Gottfried.« Dabei wischte sie sich die Augen und setzte sich dicht beim Ofenloche auf die Holzscheite, vor sich hinmurmelnd: »Schreien und warten! Sie kriegen's satt.«
Den Krug mit der Würze hatte sie auf den Boden gestellt. Dorel stand auf, nahm ihn in die Hand und sagte: »Jetzt muß ich aber fort, zu Hause warten sie auf die Würze. Schönen Dank, Mutter Schönfeldern, und gute Nacht! Komm, Wilhelm!«
Die Alte antwortete nicht. Sie hatte den Kopf tief in beide Hände niedergebogen, man sah nichts, als wirre graue Haare. Sie war wohl in ihre Jugendzeit versenkt.
An der Ausgangstür auf den Platz hinaus, welche Wilhelm hinter sich zuschlug, hielt er Dorel fest. »Noch einen Augenblick, Dorel!«
Es war stockfinster. Aber mit der Hand suchend, fand er das Bänkchen, welches ein paar Schritte von der Tür an der Mauer stand und welches er gesehen, als er mit dem Brauer beim Dunkelwerden hier gewesen. Dort ließen sie sich nieder, obwohl Dorel nochmals versicherte, sie warteten zu Hause auf die Würze.
Das Bänkchen war kurz; sie hatten kaum Platz alle beide. Aber Liebende sind anspruchslos bei solcher Gelegenheit, sie nehmen vorlieb mit wenig Raum. Auch war es ihnen ganz recht, daß es stockfinster war. Niemand sollte sie sehen, und in ihnen leuchtete es herrlich.
Die Erinnerung, wie sie sich endlich doch so nahe gekommen, trotz aller Hindernisse, das wurde hastig ihr Gesprächsstoff.
»Wie du mich damals von Stromau herein im Flechtenwagen auf die Backe geküßt, du dreister Mensch, das hab' ich gar nicht mehr vergessen können! Da ging die Unruhe los und die Sehnsucht. Ich hatte dich freilich schon vorher sehr gern gesehen; aber so was war mir doch nicht eingefallen, das zuckte mir durch alle Glieder. Und wie du nun so lange fort warst, da hatte ich nur den einen Gedanken: Wird er am Ende doch einer begegnen, die ihm besser gefällt als du – so früh war ich schon eifersüchtig – das tut so weh und doch auch wohl. Eigentlich war ich immerfort voller Sorge und ängstigte mich. Denn dabei dachte ich auch immerfort: Ohne den Wilhelm kannst du gar nicht mehr leben.«
»Und ich dachte: Ohne die Dorel geht's nimmermehr.«
»Gott sei Dank, daß es überstanden ist. Seit der dumme Wachmeister das erzählt von der Amélie auf dem Sofa, ist mir erbärmlich zumute gewesen.«
»Jetzt aber –?«
»Oh!«
Und da er sie jetzt wieder umarmte und küßte, mußte sie ihren Krug mit der Würze auf den Erdboden stellen, er war im Wege.
Sie schwammen in einem Meere von Entzücken, wie es nur die erste Liebe mit sich bringt, und Wilhelm wunderte sich auch nicht mehr, daß Dorel so plötzlich unten in der Hölle du zu ihm gesagt. Dort hatte er's himmlisch gefunden, jetzt fand er's ganz natürlich.
Auffallend war es immerhin, denn alle Kinder in der Stadt mußten Sie sagen zu den Eltern, selbst die Mädchen zu ihrer Mutter. Das war ein Grundsatz in den Familien. Der Respekt, hieß es, fordere es so. Die Zärtlichkeit litt gewiß darunter.
Wie kam es nun, daß Dorel dem Wilhelm gegenüber so plötzlich davon absprang und du zu ihm sagte? Ja, die Liebe schöpft ihre Gesetze aus dem Herzen, und das Herz kümmert sich weniger um den Respekt.
