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Wilhelm Schatten war unterdessen rüstig auf Wittendorf zugeschritten. Er war Baumeister und hatte dort ein ganzes Gehöfte – dies war der Ausdruck – aufzubauen. Es war Sonnabend – den Ausdruck »Samstag« kennt man nicht – und da hatte er auch den Maurern und Handlangern ihren Wochenlohn einzuhändigen. Obgleich es kein Papiergeld gab, sondern neben den sogenannten harten Talern nur Metallmünzen, welche stark mit Kupfer legiert waren, so konnte er es doch leicht in der Tasche tragen, denn er war jung und rüstig, und das Arbeiterpersonal war nicht zahlreich. Der Abzug des Meistergroschens machte es zudem auch leichter. Von jedem Taler nämlich hatte der Baumeister von Rechts wegen einen Groschen für sich abzuziehen.
Die Anspielung Kiesels auf seine Neigung für eine Lamprechtsche Tochter war ihm sehr unangenehm gewesen. Er war ohnehin ein ziemlich verschlossener Mensch, und es sieht es ja kein Liebender gern, daß seine Herzensfrage an die große Glocke gehängt wird. Am wenigsten von einem Menschen, wie von diesem Wachmeister Kiesel, welchen Wilhelm sehr gering schätzte, ja, den er für einen halben Galgenstrick hielt.
So weit gingen zwar die Bewohner der Stadt nicht in der Geringschätzung Kiesels. Sie hatten sich an ihn gewöhnt. Aber Wilhelm war einige Jahre auswärts gewesen – eine unerhörte Seltenheit! – und er hatte strengere Maßstäbe mit heimgebracht.
Er war der älteste Sohn des früheren Stadtbaumeisters Schatten, welcher sein Amt niedergelegt und sich auf das Land zurückgezogen hatte, oder wie man hier sagt auf das Dorf, was man erstaunlich und nicht eben lobenswert gefunden.
Wilhelm hatte das Maurerhandwerk noch unter seinem gestrengen Vater erlernt und war nach Freisprechung im Gewerke auf die Wanderschaft gegangen. Dies war bei Maurern nicht häufig, und Vater Schatten hatte ganz verdutzt dreingesehen, als ihm Wilhelm, schon das Ränzel auf dem Rücken, dies kurzweg angekündigt hatte. Der Alte hatte nur den Kopf geschüttelt und nicht gleich was dagegen gesagt, weil ihn der Entschluß völlig überraschte und er mit dem stets eigensinnigen Jungen nicht einen Streit anfangen wollte, bevor er sich die Sache überlegt hätte. Das hatte nun Wilhelm nicht abgewartet, sondern war ohne weiteres fortgewandert.
Von unterwegs hatte er selten geschrieben und nur von seinem Bruder Christoph zuweilen Auskunft verlangt über das Wohlbefinden von Vater und Mutter. Er wußte ja, daß der Vater nicht gern und die Mutter gar nicht schriebe. Christoph aber war immer – um den Wilhelm zu ärgern – vom Vater gerühmt worden als sehr gewandt mit der Feder.
Nach zwei Jahren war er zurückgekehrt und hatte zu allgemeinem Erstaunen dem Vater und dem Herrn Bürgermeister die Ausweise vorgelegt, daß er in der Hauptstadt des Regierungsbezirkes sein Examen gemacht habe und zum wohlbefugten Baumeister ernannt worden sei.
Infolgedessen war er vom Bürgermeister, Magistrat und Stadtverordneten als städtischer Baumeister eingeführt worden und hatte auch sogleich Beschäftigung gefunden, da nur noch ein altersschwacher Baumeister vorhanden und dieser noch dazu katholisch war, was nicht zur Empfehlung diente in der überwiegend evangelisch-lutherischen Stadt.
Dieser Glaubenspunkt war auch für den alten Schatten wirksam gewesen. Er haßte die Stadt und hätte seinen Sohn lieber außer Berührung mit derselben gesehen, aber der alte katholische Baumeister hatte auch einen Sohn, welcher zum Baumeister erzogen werden sollte, und da schien es dem Vater Schatten doch besser, daß sein Sohn eintrat, denn Schatten senior war ein Stocklutheraner.
So war Wilhelm einigermaßen fremd geworden in seiner Vaterstadt, und man sah ihn nicht ohne Mißtrauen an, wenigstens nicht ohne neugieriges Kopfschütteln. Man liebte nichts Fremdes; es konnte die guten alten Gewohnheiten stören. Dazu kam, daß Wilhelm ein fast schweigsames Wesen hatte und jedenfalls in seinen Äußerungen kurz war. Man zog ein redseliges Wesen vor; das zeuge von gutem Herzen.
Er war ein stattlicher junger Mann, ein wenig über Mittelgröße und von kräftigem Körperbau. Dabei aber doch schlank von Gestalt und geschmeidig in den Bewegungen. Er hatte blaue Augen, frische, wohlgerötete Farben im Angesicht und kurzgeschnittenes blondes Haar. Kurzgeschnitten, was man einen Schwedenkopf nannte, und keinen Zopf, keinen Haarbeutel, hinten gar nichts. Das befremdete. Die Haartracht war damals noch in der Krise. Alle älteren Leute trugen noch den Zopf, und die Vornehmen gingen gepudert. Die Jüngeren fingen bedenkliche Verkürzungen an, aber so radikal hinten ohne irgend was, wie der Schatten Wilhelm, das war doch noch nicht vorgekommen und gab zu denken, das erweckte mißliche Folgerungen.
