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Bis um Mitternacht hatte Wilhelm gearbeitet, und jetzt arbeitete er den ganzen Vormittag bis gegen zwölf, Riß, Fassade, Voranschläge waren fertig, und er wollte sie gleich nach Tische dem Herrn Baron vorlegen, um heute beizeiten im Schießhause zu sein. Denn der zweite Tag des Festes war der munterste, und die Familie Lamprecht werde zeitig da sein, um alle Glückwünsche entgegenzunehmen. So war der Brauch.
Leider speiste der Baron später, und dann hielt er ihn ungebührlich auf. Er rief den Bürgermeister herbei, um ihm namentlich die Fassade zu zeigen, welche ihm sehr gefiel. »Fast zu schön für einen Spittel«, sagte der Bürgermeister, den städtischen Ausdruck für Hospital gebrauchend.
»Nein,« sagte der Baron, »man soll die Armut auch durch Schönheit erquicken. Schönheit ist das seltenste, was ihr im traurigen Leben begegnet. Die Armen sollen sich freuen, wenn sie das Haus ihrer letzten Tage, wenn sie die Fassade des Hospitals betrachten.«
Er war äußerst zufrieden mit der Arbeit, und Wilhelm bedauerte nur, daß er ihn erst gegen 3 Uhr fortließ. Mit raschesten Schritten eilte er nun hinaus.
Dieser zweite Tag war der belebteste des Schützenfestes. Da kamen die Gutsbesitzer aus naher und ferner Umgegend zum Besuche, die sogenannten Rittergutsbesitzer. Diese sind eine Eigentümlichkeit in Preußen, und zwar eine wichtige Eigentümlichkeit. Friedrich der Große hat sie dazu gemacht, indem er sein Offizierkorps immer und immer wieder aus ihnen ergänzte, so daß sie sich allmählich für geborene Offiziere ansahen. Das ist heute noch so, sie sind der Grundstock der preußischen Armee und des preußischen Patriotismus, und sie hatten dies erst noch vor einigen Jahren bewährt in der unglücklichen Schlacht bei Jena. In der Nebenschlacht bei Auerstädt hatten sie als unerschrockene Reiter wie aus dem Exerzierplatze todesmutig angegriffen und gefochten. In den Staaten, welche zahlreichen Hochadel haben, nennt man sie wohl »die Herrn von«, weil ihr Adelsrang nicht bis zum Baron hinaufreicht und ihre Landgüter klein sind, mitunter nicht mehr als 30,000 Taler an Wert, ja in Österreich hat man im Umgange jedem gebildeten Manne den Zusatz »von« gewährt; aber dieser sogenannte kleine Adel in Preußen hat seinem Staate seit Jahrhunderten größere Dienste geleistet, als der große Adel anderwärts. Er besitzt auch ein dementsprechendes Selbstgefühl, und wenn er zum Wollmarkte oder zur Unterhaltung nach Berlin reist, so pflegt er zu sagen: »Ich besuche meinen König.« Denn sie finden leicht Zutritt im Königsschlosse.
Er war diesmal zahlreich vertreten im Honoratiorensaale des Schießhauses und hatte einen gewissen vornehmen Stil mitgebracht. Er bewegt sich nämlich durchweg in den Formen eines höflichen Offiziers. Namentlich fand ein Jüngling in der knappen Uniform eines schwarzen Husaren gerechten Anwert bei den jungen Damen. Er tanzte unablässig.
»Es geht heut' vornehm zu,« sagte Keller zu seiner Frau unter dem Schwibbogen, welcher Tanz- und Honoratiorensaal verbindet, »sieh' nur, wie verändert Lamprecht dasitzt und sich benimmt.«
Er saß nämlich heute kraft seiner Königswürde samt den Seinigen inmitten des Honoratiorensaales. Die Mädchen wurden zu jedem Tanze geholt; der Husarenoffizier holte Dorel schon zum zweiten Male. Sie sah auch bezaubernd aus: lange Locken fielen auf ihre runden Schultern herab, und der schalkhafte Zug um den Mund, welcher so lange gefehlt, war wieder da mit all seinem Reize. Sie schien ganz vergnügt zu sein, und dies veranlaßte Keller zu der Äußerung: »Wirst du klug aus dem Mädel?«
»Nein,« sagte die Frau, »ich nicht.«
Lamprecht selbst aber hielt eine Art von Cour. Die Bürger benützten die Gelegenheit, auch einmal in den Honoratiorensaal zu kommen, und unter der gegenseitigen Versicherung: »Diesmal hat das Glück den richtigen König getroffen«, erschienen sie bei ihm wie zur Huldigung.
