Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
Die Große Französische Revolution 1789-1793 – Band II
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin

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41. Die ›Anarchisten‹

Aber wer sind eigentlich die Anarchisten, von denen Brissot so viel spricht und deren Vertilgung er so hitzig fordert?

Zunächst ist zu sagen, daß die Anarchisten keine Partei sind. Im Konvent gibt es den Berg; die Girondisten; die Ebene oder vielmehr den Sumpf – den Bauch, wie man damals sagte; aber es gibt keine ›Anarchisten‹. Danton, Marat und selbst Robespierre oder sonst ein Jakobiner können manchmal mit den Anarchisten gehen; aber diese stehen außerhalb des Konvents. Sie stehen – muß es erst gesagt werden? – darüber, sie beherrschen ihn.

Es sind Revolutionäre, die in ganz Frankreich verstreut sind. Sie sind der Revolution mit Leib und Seele ergeben, sie verstehen ihre Notwendigkeit, sie lieben sie und arbeiten für sie.

Eine große Zahl von ihnen schart sich um die Kommune von Paris, weil sie noch revolutionär ist; eine gewisse Zahl gehört dem Klub der Cordeliers an; einige gehen in den Jakobinerklub. Aber ihr wahres Gebiet ist die Sektion und vor allem die Straße. Im Konvent sieht man sie auf den Tribünen, von wo sie die Debatten lenken. Ihr Aktionsmittel ist die Meinung des Volks – nicht ›die öffentliche Meinung‹ des Bürgertums. Ihre Waffe ist der Aufstand. Mit dieser Waffe üben sie ihren Einfluß auf die Abgeordneten und die Exekutivgewalt.

Und wenn es sich darum handelt, dem Volk einen großen Ruck zu geben, es zu entflammen und mit ihm gegen die Tuilerien zu marschieren, dann sind sie es, die den Angriff vorbereiten und in Reih und Glied kämpfen.

Sowie der revolutionäre Aufschwung des Volks wieder erschöpft ist, treten sie ins Dunkel zurück. Und nur die Flugschriften ihrer Gegner, die voller Gift und Galle sind, lassen uns die ungeheure revolutionäre Arbeit, die sie vollbracht haben, erkennen.

Ihre Ideen sind klar und bündig.

Die Republik? Gewiß! Die Gleichheit vor dem Gesetz? Gut! Aber das genügt nicht. Noch lange nicht.

Die politische Freiheit benutzen, um die wirtschaftliche Freiheit zu erlangen, wie die Leute des Bürgertums raten? Sie wissen, daß das nicht möglich ist.

Sie wollen die Sache selbst. Das Land für alle – was man damals das ›Ackergesetz‹ nannte. Die wirtschaftliche Gleichheit oder, um die Sprache der Zeit zu sprechen, die ›Gleichmachung der Vermögen‹.

Aber hören wir Brissot.

›Sie sind es‹, sagt er, ›die . . . die Gesellschaft in zwei Klassen geteilt haben, in eine, die hat, und in eine, die nicht hat, die der Sansculotten und die der Besitzenden, sie sind es, die die eine gegen die andere aufgereizt haben.‹

›Sie sind es‹, fährt Brissot fort, ›die unter dem Namen Sektionen nicht aufgehört haben, den Konvent mit Petitionen zu ermüden, in denen verlangt wurde, es sollte ein Maximalpreis fürs Getreide fixiert werden.‹

Sie sind es, die ›Emissäre aussenden, die überall den Krieg der Sansculotten gegen die Besitzenden predigen‹; sie sind es, die ›die Notwendigkeit, die Vermögen gleichzumachen‹, predigen.

Sie sind es ferner, die ›die Petition jener Zehntausend veranlaßt haben, die erklärten, sie würden in den Aufstand treten, wenn man nicht den Getreidepreis festsetzte‹, und die überall in Frankreich die Aufstände hervorriefen.

Das also sind ihre Verbrechen. Die Nation in zwei Klassen zu teilen, in die, die hat, und in die, die nichts hat. Die eine gegen die andere aufzureizen. Für die Menschen, die arbeiten, Brot zu verlangen, Brot vor allem.

Das waren gewiß große Verbrecher. Nur muß gefragt werden, wer von den sozialistischen Gelehrten des neunzehnten Jahrhunderts etwas Besseres erfinden konnte als die Forderung unserer Ahnen von 1793: ›Brot für alle!‹

Hören wir nun etwas über die Art, wie sie ihre Ideen ins Werk zu setzen versuchten:

›Die Vermehrung der Verbrechen‹, sagt uns Brissot, ›ist die Folge der Straflosigkeit; die Straflosigkeit kommt daher, daß die Gerichte gelähmt sind; und die Anarchisten schützen diese Straflosigkeit, versetzen alle Gerichte in den Zustand der Lähmung, entweder durch den Schrecken oder durch Denunziationen und die Anklage, Aristokraten zu sein.‹