Dorel indes unterbrach doch zuerst die Zärtlichkeiten und sagte: »Nun lass' uns vernünftig sprechen.«
»Ja, einen Augenblick. Wir müssen Abrede treffen, wo und wann wir uns wiedersehen.«
»Lieber Wilhelm, das wird nicht gehen.«
»Dorel!«
»Nein, nein. Siehst du: das erstemal wie heute, selbst im Dunklen, das kann man verzeihen. Man muß sich doch finden und muß erfahren, ob man sich wirklich lieb hat. Aber nachher, nachher weiter Versteckenspielen gegen die Eltern und gegen die gute Sitte, Wilhelm, ich weiß nicht, ob das recht wäre. Ja, wenn's wenigstens die Mutter wüßte!«
»Ist denn die für uns?«
»Das weiß ich nicht. Aber sie ist still und gut, und sie ist es doch allein, welche den Vater herumkriegen kann. Denn sie ist auch sehr klug. Ich muß also erst sehen, ob – sieh, deshalb hab' ich auch den Gottlob ›ausgemacht‹ (schlesisch für ›gescholten‹), weil er mir heimlich das Büchel zugesteckt. Der Junge darf doch nicht betrügen, wenn auch still.«
»Du hast's aber gelesen?«
»Ja freilich! Ich hab's auch gleich gewußt, daß es von dir kam. Nur recht dumm bin ich mir vorgekommen beim Lesen der Gedichte. Du bist doch nicht böse, daß ich nicht so klug bin wie du?«
»Gott bewahre! Du bist auch ganz klug, nur auf andere Weise.«
»So? Na, zuerst hab' ich gar nicht verstanden, was ich mit den kleinen Liedern anfangen sollte. Sie sind so ganz anders, als die im Gesangbuche. Aber wie ich sie immer und immer wieder las, sobald ich oben in der Hinterstube allein sein konnte, da ist mir's gewesen, als gingen mir die Augen auf. Ich hab' bald die, welche recht deutlich waren, auswendig behalten, hab' sie immer vor mich hingesummt und hab' mir gedacht, wenn du mit der Flöte dazu bliesest – 's ist so hübsch, daß du blasen kannst – dann müßte es einem werden, als flöge man leicht durch die Luft wie ein Vogel. Aber hörst du nicht?«
»Alles hör' ich.«
»Das mein' ich nicht. Hörst du nicht – Herr Gott ja! Da ist jemand an der Tür!«
Sie sprang auf und stieß den Würzekrug um. Er hatte glücklicherweise ringsum einen großen Bauch, und dieser stemmte sich an den Boden und verhinderte das völlige Herauslaufen der Flüssigkeit. Hastig hob sie ihn auf, flüsterte: »Auf Wiedersehen!« und flog fort –
»Ja, wo denn wiedersehen!« rief er ihr nach.
»Ich weiß nicht!« antwortete sie und verschwand im Finstern.
Wilhelm wußte nicht, warum sie plötzlich aufgesprungen. Er sah sich um – er sah nichts in der Finsternis; aber er hörte laufen. Es lief jemand fort. Wer konnte dies sein?
Kiesel Fritze war's. Gottlob hatte auch vor ihm erzählt von der Würze, welche Dorel des Abends aus dem Brauhause holen werde, und der naschhafte Junge hatte mit der Zunge geschnalzt. So viel hatte er von diesem Wundertranke gehört, und er konnte nicht einmal zum Kosten gelangen, nur die reichen Leute, welche brauen durften, nur sie konnten sich daran laben. Die Range hatte nichts zu tun als herumzubummeln, sie sagte also zu sich: Versuch einmal dein Glück und sprich die Dorel darum an, die ist ja immer freundlich. So war er zum Brauhause gekommen. Die Tür war geschlossen; er suchte durchs Schlüsselloch zu gucken, ob Dorel noch drin wäre, und dabei hatte er sich die Nase geritzt an einem ausgebogenen Blechsplitter des Schlosses und hatte einen kleinen Schmerzenslaut ausgestoßen. Diesen hatte Dorel gehört und war fortgesprungen. Jetzt aber hatte er auch Wilhelms Stimme gehört, und nun war er ebenfalls ausgerissen. Das war wohl Dorel! sagte er sich – vielleicht kannst du sie einholen, du läufst ja rascher. Und richtig, am Lamprechtsgassel, welches zum Ringe hinüberführt, holte er sie ein und rief mit stockendem Atem: »Lassen Sie mich einen Schluck Würze kosten, Jungfer Dorel!«
Entsetzt lief Dorel, ohne ein Wort zu erwidern, um so hurtiger weiter. Atem schöpfend blieb er stehen. Da ging ein Mann an ihm vorüber. Wer ist das? Das wird die Stimme sein, die er am Brauhause gehört. In dem engen Gäßchen war völlige Nacht, er konnte den Mann nicht erkennen. Der Mann ging langsam, Kiesel Fritze ging ihm langsam nach bis zum Lamprechtschen Hause. Da schimmerte aus der Hinterstube Licht in das Gäßchen – jetzt erkannte er den Mann, es war der Herr Baumeister Schatten.
»Aha!« – sagte sich der unnütze Bube – »die beiden sind zusammen da am Brauhause gewesen! Das mußt du dem Vater erzählen. Der fragt ja immer, ob ich nichts gesehen oder gehört habe von dem Herrn Schatten.«
Ärgerlich wischte er sich den Mund ab, welcher wieder nichts erobert hatte von der delikaten Würze, und schlenderte nach Hause.