Er war etwas blaß vom Schwelgen in der Nacht, das veredelte sein Antlitz, und er hatte heute in der Tat eine nahezu feierliche Haltung. Es schien ein großer Entschluß in ihm zu walten. Nur seine Frau litt dabei, denn er drückte keinem Bürger die Hand, ohne ihm etwas zu versprechen oder in Aussicht zu stellen. Seine Freigebigkeit stand in vollem Flor und kleidete ihn sehr gut. Beim noblen Schuhmacher bestellte er ein Paar neue Glanzstiefel, welche er – das wußte sie ja genau! – gar nicht brauchte. Und nun gar der kluge Kürschner! Der erzählte ihm, daß er neulich auf der alten Stadtmauer einen prächtigen Edelmarder gefangen im Tellereisen.
»Also einen Mardermuff, Herr Gevatter, für meine Frau!« – Gevatter war der vorherrschende Titel, welchen man sich antat, und er paßte fast überall. – »Und Fuchsmuffe für meine Mädel!«
»Aber Pelzwaren mitten im Sommer!« flüsterte seine Frau.
Da fuhr plötzlich Lamprecht kerzengerade in die Höhe. Was ist? Schatten Wilhelm ist im Saale erschienen, und Lamprecht will auf ihn zu – aber die Frau hält ihn an der Hand zurück und sagt: »Hier nicht, August!«
»Nein!« antwortete er ebenso leise, »hier nicht. Aber morgen gehst du zum Herrn Primarius und machst die Bestellung.«
Wilhelm sah, nicht ohne einen kleinen Stich im Herzen, daß der brillante schwarze Husar soeben Dorel zu ihrem Sitze brachte und, die Sporen aneinanderschlagend, ihr ein Kompliment machte, hörte jedoch gleichzeitig rechts hinter sich seinen Namen leise rufen. Er sah sich um; es war Keller, der Pfefferküchler, welcher ihn zu sich winkte. Aber der Herr Baron war auch schon da und wollte Wilhelm mehrere Rittergutsbesitzer vorstellen; das würde neue Bauten eintragen. Da mußte er wohl folgen. Als er sich endlich wieder umsehen konnte, erblickte er Keller noch auf derselben Stelle, und dieser winkte wiederum. »Was gibt's denn?« Er ging zu ihm. »Was gibt's?«
»Kommen Sie nur! Unten erst kann ich's Ihnen sagen.«
Auf der Treppe rauschte Amélie am Arme des Referendarius Julius an ihnen vorüber, lachend und lebhaft.
»Die beiden könnten uns noch gute Dienste leisten«, sagte Keller.
»Was denn? Wie denn? Ich verstehe Sie nicht.«
»Sehen Sie nur, wie vertraulich die beiden ins Birkenwäldchen laufen! Aber deshalb hab' ich Sie nicht gerufen. Kommen Sie nur weiter! Es braucht uns niemand zu hören.«
Als ihn nun Keller bis in die Nähe des katholischen Kirchleins geführt, blieb er endlich stehen und sprach: »Lieber Freund, Sie sollen sich heute durchaus nicht zu den Lamprechts drängen, nein, Sie sollen ihnen aus dem Wege gehn.«
»Warum denn?«
»Der Lamprecht hat gestern abends beim Schmause etwas gesagt, was Sie angeht. Kommen Sie heute in Dorels oder in seine Nähe, so kann er platzen, Sie öffentlich bloßstellen und alles verschütten, wenn noch etwas zu verschütten ist. Vielleicht, vielleicht ist doch noch eine Hoffnung übrig. Denn der Julius, den wir eben mit dem lustigen Mädchen gesehen, der ist – ich weiß es – auch eine lustige Fliege. Kurzum, ich glaube, er kriegt am Ende doch die Dorel nicht.«
»Was? Julius die Dorel?!«
»Ja, Lieber. Und 's wird wohl zu spät sein, dagegen zu arbeiten, denn heut' ist schon Donnerstag. Sie, schweigsamer Herr, Sie haben mir eben nie ein Wort darüber vergönnt, deshalb mußte auch ich schweigen, und Sie haben Ihren Mittagstisch nicht mehr bei der redseligen Frau Stützer, deshalb haben Sie denn nicht erfahren, was vorgeht. Mir scheint, Sie wissen's wirklich nicht.«
