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Als Wilhelm zurückkam, hielt er beim Kirchlein still, und der Schwarzschimmel wieherte lustig einem Manne entgegen, welcher seinen Reiter begrüßte. Dieser Mann war der Apotheker Pottmer, welcher seine Glückwünsche aussprach zu der Heldentat gegen den wütenden Ochsen. Die Kunde davon sei wie ein Lauffeuer durch die Stadt geflogen.
»Sie schließen das Kirchlein nicht zu?« fragte Wilhelm.
»Nein. Unsere Kirchen bleiben immer offen, damit sich jedermann zu jeder Zeit an seinen Gott wenden kann, wenn er Trost braucht. Ist Ihr munteres Roß da von ruhiger Gemütsart? So daß sich auch ein schwacher Reiter auf ihm behaupten könnte?«
»Ja, es ist ein ganz ruhiges Tier. Wer möchte denn?«
»Er wird zu Ihnen kommen. Seien Sie freundlich! Ihre Stellung in der Stadt ist seit heute morgens eine günstigere und sie soll immer günstiger werden. Meine Glaubensgenossen sind alle für Sie. Jetzt leben Sie wohl! Ich habe als Ratsherr den Bau der Buden hier unter den Birken zu leiten.«
Die Birken waren eine junge Pflanzung. Dieser Trost der Russen, die Birke, gedeiht auch auf dürftigem Boden und in rauhem Klima. Sie gefiel auch dem Schwarzschimmel, und er wollte an den gelbgrünen Blättern naschen.
Wilhelm wehrte ihm nicht, weil ihm plötzlich ein Gedanke kam, dem er nachhing. Unter diesen Bäumen, sagte er sich, könnte es endlich doch geschehen. Hierher kommt alle Welt während des Schützenfestes. Wenn die jungen Mädchen oben im Schießhause getanzt haben, kommen sie herunter und gehen hier unter den Bäumen spazieren. Das wird auch Dorel tun, und hier wirst du sie ansprechen können.
Voll von diesem Gedanken ritt er rasch nach der Stadt, zum ersten Male wieder ganz heiteren Gemütes, da er ein bestimmtes, nahes Ziel vor sich sah. Es trug auch alles dazu bei, ihn heiter zu erhalten. Die Leute, welche ihm in der Stadt begegneten, waren ganz anders als sonst. Sie sahen freundlich zu ihm auf, und Bürger, welche ihn nie gegrüßt hatten, grüßten ihn heute. Der Kampf mit dem Ochsen hatte das bewirkt. Wenn der ausgebrochen wäre, was hätte er anrichten können, sagte sich jedermann.
Selbst Meister Lamprecht hatte sich bekehren müssen. Man hatte ihm erzählt, was während seiner Abwesenheit gedroht hatte, da Traugott fehlgeschlagen, und daß Herr Schatten wie ein rettender Engel mit Todesverachtung das drohende Unheil abgewendet. Das mußte doch auch Meister Lamprecht loben.
»Wenigstens!« sagte Frau Lamprechten vor sich hin.
Darauf hatte Herr Lamprecht die Zähne zusammen gebissen und eine Weile geschwiegen. »Gut,« hatte er endlich gesagt, »gut, ich will's glauben, und dann hab' ich ihm freilich unrecht getan. Aber Kinder dürfen zu ihrem Vater nicht sagen, daß er unrecht getan, auch wenn er unrecht hat, und ein Geselle, wie dieser Traugott, muß aus dem Hause. Heute noch, sobald dieser Ochse ausgeweidet und ausgehauen ist, schnürt er seinen Ranzen, hört Er! Still! Er hat unser redlich Handwerk verschimpfiert und es beschämen lassen durch einen Fremden. Und was diesen Fremden betrifft, den ich angefahren, so wird auch das Nötige bestellt werden. Punktum!«
Nun war er an die Ausweidung des Tieres gegangen mit all der festen Geschicklichkeit, welche ihm eigen war; hatte den Hals aufgeschlitzt, die Drossel freigelegt, die Speiseröhre von ihr abgelöst und gut zugeknöpft, hatte mit sicherem, langem Schnitt den Leib geöffnet, mit starker Faust unten das Schloß erbrochen und dann Wanst, Leber, Milz und Eingeweide beim Herausziehen so rasch durcheinandergeworfen, daß der scharf zuschauende Rabbiner nicht folgen konnte. Er muß nämlich entdecken, ob irgendwo etwas unregelmäßig aneinandergewachsen und deshalb nicht koscher ist. »Alles koscher!« hatte Lamprecht, jede Einwendung abschneidend, gerufen, und unter leisem Stöhnen hatte der eingeschüchterte Rabbi leise gesagt: »Koscher, koscher«. Er war ja auch sonst noch in Glaubensnot. Sein Speisegesetz verlangt eigentlich, daß das Tier nicht erschlagen Das jüdische Ritual verlangt, daß das Tier geschlachtet, nicht geschlagen werde. Der Ochse wird gefesselt, geworfen und geschlachtet, und zwar vom jüdischen approbierten Schächter. In der oben geschilderten kleinen Stadt fanden aber die zwei jüdischen Familien nicht die Mittel zur Ausführung dieser rituellen Forderung, und sie mußten froh sein, daß ihrem Rabbiner eine nachträgliche Koschererklärung gestattet wurde. Sie hätten sonst ganz auf Rindfleisch verzichten müssen., sondern mit dem Messer rasch getötet würde. Darauf ließen sich aber die Fleischer nicht ein wegen der paar Juden.