Hinter Wittendorf ging ein Steg über den Strom zum linken Ufer hinüber. Über diesen Steg schritt Wilhelm, als er die Leute bezahlt und einige Anordnungen für die nächste Woche getroffen hatte. Er wollte nicht direkt in die Stadt zurückkehren, sondern den Vater in Gelsendorf aufsuchen. Gelsendorf lag südwestlich nur eine kleine halbe Stunde entfernt von der Stadt.
Neben Weidengebüschen ging er am Strome dahin und blieb erst einmal stehen, als eine Lücke in den Weiden eintrat und er frei auf das Wasser blicken konnte. Er schien mit einem wichtigen Entschlusse beschäftigt zu sein, und der Anblick des rasch daherströmenden Wassers mochte ihm eine Anregung bieten.
Die Landschaft selbst bot keine. Die wenigen Bäume in der Flußniederung waren alle verstümmelt, wie das in Schlesien herkömmlich ist. Man haut ihnen die Zweige ab, um ihr Laub den Schafen als Nahrung vorzulegen, und so entstehen Stangen, welche nur auf dem Haupte kleine Mützen tragen. Dagegen war Wilhelm sehr eingenommen, und der Strom war sein Liebling.
Was war's denn für ein Entschluß, den er fassen wollte? Er betraf die Frage, ob er in seiner Vaterstadt bleiben und sich für immer einrichten sollte.
Er war ein strebsamer Geist und hatte in seinem Fache des Bauwesens ernste, weitgehende Ansichten. Er hatte auch Neigung gefaßt für die Kunst seines Gewerbes, weil er draußen mächtige Monumente dieser Kunst gesehen, und er fragte sich jetzt dringend: Ist denn in dieser kleinen, ganz und gar zurückgebliebenen Stadt irgend eine Aussicht für dich und deine Laufbahn? Wird dich der enge, völlig abgesperrte Sinn dieser Bürgersleute nicht am Ende ganz und gar gefangen halten in handwerksmäßiger Beschränktheit?
Das steht zu fürchten! sagte er sich und blickte unverwandt in das fließende Wasser. Aber das Wasser floß unaufhaltsam und setzte auch seine Gedanken in Fluß.
Es ist doch deine Vaterstadt, sagte er sich, und wenn auch in ihrer dürftigen Naturumgebung ohne die Reize, welche du draußen gesehen, so hat sie doch den Reiz deiner Kindheit, deines ganzen Jugendlebens für sich. Alle Umgebungen, seien sie noch so unscheinbare, erinnern dich an die jungen Gedanken deines Lebens und beleben dich dadurch Tag für Tag. Die Sonne und der Regen, die Lerche und die Nachtigall sind hier wie anderwärts, und, setzte er nach einer Pause hinzu, die Kämmerei der Stadt ist reich, sehr reich, vielleicht gelingt es dir, die trockenen Väter der Stadt zu erweichen und Bauten von ihnen zu erringen, welche höhere Ziele anstreben.
»Ach,« rief er plötzlich halblaut und hob den Kopf, »das alles ist ja doch nicht die Hauptsache! Das Mädchen ist's, welches du liebst. Sie fesselt dich an die kleine Stadt, gesteh dir's nur! Darum vor allem übrigen suche die Entscheidung, ob sie dich wieder liebt, wie du hoffst, und ob sie dein werden kann. Nach dieser Entscheidung mußt du sofort trachten, und mußt deshalb vor allem andern zum Vater hinaus. Also vorwärts!«
Und er ging weiter.
Aber diese Liebe selbst hatte eigentlich noch keine hinreichende Grundlage. Der junge Mann und das jüngere Mädchen waren noch weit auseinander.
Wilhelm war neben seinen Eltern in recht trockener Luft aufgewachsen: er hatte nie eine Zärtlichkeit zwischen Vater und Mutter bemerkt. Sie mochte wohl nur in frühester Zeit und nur in geringem Grade bestanden haben. Er war ferner unter seinen Kameraden immer ziemlich abseits geblieben, ernst und einsam. So blieb er denn auch entfernt von der Mädchenjagd, welche unter den jungen Burschen Mode war in der kleinen Stadt, sobald sie der Mannbarkeit näher rückten. Zeitig wurde er dann eingestellt in die Arbeit als Lehrjunge des Maurergewerbes. Das strengt an, das macht müde. Er schlief fest und träumte nicht. Erst als er freigesprochen worden, hatte er das Behagen gefunden, sich freier umzusehen und mit den Altersgenossen mehr zu verkehren.
Da hörte er denn, wie gestritten wurde, welches das schönste Mädchen wäre in der Stadt. Dabei wurden alle der Rede werten aufgezählt, und nun schaute auch er sich um nach den Wählbaren. Jetzt wollte man sein Urteil hören, weil er, der bisher Abgesonderte, ja ein recht unbefangenes Auge haben müßte.