»Was denn?«
»Daß Lamprecht seine Dorel diesem Julius bestimmt hat.«
»Ach was!«
»Nicht ach was, als ob das weite Wege hätte, nein. Hören Sie nur! Gestern abend hat er es an der Tafel angekündigt: nächsten Sonntag, also nach drei Tagen, werden die Dorel und der Referendarius Julius in der Kirche als Brautleute aufgeboten.«
Wilhelm prallte einen Schritt zurück, es stand ihm kein Laut zu Gebote. Davon hatte er keine Ahnung gehabt. Das war ein Schlag, welcher ihn zerschmetterte, und erst nach langer Pause stotterte er: »Das hat der …?«
»Das hat der Vater Lamprecht angekündigt. Und in einem Tone – seit er König geworden, spricht er hoch – in einem so bestimmten Tone, als ob es ein Evangelium wäre.«
»Um Gottes willen, Keller?! Und sehen Sie doch nur die Dorel an! Sie ist seelenvergnügt, sie lächelt – sie ist damit einverstanden.«
»Sie lächelt. – Ja. Das tat sie auch gestern abends, und ich dachte, ich Tor! – Die Hand, welche ich ihr darbot, die hat sie nicht angenommen, sie hat nur gelächelt.«
»Weil sie zustimmt zum Aufgebote und zur Heirat, und weil sie sonst nichts kümmert.«
»Verloren! Verloren!«
Keller hörte die Worte kaum, fühlte aber, daß ihm Wilhelm krampfhaft die Hand drückte, und sah, daß er forteilte in die Allee hinein, welche nach dem Hochwalde führt.
Keller blieb stehen und sann: Jetzt noch einen Versuch machen und dem Lamprecht vorstellen, daß der Julius für die Dorel nicht tauge? 's ist zu spät. Es sind nur noch drei Tage. Früher ja, vielleicht! Denn die Lamprechts hören auf mich. Aber jetzt, im letzten Augenblicke.
Der brave Keller war leider etwas pedantisch. Aus pedantischem Zartsinne hatte er die Angelegenheit nie zur Sprache gebracht mit Wilhelm, weil dieser schwieg, und mit den Lamprechtschen offenherzig zu reden, das erschwerten ihm seine Grundsätze: er mischte sich nicht in fremde Familienangelegenheiten.
Aber er war ein guter Mensch, und dem forteilenden Wilhelm nachblickend, wurde er betrübt und betrübter und sagte sich plötzlich: Wenn du doch noch? Die Frau ist kreuzbrav und kriegt den Alten doch immer herum – da traf ihn plötzlich ein Stoß in den Rücken, und erschreckt wendete er sich. Perdone! hieß es neben ihm, und der Wachmeister Kiesel schritt an ihm vorüber. Er hatte den geschweiften Hut tief in die Stirne gedrückt, und den Säbel hatte er horizontal vor sich hingestreckt, und mit diesem Säbel hatte er Keller an die Rippen gestoßen. Das Wort » Perdone«, welches er einmal, Gott weiß wo! aufgelesen, war auch die einzige Äußerung, die er von sich gab. Er sah Keller gar nicht an, er schritt weiter zum Kirchlein hin. Ersichtlich war er tief in sich versunken.
»Hansnarr!« sagte Keller und ging nach dem Schießhause zurück. Die gute Regung, doch noch mit Frau Lamprechtin zu sprechen, hatte der ewige Störenfried abgeschnitten.
Kiesel selbst aber, entsetzlich verstimmt, stand nach einigen Schritten still und betrachtete aufmerksam das Kirchlein, als ob er es nie gesehen, besonders das kleine Türmlein mit dem weiten Fenster, welches der hölzerne Laden schloß. Dann seufzte er tief, ging daran vorüber und setzte sich an den Abhang, welcher hinunterleitet zum braunen Wasser. Dieses braune Wasser, unter welchem er die Schätze vermutete, es nahm wieder all seine Sehnsucht in Anspruch. Er bemerkte es gar nicht, daß ein ausgiebiger Sprühregen aus den Wolken herunterspritzte. Was kümmerte ihn der äußerliche Erdenkram neben seiner inneren Verzweiflung!