Jetzt, als der Aufbruch vollendet war und das Weitere dem Gesellen überlassen werden konnte, hatte sich der Wachmeister eingestellt, um vom Herrn Polizeiratmann die Zufriedenheit auszusprechen über die Gott sei Dank abgewendete Gefahr, welche sämtlichen Insassen gedroht von dem wütenden Ochsen.
»Ah, der Herr Wachmeister!« hatte der sich aufrichtende Lamprecht gesagt mit einem kuriosen Lächeln, »der Herr Wachmeister! Mit dem hab' ich ein vertrauliches Wort zu sprechen. Komm Er mit mir in die Hinterstube!«
Und ohne sich die blutigen Hände zu waschen und die Hemdärmel herunterzustreifen, war er vorausgegangen. Nicht ohne Besorgnis war ihm der Wachmeister gefolgt.
Als die Tür geschlossen war, hatte sich Lamprecht dicht vor ihn hingestellt und gesagt: »Er ist, weiß Gott! ein schöner Wachmeister! Wachmeister der Stadt! Er setzt ja die Stadt nichtswürdiger Beschimpfung aus! Still! Nicht mucksen! Der Zettel ist aufgeklärt, welcher nach Gelsendorf damals geschickt worden ist.«
»Der Zettel?« fragte zitternd und kaum hörbar Kiesel.
»Ja, der Zettel. Sein Junge, der Fritze, hat ihn geschrieben, hört Er?«
Kiesel meinte, in die Erde sinken zu müssen und hob die Hände wie zur Rettung.
»Ist Er denn des Teufels? Hetzt den groben Bauer uns Stadtverordneten auf den Hals mitten in der Sitzung, ein gemeiner Einbruch, der uns allen an den Kopf geflogen ist und mir noch insbesondere, denn der Mann hat mich – ich schäme mich, auszusprechen, wie er mich genannt hat. Und das alles durch einen wackligen Menschen, der von der Stadt bezahlt wird! Er ist am längsten Wachmeister gewesen, wenn ich es anzeige, daß er seinen Jungen da hinausgeschickt hat mit dem Zettel, weiß Er das?«
Kiesel würgte an dem erforderlichen »Ja«, aber es gelang ihm nicht, es herauszubringen.
»Bis jetzt weiß es niemand. Sobald ich's anzeige, wird Er schimpflich abgesetzt. Versteht Er mich?«
Kiesel verstand nur zu gut, und der Fleischhauer vor ihm mit blutigen Händen setzte ihn so in Schrecken, als sollt' er blutig hingerichtet werden. Er sank halb in die Knie und lallte: »Verzeihung!«
Lamprecht, mit der Wirkung zufrieden, riß ihn in die Höhe – leider verursachte das Blutspuren am Wachmeisterkleide – und fuhr fort: »Es wird auf Ihn ankommen, ob –«
»Oh!« schluchzte Kiesel, »was ich kann« – er hätte sich zur Tötung seines Isaak, das heißt seines Fritze, verpflichtet, wenn es der blutige Fleischer gefordert hätte.