›Für die überall wiederholten Angriffe gegen das Eigentum und die persönliche Sicherheit geben die Anarchisten von Paris jeden Tag das Beispiel, und ihre besonderen Emissäre und die Emissäre von ihnen, die den Titel Konventskommissäre führen, predigen überall diese Verletzung der Menschenrechte.‹

Dann erwähnt Brissot ›die ewigen Deklamationen der Anarchisten gegen die Besitzenden oder Kaufleute, die sie als Wucherer bezeichnen‹; er spricht von ›Besitzenden, die fortwährend als Räuber gebrandmarkt werden‹, von dem Haß, den die Anarchisten gegen jeden Staatsbeamten hegen. ›Von dem Augenblick an‹, sagt er, ›wo jemand einen Posten hat, wird er dem Anarchisten verhaßt und scheint sich schuldig zu machen.‹

Aber köstlich ist es, wenn Brissot die Wohltaten der ›Ordnung‹ aufzählt. Man muß diese Stelle lesen, um zu verstehen, was das girondistische Bürgertum dem französischen Volk gegeben hätte, wenn die ›Anarchisten‹ die Revolution nicht weitergedrängt hätten.

›Man betrachte‹, sagt Brissot, ›die Departements, die die Wut dieser Menschen zügeln konnten; man betrachte zum Beispiel das Departement der Gironde. Dort hat dauernd die Ordnung geherrscht; das Volk hat sich dem Gesetz gefügt, obwohl es für das Pfund Brot bis zu vierzig Pfennig bezahlt hat. Das kommt daher, daß man in diesem Departement die Ackergesetzagitatoren verbannt hat; das kommt daher, daß die Bürger jenen Klub, in dem man . . . lehrt‹ usw. (den Jakobinerklub) ›geschlossen haben.‹

Und dies wurde zwei Monate nach dem 10. August geschrieben, wo der Blindeste doch begreifen mußte, daß es, wenn sich das Volk in ganz Frankreich dem Gesetz gefügt hätte, ›obwohl es bis zu vierzig Pfennig für das Pfund Brot bezahlte‹, überhaupt keine Revolution gegeben hätte und das Königtum, das zu bekämpfen sich Brissot den Anschein gibt, und ebenso das Feudalwesen vielleicht noch hundert Jahre geherrscht hätten, wie in Rußland.Louis Blanc hat von Brissot sehr gut gesagt, er sei einer von den Menschen, die ›heute vorzeitige Republikaner und morgen zurückgebliebene Revolutionäre‹ sind, Leute, die nicht die Kraft haben, dem Jahrhundert zu folgen, nachdem sie die Kühnheit gehabt haben, ihm voranzugehen. Nachdem er in seiner Jugend geschrieben hatte: ›Das Eigentum ist der Diebstahl‹, war seine Achtung vor dem Eigentum so groß geworden, daß er am Tag nach dem 4. August die Nationalversammlung wegen der Überstürzung tadelte, die sie in ihren Dekreten gegen das Feudalwesen gezeigt hätte. Und das in einem Augenblick, wo die Bürger sich auf der Straße umarmten, um sich zu diesen Dekreten zu beglückwünschen.

Man muß Brissot lesen, um zu verstehen, was alles das Bürgertum von damals für Frankreich in Bereitschaft hatte.

›Die Aufruhrbewegungen in den Departements Eure, Orne usw.‹, sagt Brissot, ›sind von den Agitationen gegen die Reichen, gegen die ›Wucherer‹ hervorgerufen worden, von den aufreizenden Reden über die Notwendigkeit, mit Waffen in der Hand den Preis für das Getreide und alle Bodenerzeugnisse festzusetzen.‹

Und von Orléans erzählt Brissot: ›Diese Stadt erfreute sich seit dem Anfang der Revolution einer Ruhe, die nicht einmal die Krawalle stören konnten, die an anderen Orten durch den Getreidemangel hervorgerufen wurden, obwohl sie ein Getreidestapelplatz ist. Diese Harmonie zwischen den Armen und den Reichen entsprach nicht den Prinzipien der Anarchie; und einer dieser Menschen, deren Ordnung die Verzweiflung, deren einziges Ziel der Aufruhr ist, gibt sich Mühe, diese glückliche Eintracht zu zerstören, indem er die Sansculotten gegen die Besitzenden aufhetzt.‹

›Und wiederum ist es die Anarchie‹, ruft Brissot, ›die die revolutionäre Macht in der Armee geschaffen hat.‹ ›Wer kann heutzutage‹, sagt er, ›das schreckliche Übel verkennen, das in unsern Armeen jene anarchistische Doktrin erzeugt hat, die an Stelle der Gleichheit der Rechte eine allgemeine und tatsächliche Gleichheit herstellen will, die die Geißel der Gesellschaft ist, wie jene andere Gleichheit ihr Halt ist? Jene anarchische Doktrin, die die Begabung und die Unwissenheit, die Tugenden und das Laster, die Ämter, die Gehälter, die Dienstleistungen gleichmachen will.‹

Das also konnten die Brissotisten diesen Anarchisten niemals verzeihen. Die Gleichheit der Rechte, das geht noch, wenn sie nur nie eine tatsächliche Gleichheit wird. Wie wütete daher Brissot gegen die Erdarbeiter von Paris, die eines Tags verlangten, das Gehalt der Abgeordneten und das ihre sollte gleichgemacht werden. Man denke nur, Brissot und ein Erdarbeiter auf eine Stufe gestellt! Nicht vor dem Gesetz, sondern in der Tat! Diese Elenden!