Das hatte er auch, und sein Auge blieb plötzlich an einem Mädchenkopfe haften, von dem noch nicht die Rede gewesen war. Sie mochte wohl für zu jung, mochte noch für einen Backfisch gehalten werden mit ihren sechzehn Jahren. Wunderlich genug nannte er sie auch nicht, als man seinen Ausspruch verlangte. Daß er dies nicht tat, war ein eigentümliches Zeichen.
Er hatte sie entdeckt beim Ausgange aus der Kirche. Dort an der großen Kirchentür fand die Mädchenschau statt, dort versammelten sich gegen den Schluß des Gottesdienstes die zur Verliebtheit geneigten jungen Bursche, und dort mußten die armen jungen Mädchen Revue passieren. Arm? Ach nein! Die meisten hatten wohl nichts dagegen. Auch Dorothea Lamprecht, kurzweg Dorel genannt, begegnete ruhig, wohl gar forschend den neugierigen Blicken. Sie war so jung, daß sie noch gar nichts Arges dachte.
Und gerade sie traf mit ihren fröhlichen graublauen Augen den Sinn oder gar das Herz Wilhelms.
Es hüpfte ein Schalk auf ihrem nur leise geröteten Antlitze umher, und ein paar ganz kleine Sommersprößchen – nur ein paar, und ganz kleine – hoben das zierliche Näschen. Wenn sie das gewußt hätte! Diese Sommersprößchen hatten sie immer geärgert, und sie hatte mehrmals versucht, sie durch Zugpflästerchen zu vertreiben. Umsonst! Sie blieben hartnäckig bestehen und paßten ja auch sehr gut zum lockigen dunklen Haare, welches die feine Haut nachdrücklich beschattete.
Wer ergründet's, worin der Reiz besteht? Wilhelm nicht. Um Mund und Nasenflügel Dorels spielten kleine Züge, welche Wilhelm entzückten, ohne daß er wußte, warum.
Jetzt ging er Sonntags auch in die Kirche, was sonst selten geschehen war. Er war immer zu seiner Erholung Sonntag vormittags zum Tore hinausgegangen in den Klosterbusch, die einzige Zuflucht für landschaftliches Bedürfnis. Jetzt erschien er regelmäßig im Kirchengestühle seines Vaters. Der alte Schatten nämlich hatte als strenger Lutheraner dicht neben dem Altare ein großes Gestühl gemietet, in welchem er jeden Sonntag mit seiner Frau erschien. Die Frau blieb nur manchmal aus, weil sie an Magenkrämpfen litt; er fehlte nie. Von diesem Gestühl aus konnte Wilhelm hinaufsehen zu den Kirchenplätzen der Lamprechts. Sie befanden sich auf der sogenannten Empore, und da beide, Wilhelm wie Dorel, gute Augen hatten, so lasen sie sich beide von den Gesichtern deutlich ab, was in ihrem Innern vorgehen mochte.
Dazu war besonders der Tischlermeister Huckauf behilflich, welcher auf der Empore gegenüber saß und den Chorgesang tyrannisch zu leiten suchte, zum Schrecken des Kantors hinten an der Orgel. Denn Huckauf war nicht streng musikalisch und hatte nur eine grimmig laute Stimme. Obwohl man lange daran gewöhnt war, so machte doch Huckauf immer ein gewisses Aufsehen, und namentlich Dorel blickte dabei immer in die Höhe. Wenn Huckaufs Unfall im Falschsingen besonders groß geriet, da zeigte die vielleicht musikalische Dorel Neigung zum Lachen. Das mußte sie – in der Kirche! – natürlich unterdrücken, und über diese Schwierigkeit verständigte sie nach unten Wilhelm, welcher mit einem gutmütigen Lächeln und Kopfnicken auszudrücken suchte, er wüßte ihre schwierige Lage vollständig zu würdigen.
Zum Ärger des Vaters war Wilhelm immer blitzschnell hinaus aus dem Gestühl, wenn Amen gesprochen war. Er wartete an der Tür auf Dorel, welche ihn immer ein Weilchen ansah und dazu kurios lächelte, wie man sich über ein gemeinschaftliches Geheimnis freut.
Einige Male indessen fehlte Dorel zu Wilhelms Betrübnis in der Kirche. Vorsichtig fragte er nach und erfuhr bald, daß die drei Töchter Lamprechts wie im Wochengeschäfte des Hauswesens so auch im Kirchenbesuche abwechselten. Es waren auch nicht so viel Plätze in der Empore für die Lamprechts vorhanden, wenn die ganze Familie gekommen wäre. Da die Abwechslung regelmäßig vor sich ging, so wußte Wilhelm bald ganz genau: Heute kommt sie nicht. Und da folgte er seinem alten Triebe, ins Freie zu wandeln und sich seinen Liebesphantasien hinzugeben.
Es gab eine einzige kleine Partie in der Nähe der Stadt, welche etwas von der Erquicklichkeit der Natur besaß. Dies war eine Viertelstunde abwärts am Strome der schon erwähnte Klosterbusch.