»Also,« fuhr dieser fort, »wir werden ja sehen, ich will's abwarten, wie Er sich benimmt. Ich bin natürlich auch kein Freund des alten Schatten und will, daß diese Familie, Vater und Sohn, öffentlich gestraft wird. Er muß es deshalb von jetzt an zu seiner Dienstpflicht machen, die beiden Schatten Tag und Nacht zu beobachten und mir alles zu hinterbringen, was sie vorhaben. Wenn Er geschickt zusieht und zuhört, so wird sich daraus wohl ein Strick drehen lassen, der sie garstig kitzelt. Wird Er?«
»Tag und Nacht!« stöhnte Kiesel.
»Wir werden ja sehen. Jetzt geh' er zu dem jungen Schatten hinüber und richt' Er aus von mir, Fleischermeister Lamprecht habe hinterher erfahren, daß er wegen des Ochsen dem Herrn Baumeister unrecht getan, und er ließe dafür sich entschuldigen.«
Der Wachmeister riß den Mund und die Augen auf, wie große Fragezeichen – das war ihm zu hoch.
»Lass' Er sich dadurch nicht irremachen. Das ist eine Nebensache. Die Hauptsache bleibt bestehen, und wir wollen sehen, was Er für die Hauptsache leisten wird.«
Leider war es so; das Rachegelüste blieb die Hauptsache. Lamprecht war ein ehrsamer Bürger, welcher aus Rechtlichkeit sein Unrecht eingestand, aber er war auch ein Mensch. Als solcher hatte er seine Schwäche, und hier äußerte sie sich darin, daß er um so tiefer dem Grimme unterlag, weil er aus Ehrenhaftigkeit dem Feinde eingestehen mußte: Ich bin im Unrecht gegen dich. Er war jetzt erbitterter als je gegen den Schatten Wilhelm.
Wilhelm erfuhr davon nichts und wurde nur erhöht in seiner erwachenden Lebenszuversicht, als der Wachmeister ihm ausrichtete: Herr Lamprecht ließe sich entschuldigen.
Der Wachmeister fand Wilhelm im Pferdestalle und sah ganz erstaunt zu, als dieser sein Roß lachend kitzelte, so daß es schrie und mit dem Kopfe nach ihm schnappte. Er wußte nichts davon, daß der Mensch anderswo Teilnahme sucht, wenn die Menschen ihm selbige verweigern. Man flüchtet zu den Tieren, denn man braucht einen Austausch von Zutrauen. Und dieser Schwarzblau – so nannte ihn Wilhelm – mit den großen Augen und der dicken, kohlschwarzen Stirnlocke war so zutunlich, so spiellustig und war so dankbar für kleine Stücke Zucker, daß Wilhelm eine ganz artige Zärtlichkeitsszene mit ihm aufführen konnte. Er führte sie auf, um einem zuschauenden Herrn zu beweisen, Schwarzblau sei ein Muster von Zahmheit und Umgangsfähigkeit.
Dieser zuschauende Herr war der Ratmann – so nannten sie sich bescheiden, nicht Ratsherren – für Einsammlung der Akzise, übrigens ein Nadlermeister mit Namen Klaus. Er war auch diesjähriger Schützenhauptmann, und auf Zureden des Apothekers Pottmer war er zu Wilhelm gekommen mit der Anfrage, ob ihm dieser sein Pferd leihen wollte zum bevorstehenden Ausmarsche der Schützengilde. Ein Schützenhauptmann zu Pferde war das Ideal der Stadt, seit Menschengedenken unerreichbar, und jetzt war Herr Klaus Hauptmann, ein so stattlicher Mann! Frau Klaus war eine Verehrerin ihres schön gewachsenen Mannes, und sie bestand unerbittlich darauf, er müsse, den blanken Degen in der Hand, beim Ausmarsche reiten. Die ganze Stadt sollte staunend erkennen, wie schön und vornehm ihr Ratmann aussehe. Herr Klaus war nicht leidenschaftlich eingenommen für diese Kraftprobe, aber er war eitel; er achtete auch außerdem auf die Wünsche seiner Gattin und war gekommen, sich von den artigen Eigenschaften des fraglichen Rosses persönlich zu überzeugen. Solch vertrauter Umgang des Tieres mit Wilhelm machte ihm denn auch einen ermutigenden Eindruck, und man kam überein, daß zunächst ein Proberitt gewagt werden sollte. »Ein Kind kann meinen Schwarzblau reiten«, hatte schließlich Wilhelm gesagt, und Herr Klaus hatte bescheiden geäußert: »Ein Kind bin ich auch im Reiten, ich habe nie auf einem Pferde gesessen.«
Wilhelm in seiner guten Stimmung war äußerst geneigt, sich gefällig zu erweisen, und schlug dem Ratsherrn vor, ihn ein wenig einzuschulen durch Probereiten.