Die Behandlung, welche er gestern abends von dem stolzen Könige Lamprecht erfahren, sie war die Ursache seiner Verzweiflung. Beim Schmause hatten sie gesessen, ein prachtvoller Schweinsbraten war eben angeschnitten worden und hatte ihm lieblich in die Nase gedampft, da hatte er dem stolzen Manne seine Rede gehalten, und mit der leise hingehauchten, ganz klaren Anzeige vom sträflichen Zusammensein Dorels und des Schatten Wilhelm hatte er siegreich geschlossen. Wie war ihm da begegnet worden! Verächtlich, unverkennbar verächtlich hatte ihn dieser Schützenkönig angesehen, und nach einem beunruhigenden Stillschweigen hatte er gesagt: »Spion! Unten bei den Dienstleuten lasse Er sich was zu essen geben!«
Welch ein Mißbrauch der Königswürde! – Spion! Unten bei den Dienstleuten, während diese Spießbürger im ersten Stocke tafelten. Und Spion! ihm, einem würdigen Beamten! Ihm, der gerade das besorgt hatte, was ihm dieser Fleischhauer aufgetragen, was er mit der Macht des Leberwurstzettels blutdürstig von ihm verlangt hatte! Spion! Als ob übrigens nicht alle polizeiliche Tätigkeit, zu welcher Schicksal und Anstellung verurteilten, Spioniererei genannt werden könnte! O Welt, voll erniedrigender Ungerechtigkeit!
Das war eine Nacht gewesen! Sein ganzes Leben war ihm vorgekommen wie eine scheußliche Mißgeburt. Vergessenheit hatte er trinken wollen in dem schlechten Biere, welches heute nichts kostete. Es schmeckte ihm eigentlich gar nicht, dies dunkelbraune Bier, aber was tun, da es nichts Besseres gab, und da man doch wirtschaftlich diese zwei Tage ausnützen mußte, an denen es unentgeltlich zu haben war. Widerwillig, aber standhaft hat er den ganzen Nachmittag diesem Suff obgelegen. Aber ach, seine Verstimmung war immer größer geworden. Auch die Benebelung, wie man diesen Zustand nannte, hatte nichts ändern können in seiner beleidigten Seele. Endlich hatte er beschlossen, die ganze gemeine Welt hinter sich zu werfen und an seinen Zauberort zu gehen, wo er immer die schönsten Stunden verlebt, an den Abhang beim Kirchel, wo er ins rätselhaft dunkle Wasser blicken, die Schätze des Schinderhannes vor sich auftauchen sehen und wieder ein erhöhter Mensch sein könnte.
Denn eigentlich war der Wachmeister Kiesel ein Dichter. Er besaß die Weisheit, welche man in die Worte faßt: Du kannst dir ja allein eine Welt erschaffen, die dich beglückt. Versenke dich in diese Welt, entzücke dich!
Das gelang ihm auch. Der Regen war für seinen heißen Kopf eine Erfrischung. Er lüftete den hohen Hut und schlürfte gleichsam die frechsten Bilder seiner Einbildungskraft. So war er ein hochangesehener Mann des vorigen Jahrhunderts; er leitete die Verfolgung des großen Räubers, er entdeckte den unterirdischen Gang unter dem braunen Wasser, er griff eben nach den schimmernden Kostbarkeiten, besonders nach einem goldenen, mit Edelsteinen besäten Altarkelche, welchen der Racker Schinderhannes aus einer Kirche gestohlen – da traf ihn ein elektrischer Schlag. Die sonst immer offene Tür des Kirchels wurde schmetternd zugeschlagen.
Er sprang auf, er rannte hin an die Tür, er drückte – ja, sie war verschlossen, der Räuber hatte sie zugeschlagen, nachdem er sich hineingeflüchtet. »Räuber! Räuber! Räuber im Kirchel!« schrie er aus vollem Halse und lief nach dem Schießhause, um den Schlüssel zu holen. Der Fang des Verbrechers war sicher. Sein Geschrei brachte Leute herbei von allen Seiten trotz des Regens.
Erschreckt fragt man: »Was denn? Wo denn?«
»Räuber im Kirchel!« schrie er unaufhörlich zur Antwort.
Und so geschah es denn, daß aus den Buden und aus dem Schießhause alle Welt herbeistürzte und ihm nachfolgte, als er, den Schlüssel hochhaltend, nach dem Kirchlein zurückeilte. Umsonst sagten einzelne: »Der Wachmeister ist besoffen!« Die Neugierde tat ihre Schuldigkeit; die Masse drängte ihm nach.
Aller Augen waren auf das Kirchlein gerichtet, welches der Regenschauer einhüllte. Trotz der Verhüllung aber entdeckte man, daß der Laden oben im Türmchen geöffnet wurde und daß zwei Menschen oben in der Öffnung erschienen. Jetzt kam die Natur zu Hilfe: die Sonne brach mit einem Male am Abendhimmel hervor und warf ihren Schein auf das Türmchen. Man erkannte, daß ein Mann und eine Frau da oben standen und mit den Händen winkten. Ein Regenbogen bildete sich hoch oben hinter dem Kirchlein, die Szene wurde malerisch.