Die Stadt hatte unter österreichischem Regimente ein Kloster der Augustinerinnen besessen. Dies stand seit einiger Zeit leer, ein großes Mauernquadrat an der Sonnenseite der Stadt, und beherbergte jetzt nur eine Anzahl Sträflinge und in einem neueren Anbau den Bürgermeister. Die preußische Regierung hatte in protestantischem Sinne das Kloster aufgehoben, und es lebten nur noch einige Nonnen als Privatfrauen in der Stadt. Eine hieß Nepomucena, welcher Name immer mit Staunen ausgesprochen wurde. Ebenso waren nur noch zwei große Nonnenkutschen übrig, mächtige, viersitzige Kasten, in denen die Nonnen an Festtagen hinausgeführt worden waren ins Freie, und zwar an diesen einzig möglichen Ort, welcher davon den Namen Klosterbusch erhalten hatte. Leicht war die Fahrt nicht gewesen, denn der Fahrweg führte nur eine Strecke weit dahin. Die Nonnen hatten unterwegs aussteigen und zu Fuß weiter wandern müssen zwischen Scheunen und Dornhecken, natürlich verschleiert, obwohl ihnen niemand begegnete in dieser Abgelegenheit.
Zwischen diesen Scheunen und Hecken schritt denn eines Sonntags auch Wilhelm hinaus und wunderte sich über die Väter der Stadt, daß sie nicht einmal einen Weg angelegt hatten zu diesem einzigen Busch in der Umgegend. Sie dachten gar nicht an so was. Naturgenuß war ihnen ein fremdes Ding. Er ist ja überhaupt auch anderswo erst um diese Zeit, das heißt im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, von Engländern angeregt worden, namentlich von einem Lord Findlater bei Dresden und bei Karlsbad. Der Mann hat sich dadurch an beiden Orten unsterblich gemacht.
Der Klosterbusch war auch gar nichts Besonderes, aber er hatte seine angenehme Heimlichkeit, weil niemand hinkam. Er besaß einen kleinen Hügel, auf welchem hohe Kiefern standen, und herunter zum Strome zogen sich niedrige Gebüsche. Der Boden war festes Moos, nach unten sogar Rasen, wie man ihn sonst nirgends sah, und der Strom war hier schöner als irgendwo. Er ging in engem Bette schnell und glänzend dahin und beherbergte Wasservögel, weil eben nur ein Fußweg vorhanden war, der selten betreten wurde und das wilde Geflügel in Ruhe ließ. Hier allein hörte man außer Finken und Amseln auch Nachtigallen, ein Entzücken für Wilhelm. Er war musikalisch.
Hier saß er denn eines Sonntags bei glitzerndem Sonnenscheine, welcher oben die Kiefernstämme golden färbte, auf dem Rasenboden und sah ein paar Wildenten zu, welche ihre Nahrung suchten und sich miteinander zankten. Auch sein Liebling kam plötzlich dazu, eine Tauchente, Taucher genannt, welcher immer kopfüber in den Strom hinabfuhr und lange, lange ausblieb, bis er in einiger Entfernung endlich wieder auftauchte.
»Sieh den prächtigen Kerl!« – rief überraschend eine weibliche Stimme – »wupp! fährt er wieder hinunter. Ist das hübsch!«
Wilhelm schaute auf. »Herrgott, das ist Dorel mit ihrer Schwester Rosel.«
Sie kamen von der Papiermühle, welche weiter unten am Strome lag, und jede trug, in Löschpapier eingehüllt, ein Buch Papier in der Hand, welches sie in der Papiermühle eingekauft hatten. Man brauchte damals so wenig Papier, daß die Kinder des Hauses hinausgeschickt wurden eine Wegstunde weit, um den nötigen Vorrat heimzubringen.
Die älteste Schwester Leonore, Lorel geheißen, war heute mit den Eltern in der Kirche, und die beiden jüngeren waren nach der Papiermühle gewandert, kamen eben zurück und erschraken ordentlich, als sie den aufstehenden Wilhelm gewahrten.
Das war nun ein wunderbares Ereignis! Sie konnten zum ersten Male miteinander sprechen. Rosel hörte nur zu. Es ist auch nicht genau auf die Nachwelt gekommen, was sie einander gesagt. Viel mag's nicht gewesen sein, besonders nichts Vertrauliches, auch wenn Rosel nicht zugehört hätte. Das Vertrauliche kommt nicht so schnell bei schüchternen jungen Leuten, und schüchtern waren sie beide, Wilhelm noch mehr als Dorel.
Man weiß nur, daß er ihr zunächst die Wildenten geschildert, absonderlich den Taucher, alsdann die Amsel, den Finken und – natürlich mit Begeisterung – die Nachtigall. Dorel hat mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört und mit Bewunderung solcher ausgebreiteten Kenntnisse Wilhelms, ehrlich versichernd, daß ihr das alles neu sei, und daß sie bisher nur zahme Enten gekannt habe, die schönen Singvögel aber gar nicht.
Dann aber hatte Rosel eine spannende Abwechslung gebracht in das stockende Gespräch, sie hatte die Gefahr ausgemalt, welche sie da unten, von der Papiermühle kommend, am Wasser bestanden hätten. Über einen Seitenarm des Stromes hätten sie gemußt, und da wäre als Brücke nur ein dicker Holzstamm vorhanden, der sei patschenaß gewesen, und sie seien unter Lebensgefahr herüber »geglitscht«. »Ja, ja, wirklich ›geglitscht‹,« hatte Dorel bestätigt und hatte zugesetzt: »Wir sind eben furchtsame Mädchen, und es war niemand da, der uns die Hand gereicht.« Da hielt sie wie erschrocken inne, weil Wilhelm mit einem »Oh!« die Hand ausstreckte. »Nein, nein!« hatte sie schnell gerufen, »wir müssen nach Hause, gelt Rosel?« – »Freilich!« – Und rasch waren sie weitergegangen. Mit langen Schritten konnte sie Wilhelm kühnen Mutes nur noch eine kurze Strecke begleiten. Auf dem Fahrwege nahe bei der Stadt hätte sich das nicht geschickt. Da sagten denn auch ängstlich die beiden Mädchen hastig den beliebten Gruß auf: »Wünschen wohl zu speisen!« und er mußte stillstehen.