»Wo denn, Herr Wachmeister?« fragte der etwas aufgeregte Herr Klaus.
»Auf der Viehweide draußen, Herr Ratmann. Die ist eben und hat kurzes Gras. Die Kühe haben alles abgefressen.«
»Gut; also morgen früh um sechs, da sind die Kühe noch nicht da, und der Stadtwachmeister wird Sorge tragen, daß etwaige Passanten abgelenkt werden. Es ist eine Angelegenheit der Stadt, und da ich, wie gesagt, kein Reiter bin, so wünscht man doch nicht, daß ich als Standesperson etwa gar –«
»O! werde nicht ermangeln, Herr Ratmann, jeden Zuschauer abzuweisen«, sprach salutierend Kiesel.
»Unbesorgt, Herr Klaus,« sagte Wilhelm, »ich bin auch kein gelernter Reiter und finde doch gar keine Schwierigkeit mit meinem Schwarzblau. Ich hab' nur in der Jugend mitunter die Pferde meines Vaters in die Schwemme und auf die Weide geritten und sitze leidlich fest.«
»Das ist's eben: fest sitzen,« sagte Herr Klaus im Fortgehen; »also morgen, dann je nachdem; denn einem Malheur darf ich mich doch als Ratmann und im Interesse der Stadt nicht aussetzen. Wir werden ja sehen.«
Der Wachmeister folgte ihm nachdenklich. Nachdenklich, denn wenn der junge Schatten so vertraut wurde mit den Ratsherren, wo sollte denn da die Schuld herkommen für den Grimm Lamprechts?«
Pflichtschuldigst holte er aber doch in der Morgenfrühe den Ratsherrn Klaus ab. Dieser hatte eine unruhige Nacht gehabt und halsbrecherische Träume. Mit Zucker ausgerüstet – denn dies hatte er seiner Frau anvertraut – spazierte er, sich herzhaft gerade haltend, zur Viehweide hinaus, des Wachmeisters ergebene Bemerkungen über Kunstgriffe beim Reiten etwas ungläubig anhörend, denn man traute den militärischen Erinnerungen, welche Kiesel gern durchschimmern ließ, durchaus nicht.
Da lag die Viehweide in grauem Grün vor ihnen. Die Sonne glitzerte durch leichte Wolken, es war ein anmutiger Morgen. Schwermütig sah sich Herr Klaus um, ob auch wirklich kein Zuschauer zu fürchten wäre. Niemand. Ein Nußhäher – Eichelkäbsch hier genannt – flog schreiend vorüber. Das war niemand. Nur der kurze Rasen gefiel ihm nicht, er war naß vom Morgentau. Man konnte nicht wissen, ob man nicht in nähere Berührung mit ihm – ah, da kommt endlich der Baumeister vom Schießhause herüber. Er kommt im Galopp; das gefiel Klaus nicht, das Pferd sollte nicht an so heftige Sprünge gewöhnt werden, das könnte – und nun wieherte Schwarzblau auch noch, als er die beiden sah! Das Tier regt sich leicht auf, das ist nicht gut.
Begrüßung folgte, und Klaus bot mit einiger Vorsicht dem Schwarzblau ein Stück Zucker. Er nahm es ohne Zögern und zerknirschte es. Das ermunterte Klaus.