Als das Falkenauge Kiesels die zwei Menschen da oben entdeckte – Julius und Amélie waren es – da war sein Seherblick mit voller Wirklichkeit belohnt, und er schrie mit dem Ausdrucke tiefer Überzeugung: » Der Schinderhannes mit seinem Kebsweibe!«
Lautlose Stille. Sie wurde aber sogleich unterbrochen durch Herrn Kellers Stimme, welcher rief: »Dummes Zeug! Der Schinderhannes ist ja schon vor hundert Jahren gehenkt worden!« – Schallendes Gelächter folgte.
Die beiden jungen Leute da oben gestikulierten lebhaft und lachten sogar. Julius aber rief ganz verständlich: »Aufschließen! Die Tür ist ins Schloß gefallen, wir können nicht hinaus!«
Neues Gelächter. Keller nahm dem sprachlos gewordenen Wachmeister den Schlüssel aus der Hand und schloß auf. Julius und Amélie sprangen heiter über die Schwelle und erzählten, sie wären vor dem Regen da hineingeflüchtet, und dazu lachten sie recht ausgelassen.
Allerdings sahen sich gesetzte Leute unter der Menge recht bedenklich an: ein Männlein und ein Fräulein, beide jung, zusammen eingeschlossen, man wußte nicht einmal, wie lange! Und es war wohl angemessen, daß Frau Lamprechtin, welche mit ihrem Manne auch heruntergekommen war aus dem Saale, eine Bemerkung machte. Sie sagte halblaut zu ihrem Manne: »Für den Julius ist der Vorfall unangenehm, für das sogenannte Fräulein auch, und es ist gut, daß die Mädel oben geblieben sind, die Dorel könnte –«
»Warum nicht gar!« unterbrach er sie, »dies sogenannte Fräulein ist ja in bloßen Schultern, die konnte er ja doch nicht naß werden lassen, der Julius! Was ist's denn da weiter?! Jedenfalls ist's wieder dieser unglaubliche Wachmeister, welcher die Geschichte angerichtet hat. Den sollte man doch –«
Da sah er den Kiesel mitten in der Menge, welche sich langsam entfernte, und all seine königliche Stimmung vergessend, wollte er ihn wohl gleich beim Kragen fassen. Wenigstens schritt er auf ihn los. Kiesel aber, schmerzhaft nüchtern geworden, sah ihn kommen, und da er keine anständige Behandlung von ihm erwartete, so »verkrümelte« er sich eilig, wie er's nannte, unter den abziehenden Menschengruppen und entrann.
Jetzt rief ihm eine andere innere Stimme zu – er hatte deren mehrere – mach' dich aus dem Staube, aus dem Staube der Gemeinheit! Mach' dich unsichtbar!
Er steuerte beflügelten Schrittes, ob auch der Säbel widerwärtig schlug und klapperte, am Schießhause vorüber der Stadt zu, und es war ihm sogar unangenehm, daß seine eigene Brut, die Jette und der Fritze, ihn entdeckten und sich ihm anschlossen. Gar nicht zu sprechen war ihm augenblicklich das Wünschenswerteste.
Der freche Junge aber, der Fritze, war anderer Meinung und fragte unverschämt: »Was hast du denn gemacht, Vater? Die Leute sagen, du hättest dich –«
»Halts Maul! Und wenn die Leute fragen, warum, so sag' ihnen: Mein Vater hat sich einen Scherz gemacht mit dem historischen Schinderhannes. Man nennt das einen historischen Scherz, historisch, das heißt geschichtlich. Merk dir das.«
Diese Rede versuchte Kiesel mit einem erkünstelten Lachen zu begleiten, aber dies verfing nicht bei seinem Sohne, sondern dieser wiederholte unbeirrt:
»Die Leute sagen doch, Vater, du hättest dich blamiert.«
»Junge!«
»Ungeheuer blamiert! hat der Hooraz gesagt.«
Eine Ohrfeige brachte nun wohl Fritze zum Schweigen, aber dies garstige Wort »blamiert«, das garstigste, welches der Wachmeister Kiesel kannte, war nicht mehr zu beseitigen. Es verdarb ihm die ganze Nacht. Er schlief sehr schlecht, diese Nacht; eigentlich gar nicht.