Die Bekanntschaft war gemacht, Wilhelm war ganz selig, er rührte sich, ihnen nachschauend, lange nicht von der Stelle. Der berauschende Eindruck konnte nun in der Einsamkeit fortwuchern.
Das geschah denn auch. Er war jetzt Feuer und Flamme und ergriff mit beiden Händen die sich bald darbietende Gelegenheit, Dorel wieder nahezukommen. Die Kameraden hatten vor, eine Partie über Land zu veranstalten, eine ungewöhnliche Dreistigkeit.
Aber diese eine Partie war herkömmlich, und das Herkommen weihte alles. Die Bürger, Väter und Mütter schlossen dazu die Augen und ließen ihre Töchter mitfahren, wenn der Führer der Partie Vertrauen einflößte.
Eine Meile von der Stadt entfernt lag eine herrschaftliche Besitzung Stromau. Da gab es ein altes Schloß, gab es Eisenhüttenwerke zum Anschauen, gab es – und das war die Hauptsache – eine berühmte Brauerei. Sobald von dieser Brauerei die Nachricht einging, ein »Gebräude« Doppelbier sei ausnehmend geraten, da entstand unter den Jünglingen der Stadt eine fieberhafte Unruhe. Man wollte einmal einen halben Tag lang den ungestörten Umgang mit den Jungfrauen der Stadt, man wollte das Doppelbier genießen, und da sich ein vertrauenswürdiger Führer fand, so wurde die Partie unternommen.
Dieser Führer war der Fleischhauer Walter, welcher sich um die älteste Lamprechtsche Tochter, um das Lorel, bewarb. Der Vater Lamprecht wollte zwar von gar keiner Verheiratung seiner Töchter etwas wissen, aber den Walter hatte er, weil er grundtüchtig war, noch nicht ausdrücklich abgewiesen. Unter dieser Führung konnten also alle drei Lampreten, Dorel eingeschlossen, teilnehmen, und Wilhelm drängte sich, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, eifrig hinzu.
Die Fahrgelegenheit bestand aus langen Flechtenwagen. Das heißt: die Seitenwände und die Hinterwand des Wagens waren aus Weidenruten geflochten. In das Innere wurden drei recht harte Ledersitze gehängt für sechs Personen. Vorne, in der sogenannten Schoßkelle, hatte noch ein männliches Individuum Platz neben dem Kutscher.
Wilhelm und Dorel wagten beide nicht – denn vielleicht wünschte es auch Dorel! – einen solchen Feensitz für sich in Anspruch zu nehmen. Das hätte ja ihren inneren Zusammenhang verraten können! Nur hinter ihr errang sich Wilhelm seinen Platz, und er konnte so zu ihr sprechen. Sie wendete dann das Köpfchen etwas nach rückwärts, und das stand ihr allerliebst. Was sie sprachen, mußte natürlich unbedeutend bleiben, denn die andern hörten es ja. Der Weg kam ihnen übrigens ein wenig zu statten, er brachte Aufregungen hervor, und man kam sich dabei gewaltsam näher. Landstraßen nämlich, was man später Chausseen nannte, gab es nach keiner Seite der Stadt. Es gab nur schlechthin Landwege über den zumeist sandigen Boden. Dieser Boden hatte aber mancherlei Vertiefungen nach links und nach rechts, die Insassen sanken dann aneinander, und die Mädchen schrien.
Man kam diesmal ohne bemerkenswerten Zwischenfall an, man besah das Schloß und die Eisenwerke, man trank Doppelbier.
Wilhelm, der kein Biertrinker war, leistete darin wenig, und Dorel machte die dreiste Bemerkung, sie tränke mehr als er.
Bei Betrachtung des Schlosses und der Eisenwerke jedoch war er sehr kühn gewesen, er war hartnäckig neben ihr geblieben und hatte ihr alles erklärt.