»Stellung nehmen!« rief Wilhelm, der ganz fröhlich war, »links vom Pferde! Fuß in den Bügel setzen.«
Da trat aber der Ratsherr befremdet einen Schritt zurück und sagte mit unsicherer Stimme: »Das Pferd ist ja ein Hengst! Das sind die wildesten Pferde.«
»O nein. Höchstens wenn sie mit anderen Pferden in Berührung kommen. Sie reiten ja allein und begegnen keinem Pferde. Also aufsteigen! ich halte vorn den Schwarzblau. Wachmeister, rechts hinüber! Den Steigbügel halten, daß der Sattelgurt nicht rutscht; der Herr hat Gewicht.«
Herr Klaus erhob nicht ohne Anstrengung das Bein zum Steigbügel hinauf und beging dabei sogleich den ersten Fehler. Er brachte nämlich fehlerhaft das rechte Bein in den Steigbügel, und als er sich mühsam hinüberschwingen wollte, gab's keinen andern Weg, als über den Hals des Pferdes. Schwarzblau, der sich an ungewöhnlicher Stelle gestreift fühlte – das Bein des Ratsherrn hatte sich nicht hoch genug geschwungen – fuhr zusammen und machte einen Schritt vorwärts. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit Wilhelms vorn beim Pferde festgehalten, und er wurde den Irrtum mit dem Beine nicht gewahr; der Ratsherr erlitt aber eine leichte Erschütterung. Er hielt sie standhaft aus, brachte das linke Bein glücklich hinüber und saß im Sattel. Aufatmend, bemerkte er jedoch nicht ohne Scharfsinn sogleich, daß nicht alles in Ordnung sein könnte, denn sein Antlitz war dem Hinterteile des Pferdes und dem Schweife zugekehrt, mit welchem Schwarzblau wie triumphierend fuchtelte. Mit einem Worte: er saß verkehrt. Selbst der Wachmeister konnte das Lachen nicht verbergen, und Herr Klaus rief, da er eine Wendung des Kopfes nicht wagte, nach Wilhelm.
Wilhelm lachte aus vollem Halse, als er die merkwürdige Lage des Reiters sah, und sprach: »Ich allein bin schuld, ich hätt' es Ihnen sagen sollen. Sie sind mit dem rechten Bein in den Steigbügel gestiegen.«
»Das mag wohl sein.«
»Es muß mit dem linken geschehen. Also wieder herunter!« Das war nicht so leicht. Der Wachmeister schob von der einen Seite, Wilhelm zog von der andern, und so kam der Ratsherr auf die Viehweide nur in den Knien scharf zusammenknickend.
Nun war er verstimmt. Er pausierte. Obwohl kein Römer, glaubte er doch an Vorbedeutung. Wenn seine Frau nicht gewesen wäre, dann – aber Wilhelm sprach ihm gut zu, er hob endlich das linke Bein, Wilhelm stützte und hob, so kam er richtig in den Sattel und sah nach vorwärts. Es schmeichelte ihm, daß Wilhelm Bravo! rief.
Jetzt folgte Belehrung: die Zügelführung und der Schluß mit Schenkel und Wade. Herr Klaus fand das verwirrend. Und doch war es schon vereinfacht. Schwarzblau trug nur eine Trense. Den vierfachen Zügel einer Kandare, von welchem der Wachmeister als verschönernd sprach, lehnte Klaus mit Entrüstung ab. Endlich war er mit dem einfachen Trensenzügel in hoffnungsvoller Ordnung. »Aber nein!« rief er plötzlich, »die linke Hand brauch' ich doch, um mich irgendwo anzuklammem, wenn ich in Gefahr komme, denn in der rechten Hand muß ich ja den blanken Degen halten als Hauptmann.«
»Den blanken Degen läßt man einmal weg«, bemerkte tröstend Kiesel.
»Das verstehen Sie nicht, obwohl Sie immer mit militärischer Wissenschaft prahlen. Sie sind ja nachweislich nicht einmal Infanterist gewesen, viel weniger Kavallerist. Der Degen ist für den Hauptmann so unerläßlich, wie das Zepter für den König.«
»Sie werden aber ja gar nicht in solche Gefahr kommen«, sprach Wilhelm. »Sie reiten ja nur Schritt, und Schwarzblau geht einen ruhigen, regelmäßigen Schritt. Fangen wir nur an! Drücken Sie die Schenkel an das Pferd, dann geht es vorwärts.«
»Beide?«
»Beide; aber mäßig. Bei zu starkem Drucke trabt es.«
»Um Gottes willen!«
»Ich gehe vorn nebenher, dadurch bleibt es im Schritt. Also drücken!«
Herr Klaus drückte mit vorsichtiger Angst. Er fand, daß auch dies schon sein Gleichgewicht erschütterte, und als Schwarzblau nun fortschritt, fühlte er sich so bewegt, daß er kurzweg den Entschluß faßte, das ganze Wagnis aufzugeben. Mit einer Stimme, welche unter der Körperbewegung wie zerhackt klang, rief er diesen Entschluß zu Wilhelm hinab.