Der Hochofen mit dem rotgelben flüssigen Eisen hatte einen schauerlichen Eindruck auf Dorel gemacht, und sie hatte sich einmal ganz entsetzt dicht an ihn gedrängt beim Zurückweichen, als ob er sie in Schutz nehmen sollte. Das war denn entzückend für Wilhelm gewesen, und er hatte sehr weise über Eisenstein und Schmelzung desselben vermittelst Kalks gesprochen, und daß dieser Eisenstein von seines Vaters Besitzung in Gelsendorf stammte, worüber Dorel ganz erstaunt gewesen und was sein Ansehen bei ihr sichtlich erhöht hatte. Kurz, der Verkehr zwischen ihnen war recht ausgiebig geworden, wenn auch nichts unmittelbar Herzliches zum Vorschein kam. Auch eine Störung wurde glücklich überwunden. Sie ging von Lorel, der ältesten Lamprechtschen, aus und bestand in der leisen Warnung: Dorel sollte doch nicht so arg immerfort mit demselben Herrn verkehren, der noch dazu kein eigentlicher Stadtangehöriger wäre. Da zeigte sich aber ein Charakterzug Dorels: sie ließ sich das nicht gefallen, erwiderte der Schwester scharf und schloß mit den Worten: »Nun erst recht!«
Deshalb hatte sie wohl auch nichts dagegen, als beim Aufsteigen zur Heimfahrt ihr Wilhelm herzhaft zuflüsterte: »Setzen wir uns auf den hintersten Sitz, da stößt der Wagen am wenigsten.« Und als ob Lorel es hören sollte, sagte Dorel trotzig: »Ja, das tun wir!« Und da es schon stockfinster war, sie aber beim Übersteigen der zwei vorderen Sitze gehemmt werden konnten, so sprang sie plötzlich aufs hintere Wagenrad und schwang sich wie ein Vogel hinein auf den hintersten Sitz. Wilhelm folgte wie der Blitz auf demselben Wege, und so saßen sie nebeneinander, als man sich vorne noch um die Sitze stritt.
»Das war aber hübsch!« sagte sie; dabei wurde ihr jedoch ein wenig bange.
Wilhelm wagte es natürlich nicht, die günstige Lage im Finstern zu mißbrauchen; eine besondere Gelegenheit machte er sich aber doch zunutze, das Herz war ihm zu voll. Der Kutscher nämlich erkannte im Finstern die tiefe Abweichung des Weges nicht, und der Wagen rutschte plötzlich in eine solche Vertiefung nach rechts hinein. Dorel saß rechts. Alles schrie, vom Umwerfen bedroht, und er sank nach rechts. Da umschlang Wilhelm die Dorel, um sie beim Sturze zu halten, und Dorel umfaßte ihn ebenfalls wie zur Rettung, alles nur zur Rettung! Der dreiste Wilhelm aber benützte den gefährlichen Moment, Dorel auf die Wange zu küssen. Dorel hielt still. Mitten in der Rettung konnte sie vielleicht nicht anders und hielt das Ereignis des Kusses nur für die Folge des sich neigenden Wagens.
Nun, der Wagen hob sich wieder ins Gleichgewicht, und sie sagte kein Wort über das Ereignis, sie verlangte also keine Aufklärung. Auch überließ sie beim Aussteigen in der Stadt – über die Sitze hinweg und dann hinunter – ihre Hand dem behilflichen Wilhelm ohne irgend ein Widerstreben, und als sie unten ankam, da sagte sie leise: »Ich danke für alles.«
»Für alles! Also auch! –« dachte Wilhelm, und trunken von Glück kam er auf sein Zimmer.
Auf dem Tische lag ein Brief. Er enthielt die Antwort auf seine Anfrage nach außen: wann er draußen ankommen müßte, um sein Studium zum Examen in Angriff zu nehmen? – Auf der Stelle! lautete die Antwort. Und so mußte er sich noch in der Nacht bereit machen, um am nächsten Morgen abzureisen. Eine Fahrpost gab es doch schon – wenn auch keine tägliche – welche durch die Stadt kam und ging. Am nächsten Morgen kam und ging sie und – Wilhelm mit ihr. Auch nicht ein Gruß war möglich für Dorel.
War nun draußen, wo er in mehrere Städte kam, auch in Städte von Bedeutung, die Erinnerung an Dorel nicht gefährdet? Er sah doch viele Mädchen und sah schöne Mädchen. Gefielen sie ihm nicht? O ja. Aber an das Bild Dorels, welches er im Herzen trug, reichte keines hinan.
Was ist es doch für eine wunderbare Eigenschaft, welche so vielen Menschen innewohnt, daß sie ein kleines Gesicht, eine gewisse Physiognomie, einen Blick der Augen, ein Lächeln des Mundes, eine Bewegung der Gestalt, einen Ton der Stimme nie und nimmer vergessen, und daß die Erinnerung daran der Mittelpunkt ihres Lebens bleibt!
So erging es Wilhelm. Er kam nach zwei Jahren zurück, um seine geschäftliche und bürgerliche Stellung zu erringen, und diese wichtige Aufgabe schien ihm Nebensache zu sein. Er dachte des Morgens und des Abends nur daran, Dorel wiederzusehen, Dorel für sich zu gewinnen.
Und es dauerte lange, ehe er sie nur wiedersah. Man sollt' es nicht denken, und doch brachte es die kleine Stadt mit sich. Ein Mädchen wurde zu Hause gehalten, es war gar nicht vorauszusagen, wann sie einmal ausgehen könnte; jede Verbindung nach außen war ihr unerreichbar. Es blieb für Wilhelm wiederum nur die Sonntagskirche übrig.
Natürlich war er am ersten Sonntag in der Kirche. Dorel war nicht da, es war nicht ihr Kirchtag. Also noch eine ganze Woche mußte er warten, nein, noch zwei Wochen mußte er warten, die nächste Woche gehörte Rosel.
Er wartete; sie kam, er sah sie. Ach, wie strahlte ihr Antlitz, als sie ihn erblickte! Wie nickte sie ihm zu! Unscheinbar und doch ganz deutlich. Welch ein Zauber überströmte ihn bei anscheinend so geringem Vorteile, bei einem bloßen Anblicke aus der Ferne! Und Huckauf hatte seinen entschlossenen Tag, er sang erbarmungslos. Wie überwältigend lieblich lachte Dorel in sich hinein! Alles stand also gut.
Und nun kam der Ausgang aus der Kirche, welche Seligkeit! Gewachsen war sie, voller geworden, ein quellendes Leben in der zierlichen Gestalt. Und wie verstand sie's, ganz nahe an ihm vorüberzukommen! »Dorel!« stammelte er kaum hörbar, und oh! lauter als er, wenn auch flüsternden Tones, sagte sie: »Willkommen!«
Dies Willkommen! schien ihm eine volle Entscheidung. Aber nein, sagte er sich später, das ist es noch nicht, es kann ja bloße Freundlichkeit sein, und du brauchst mehr. Morgen gleich suche die Entscheidung zu erringen, morgen ist ein Festtag, da fahren sie alle hinaus in den Wald.
Warum dieser Festtag? Niemand wußte es. Vielleicht war die Stadt einmal belagert worden und hatte obgesiegt. Kurz, an diesem Tage fuhr in jedem Jahre die wohlhabende Bürgerschaft gegen Süden hinaus in den sogenannten Hochwald und erlustigte sich in bescheidenen Grenzen. Man aß, man trank Bier und das junge Volk tanzte.
In der ganzen Stadt gab es keine Kutsche, sie fuhren alle in den obigen Flechtenwagen, selbst die Ratsherren. Denn die großen Ungetüme von Klosterwagen konnten nicht benützt werden. Die vier Stadtpferde hätten dabei gelitten, die schweren Kutschen eine ganze Stunde lang durch den sandigen Weg hinauszuschleppen.
Wie kam nun Wilhelm hinaus? Jetzt gab es keine Kameraden wie nach Stromau damals zum Doppelbier, jetzt gab es nur Bürgerfamilien, und diesen war er wildfremd. Er wollte sich rasch ein Reitpferd kaufen, welches er ja für die Landbauten brauchen konnte. Aber die Landbauten waren noch nicht da, und in der ganzen Stadt gab es kein Reitpferd. Er konnte also weder eins kaufen, noch eins mieten. Zu Fuße! rief er, und er ging zu Fuße.
Der Weg führte am Schießhause vorüber und am Kirchlein, wo des Wachmeisters Schinderhannes spukte. Dann ging es weithin durch eine verkrüppelte Baumallee neben dürftigen Getreideäckern zu dem Walde, welcher der Stadt gehörte. Nicht bloß hier gehörte ihr der Forst, sondern auch auf der anderen Seite der Stadt; er war von sehr großer Ausdehnung und bildete den Hauptbesitz der Stadt. Hier auf der Südseite war das Juwel des Stadtforstes, ein alter, sehr alter Bestand hohen Holzes, welcher seit Jahrhunderten geschont war. Was die französischen Seigneurs in ihrer Blütezeit la haute futaie nannten, das war hier das hohe Holz der Bürger. Hier gab es auch Laubholzbäume, während im ganzen übrigen Umfange auf sandigem Boden nur Schwarzholz wuchs. Deshalb nannte man diesen Hochwald das Juwel.
Die Wagen waren schon voraus, als Wilhelm an einem leicht bedeckten Frühlingstage neben den mageren Alleebäumen dahinwandelte. Er kannte den Weg von seiner Lehrzeit her, er hatte oft hier Bauholz abgeholt und Leseholz zurechtgemacht für das väterliche Haus. Denn jeder Hausbesitzer durfte sich abfallendes und auch junges Holz auf den Wagen laden. Er sollte zwar eigentlich keinen Stamm niederschlagen, aber nur die Säge war verboten, die Axt nicht, und die Axt wurde fleißig gebraucht zum bloß sogenannten Leseholze.
Wie gering auch die Landschaft war, er hörte doch über den Feldern die Lerchen singen und hörte wohl auch eine Wachtel schlagen, und wohlgemut kam er nach einer halben Stunde in den Wald, zunächst in jungen, spärlich aussehenden Kieferwald.
Rüstig schritt er weiter, fest entschlossen zu irgend einer Tat in betreff Dorels, und als er endlich unter die hohen Bäume in den wirklichen Hochwald trat, da schwoll ihm das Herz hoch auf. Außer Dorel liebte er die Bäume sehr.
Ein weiter, runder Platz öffnete sich vor ihm. Da saßen die Bürger nahe an den mächtigen Bäumen und aßen und tranken. In der Mitte aber war das Moos fortgeharkt, und da tanzten die jungen Leute schon. Er grüßte die Bürgersfrauen höflich; sie dankten ihm mit Zurückhaltung. Der neue junge Baumeister war ihnen noch fremd, und da er jung war, fand man es wohl natürlich, daß er zu den Tänzern ging. Dort sah er sich um und suchte und suchte – da war sie, das Dorel! Sie tanzte Kegelquadrille. Prächtig für ihn. Sie sah ihn nicht. Er schlängelte sich durch die Tanzgruppen bis zu ihrem Platze, und als sie ihre Tour abgetanzt hatte und auf ihren Platz gekommen war, da sah sie ihn und stieß einen kurzen Schrei aus. Ihr Tänzer fragte: »Warum –?« – »Nichts, nichts!« antwortet sie, »ein bißchen schiefgetreten bin ich, weiter nichts. Gehen Sie nur voran, ich komme gleich nach.«
Der Tanz war nämlich just zu Ende, und die Tanzjugend drängte sich wirr nach der Mitte zu.