»Warum nicht gar! Sie sitzen ja wie ein Regimentskommandant, geradezu befehlshaberisch.«
»Finden Sie?« Und er faßte sich. Er fing auch wirklich an, Sicherheit zu gewinnen bei dem gleichmäßigen Schritte des Pferdes. Er atmete auf. Erst nach glücklichen fünf Minuten schrie er wieder auf: »Herrgott, wir reiten ja in die Mordlache hinein!«
»Nein, hier wenden wir.« Dies sagend, nahm Wilhelm das Pferd beim Zügel und wendete es rückwärts. Ganz glatt ging diese Wendung nicht vorüber am Sitze des Reiters, und er wollte schon nach der Mähne Schwarzblaus greifen, aber es wurde nicht nötig, und ein neues Bravo Wilhelms wirkte nochmals ermunternd.
So trieb man's hin und her mehr als eine Viertelstunde lang. Der Ratsherr fand allmählich, daß er sich unnötig geängstigt, und fing leichtsinnig ein Gespräch an mit Wilhelm. Dadurch veranlaßte er aber Wilhelm, die Zügel loszulassen und ein paar Schritte rückwärts zu treten. Schwarzblau sah sich sofort nach ihm um, wollte zu ihm und machte demgemäß Kehrt in jäher Weise. Dies Kehrt hatte die unmittelbare Folge, daß der Ratsherr aus dem Sitze gehoben wurde und in seiner ganzen Leibeslänge hinunterpurzelte.
Da lag er auf dem Rasen, welcher immer noch feucht war. Nein, nach sofortiger Anstrengung mit Armen und Beinen saß er bloß. Aber sein Antlitz sprach von einer schmerzlichen Enttäuschung.
Wilhelm und Kiesel sprangen hinzu und halfen ihm auf die Beine.
»Nichts ist's!« rief der Wachmeister, »nichts ist's! Alle Gliedmaßen in Ordnung, weicher, feuchter Boden«, und nur ein verächtlicher Blick des Verunglückten stopfte die vorlaute Rede.
»Ach, ich bin ja wieder schuld«, sagte Wilhelm. »Ich bin rasch zur Seite getreten und habe das Pferd erschreckt und herumgelockt. Solch ein jäher Ruck bringt den besten Reiter aus dem Sattel und kann ja beim Schützenmarsch gar nicht vorkommen. Sie haben sich dabei vor so manchem Reiter ausgezeichnet, indem Sie sich sogleich beider Bügel entledigt haben. Denn wenn man mit einem Fuße im Bügel bleibt, so stürzt man mit dem Kopfe zuerst auf die Erde und wird geschleift. Munter! Munter! Ich bin zu Anfänge unzählige Male heruntergefallen, und das ist nötig, ja wohl nötig, sonst wird man nicht vorsichtig.«
Der Ratsherr sah zwar sauer zu solcher Rede und beklagte sich über die Feuchtigkeit hinten, ließ sich aber wieder hinaufhelfen, sachgemäß hervorhebend, daß nun auch der Sattel naß würde.
»Sie sitzen dadurch fester,« sagte leichthin Wilhelm, »und eben kommt die Sonne hervor; sie trocknet. Vorwärts mit bewährter Tapferkeit!«
Nun ging's wohl eine halbe Stunde unter seinem Vortritte weiter, kein Schwanken trat ein, und Herr Klaus kam in eine gehobene Stimmung. Am Ende pfiff er gar den seit einem Jahrhundert bekannten Schützenmarsch vor sich hin. Jetzt kamen jedoch die ersten Kühe auf die Viehweide und blieben verwundert vor dem nie gesehenen Schauspiele stehen. Auch Schwarzblau hob den Kopf und rüttelte sich. »Halt!« rief Herr Klaus.
»Ziehen Sie den Zügel an!«
»Wie denn?«
»Nach dem Bauche zu, und schwach, schwach! Sonst erschrickt er, so!«
Es gelang, und Herr Klaus war mit Recht stolz auf den Erfolg: Schwarzblau blieb stehen. »Schließen wir heute angesichts des Rindviehs«, sagte er und stieg ganz selbständig, beinahe glatt, vom Rosse unter Applaus der beiden Zuschauer.