Sie blieb stehen, und Wilhelm fragte besorgt: »Sie haben sich weh getan?«
»Nicht der Rede wert. Ich will mich nur einen Augenblick lang an einen Baum lehnen.«
So ging sie rückwärts an die hohen Bäume. Sie ging sogar ein paar Schritte hinein in den Hochwald, denn dort stand eine mächtige Linde, ganz geeignet zum Anlehnen.
»Ja,« sagte Wilhelm hochweise, »es ist eine Linde. Linden sind eine unerhörte Seltenheit im Walde, und gerade dieser seltene Baum wird Ihnen eine gute Stütze sein.«
Dorel wollte lachen, aber es gelang nicht, und sie fragte plötzlich, wie es ihm denn ergangen seit so langer Zeit?
»Gut, gut. Aber ich habe mich sehr nach Hause gesehnt.«
»Das wird wohl nicht so arg gewesen sein! Sie haben ja so viel sehen können, schöne Damen und lustige Mädchen, alle schöner als hierzulande.«
»Nein? Wer's glaubt! Besonders die blonden!«
»O nein! Wenn man ein Mädchen gefunden hat, dessen Bild uns ins Herz gedrungen, da sieht man die anderen gar nicht mehr.«
»Ach gehen Sie!« und sie ging einige Schritte weiter, wo die alten Linden noch enger standen.
Er folgte ihr, und mit klarem Mute wollte er nun mit der Sprache ganz heraus. Er sagte also: »Liebes Dorel, ich möchte morgen zu Ihren Eltern ins Haus kommen und da …«
»Ja nicht! ja nicht! Das würde alles verderben. Mein Vater ist schrecklich strenge gegen uns und gegen alle jungen Männer, die zu uns ins Haus kommen wollen. Nur den Walter für Lorel läßt er sich zur Not gefallen. Alle anderen jagt er fort.«
»Warum denn?«
»Er sagt immer, wir sollten fleißige alte Jungfern werden, das sei das beste für die dummen Mädel. Kommen Sie ja nicht!«
»Sie wollen also nicht –?«
»Ach ich! Wenn ich! Von mir ist ja gar nicht die Rede. Mir wär's schon recht –«
»Geben Sie mir die Hand darauf, daß es Ihnen schon recht wäre!«
Sie gab sie nicht. Er aber nahm sie und wollte die kleine Hand küssen – man tanzte im Hochwalde ohne Handschuhe – dagegen aber sträubte sie sich, das sei ja zuviel, sie ließ es aber doch zu, und dabei blickte sie ihm in die Augen mit einem Ausdrucke, so warm, so warm! daß er endlich im Begriffe stand, dies sprechende Auge zu küssen – da fuhr sie plötzlich zurück und rief mit gedämpfter Stimme: »Herr Gott, da kommt die Lore, die abscheuliche, die sucht uns. Dort, dort, rechts! Adje lieber Wilhelm! Gehen Sie links fort!«
Und wie eine Eidechse schlüpfte sie zwischen den Bäumen hinweg.
Das alles, seine ganze Jugend, seine erwachende Neigung zu diesem Mädchen, seine volle Liebe für Dorel ging jetzt an der Seele Wilhelm Schattens vorüber, während er da am Strome stand.
Gestern hatte sich die Szene im Hochwalde ereignet und hatte mit dem beglückenden »Lieber Wilhelm« geschlossen. Jetzt meinte er überzeugt sein zu dürfen, daß ihm Dorels Neigung gehöre, und jetzt wollte er handeln, rasch und nachdrücklich handeln trotz der abratenden Warnung Dorels.
Er rüttelte sich zusammen wie ein Mensch, der soeben viel erlebt hat und der nun seinen festen Entschluß faßt.
So ging er weiter, dem Strome den Rücken kehrend, ging nach links hinüber einem hohen Kreuze zu, wo der Fahrweg aus der Stadt kam und wo ein Seitenweg abzweigte nach Gelsendorf.
Auf einem Bauerngute in Gelsendorf hauste sein Vater. Er – meinte Wilhelm – müßte zuerst unterrichtet werden von dem großen Vorhaben seines Sohnes. Nicht weil er der Vater wäre, sondern weil er ein rücksichtsloser, jäher Mann war. Wenn der Alte anderswoher erführe, daß sein Sohn ein Bürgermädchen aus der Stadt heiraten wollte, dann war vorauszusehen, daß er aufbrausen, nach der Stadt stürmen und spektakelhaft dagegen protestieren würde. Denn der Alte haßte die Stadt und wollte seinen Sohn Wilhelm mit einem reichen Bauernmädchen verheiratet sehen. Er also mußte Wilhelms Absicht zuerst erfahren, damit sich sein Grimm innerhalb der eigenen vier Pfähle austoben könnte. Vielleicht fiel dann doch der Grimm zu Boden.