Unten gestand er mit einem einnehmenden Lächeln, daß er doch wie gerädert wäre.
»Das wird morgen und übermorgen noch ärger,« sagte Wilhelm, »aber dadurch werden die Beine geschmeidiger.«
»Soll ich nicht morgen den Hooraz bestellen mit der großen Trommel?« fragte der immer übel beratene Wachmeister, welcher die eigentümliche Geschicklichkeit besaß, stets verstimmend einzugreifen. Seine näheren Bekannten nannten ihn auch deshalb den ewigen Pechvogel.
Jetzt hatte er mit seiner Frage den Ratsherrn fast vernichtet. »Die große Trommel?!« schrie er. »Allmächtiger! und dicht vor dem Pferde?!«
»Ja, verehrter Herr Ratmann, beim Ausmarsche zieht doch der Stadtpfeifer mit der Musika dicht vor dem Herrn Hauptmann einher, und da macht die große Trommel –«
»Nein!« unterbrach Wilhelm, »das ist bedacht, und da wird vorgesorgt. Erstens pfeift und trommelt der Stadtpfeifer schon seit acht Tagen draußen im Klosterbusche, um seine Märsche einzuüben, und ich bin mehrmals vorbeigeritten, dicht vorbei. Schwarzblau hob den Kopf und wieherte, aber er zuckte nicht; er zuckte nicht im mindesten, Herr Senator. Es ist offenbar ein Husarenpferd, an Kriegsmusik gewöhnt. Und zweitens werden wir ja leicht eine kleine Änderung für die Anordnung des Zuges durchsetzen. Es ist ohnehin falsch, daß der Hauptmann bisher immer gleich hinter der Musik marschiert ist. Dorthin gehört er nicht, dorthin gehören die Fouriere. Warum hießen sie denn Fouriere? Sie sollen Quartier machen, müssen also die ersten sein. Nun bin ich gestern eingetreten ins Schützenkorps und zwar, wie es einem Jüngsten zukommt, unter die Fouriere. Da werd' ich in der letzten Reihe marschieren, und dicht hinter mir wird der Hauptmann reiten. Schwarzblau wird mich also immer dicht vor sich sehen und wird mir ruhig folgen. Wir haben noch drei Tage vor dem Ausmarsche vor uns; am dritten Tage kann allenfalls der Hooraz kommen mit der Trommel zur Beruhigung des Herrn Senators, aber wir werden sehen, daß es ein Luxus ist.«
Das war ein dankbarer Blick, welchen der Ratsherr Wilhelm schenkte, und ein siegreich verachtender, welcher Kiesel traf.
»Ich setz' es durch mit den Fourieren,« sagte Herr Klaus, »ich setz' es gewiß durch. Sonst sollen sie sich einen andern Hauptmann suchen, der reiten kann. Es kann's keiner!«
»Keiner!« klang das zweistimmige Echo.
Endlich – was lange nötig gewesen – zog Herr Klaus zur Schneuzung seiner Nase sein baumwollenes Schnupftuch aus der hinteren Rocktasche hervor und stieß einen nachträglich erschreckenden Schrei aus.
»Was denn?!«
»Mehl! blankes Mehl! Ich habe den Zucker vergessen, welchen meine vorsorgliche Frau in die hintere Tasche gesteckt, der ist zu Mehl zersessen!«
»Und 's ist ohne ihn gegangen!«
»Richtig. Morgen aber wird Schwarzblau öfter gelabt, da wird's noch leichter gehn.«
Händedruck, Abschied. Wilhelm ritt über Land; der Wachmeister wollte den Umweg am Schießhause vorübergehen, weil ihm ein wichtiger Gedanke aufgeschossen war, den er ausdenken mußte; der Ratsherr allein schritt geradeaus nach der Stadt. Er knickte ein wenig in den Knien, aber er war doch recht zufrieden mit sich. Seine Frau werde staunen.
Der Wachmeister hatte Schlimmes vor. Mit Schmerz war er eingedenk, was Lamprecht von ihm verlangt hatte: die Ruinierung der beiden Schatten. Gestern im Pferdestalle hatte er die Aufgabe für unlösbar erachtet; heute meinte er: Du hast Grund und Boden dafür gefunden. Verkünde es sogleich!
Er fand den Meister Lamprecht im Hofe, wo er seine Ställe untersuchte, insbesondere ob seine Schweine Fett genug ansetzten. Er war allein, Kiesel konnte also frei mit der Sprache heraus.
Sie ging dahin: der Schatten Wilhelm führt den Ratsherrn Klaus zu einer nie dagewesenen Blamage. Er setzt ihn auf sein leicht bewegliches Pferd, und der Ratsherr kann nicht im mindesten reiten. Er wird als Hauptmann schmählich herunterfallen oder irgend ein anderes lächerliches Spektakulum anrichten. Die ganze Stadt wird darüber von der ganzen Welt schnöde ausgelacht werden, und wer wird schuld daran sein, wen wird man's aufs bitterste entgelten lassen: Schatten junior. Fort mit ihm aus der Stadt, wird man einstimmig rufen.
Lamprecht sah ihn eine Weile schweigend an. Endlich sagte er: »Er ist und bleibt doch ein – Also ein Stadtwachmeister faselt daher: Mich könnte es freuen, wenn meine Vaterstadt ausgelacht wird! Unglaublich! Hat er denn gar kein Herz für die Bürgerschaft, obwohl er noch obendrein bezahlt wird? Das ist meiner Seele stark, ja niederträchtig. Und ist auch dumm. Der Schatten Wilhelm ist ein gescheiter Kerl, der wird nichts unternehmen, was zu seinem Schaden ausschlagen muß, und der Klaus ist ein kräftiger gewandter Mann, der wird auch das bißchen Reiten erlernen. Geh er zum Teufel, er ist und bleibt ein Esel, und wenn er nicht bald was Besseres zum Vorschein bringt, dann kommt der Zettel zum Vorschein.«
Schwer beleidigt, aber machtlos schlich Kiesel von dannen, der überall verkannte Kiesel. »Sie hat mich damals verführt,« dachte er vor sich hin, »sie hat mich in diese scheußliche Lage gebracht!« Und halblaut murmelte er: »Die verfluchte Leberwurst!«
Lamprecht seinerseits war auch auf Gedanken gekommen, er rief durchs offene Fenster hinein nach seiner Frau. »Wenn die Flunkerei mit dem Reiten gelingt,« dachte er, »dann ist dieser junge Schatten obenauf in der Stadt, dann wird alle Welt ihn loben. Dem muß ein Riegel vorgeschoben werden!«
Die damalige Erzählung Lorels von der Zusammenkunft Dorels im Hochwalde mit dem »propper« aussehenden jungen Menschen – propper nannte er ihn mit Widerstreben – war ihm nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Ebensowenig Kellers Rede am Wassertore, welche auf eine Liebschaft des Mädchens mit dem jungen Schatten angespielt hatte. Dann Dorels Benehmen, als ihr der Julius zur Heirat angeboten wurde. Wie trotzig hatte sie, ersichtlich ungern, nichts gesagt, als: »Meinethalben!« Und seit der Zeit, wie schlecht war das Mädel gelaunt! Fast immer stockstill, auch wenn der Julius da war, welchem sie kaum eine Antwort gibt. Und zuletzt nach dem Ochsenschlage, mit welchem Tone hatte sie gerufen, der leibliche Vater hätte unrecht gegen den fremden Menschen – es war sonnenklar, hier spuke eine hartnäckige Verliebtheit und hier müsse ein Riegel vorgeschoben werden.
Das alles sagte er jetzt seiner Frau mitten im Hofe, und die Frau, welche ja noch klüger war als er, sie sagte nicht nein. »Also,« schloß er, »so mag's denn geschehen, da ich mich doch einmal hergegeben habe zum Verheiraten der Mädel, so mag's denn vor sich gehen.«
»Was denn?«
»Am ersten Sonntag nach dem Schützenfeste das erste Aufgebot der Lore und des Walter, und in einem Atemzuge hinterdrein auch das erste Aufgebot der Dorel und des Julius.«
»Ah!«
»Ja. Drei Wochen darauf beide Hochzeiten an einem Tage. So wird der Riegel fertig, und wir sind die Geschichte los.«
»Hochzeiten im Sommer?«
»Im Sommer. Danach fragt man nicht, wenns Feuer auf die Nägel brennt. Punktum!«