Wie waren aber die Anarchisten dazu gelangt, daß sie eine so große Macht ausübten, mit der sie sogar den schrecklichen Konvent beherrschten und ihm ihre Entscheidungen diktierten?

Brissot erzählt es uns in seinen Flugschriften. Die Tribünen, sagt er, das Volk von Paris und die Kommune von Paris beherrschen die Situation und zwingen den Konvent jedesmal, wenn es gilt, eine revolutionäre Maßnahme zu treffen.

In seinen Anfängen – sagt uns Brissot – war es sehr gut um den Konvent bestellt. ›Die Mehrheit des Konvents‹, sagt er, ›ist rein und gesunddenkend, liebt die Prinzipien und läßt das Auge nicht vom Gesetz.‹ Man nahm ›fast einstimmig‹ alle Anträge an, die den Zweck hatten, ›die Unruhestifter‹ zu unterdrücken und zu vernichten.

Man ersieht daraus, welche revolutionären Ergebnisse man von diesen Vertretern erwarten mußte, die den Blick nicht von dem Gesetz – des Monarchismus und Feudalismus wegwendeten; aber die Anarchisten ließen es nicht dabei. Sie sahen nur ein, daß ihr Platz nicht im Konvent unter den Vertretern war, sondern auf der Straße; daß es, wenn sie ja den Konvent beträten, nicht zu dem Zweck sei, mit den Leuten von der Rechten und den ›Kröten aus dem Sumpf‹ zu parlamentieren, sondern um etwas zu verlangen, entweder von den Tribünen herunter, oder indem sie mit dem Volk den Konvent stürmten.

Auf diese Weise haben allmählich ›die Räuber‹ (Brissot meint die ›Anarchisten‹ damit) ›kühn das Haupt erhoben. Aus Angeklagten haben sie sich in Ankläger verwandelt; aus schweigsamen Zuhörern unserer Debatten sind sie zu Schiedsrichtern geworden.‹ ›Wir sind in der Revolution‹, das war ihre Antwort.

Aber die Männer, die Brissot die Anarchisten nannte, sahen weiter und legten eine größere politische Einsicht an den Tag als die, die den Anspruch machten, Frankreich zu regieren. Wenn die Revolution mit dem Triumph der Brissotisten beendigt gewesen wäre, ohne das Feudalwesen abgeschafft und ohne das Land den Gemeinden zurückgegeben zu haben, wo stünden wir heute?

Aber vielleicht formuliert Brissot irgendwo ein Programm und setzt auseinander, wodurch nach dem Vorschlag der Girondisten dem Feudalwesen und den Kämpfen, die es hervorruft, ein Ende gemacht werden soll? In diesem letzten Augenblick, wo das Volk von Paris verlangt, man solle die Girondisten aus dem Konvent jagen, sagt er vielleicht, was die Girondisten vorschlagen, um wenigstens einen Teil der dringendsten Bedürfnisse des Volks zu befriedigen?

Nichts davon. Absolut nichts!

Die girondistische Partei erledigt die ganze Frage mit den Worten: Ans Eigentum rühren, gleichviel ob es sich um feudales oder bürgerliches Eigentum handelt, ist das Werk der ›Gleichmacher‹, der ›Unruhestifter‹, der ›Anarchisten‹. Menschen dieses Schlages müssen einfach vernichtet werden.

›Die Ruhestörer‹, schreibt Brissot, ›waren vor dem 10. August wahre Revolutionäre, denn man mußte die Ruhe stören, um republikanisch zu sein. Die Ruhestörer von heutzutage sind wahre Gegenrevolutionäre, sind Feinde des Volkes; denn das Volk ist heutzutage Herr . . . Was bleibt ihm noch zu wünschen? Die Ruhe im Innern, weil nur diese Ruhe dem Besitzenden seinen Besitz, dem Arbeiter seine Arbeit, dem Armen sein tägliches Brot und allen den Genuß der Freiheit garantiert.‹ (Flugschrift vom 24. Oktober 1792.)

Brissot begreift nicht einmal, daß das Volk in dieser Zeit der Hungersnot, wo der Preis des Brotes bis zu sechs und sieben Sous für das Pfund gestiegen war, eine Taxe zur Festsetzung des Brotpreises verlangen konnte. Nur Anarchisten können das tun (S. 19).

Für ihn und für die ganze Gironde ist die Revolution zu Ende, nachdem der 10. August ihre Partei ans Ruder gebracht hat. Es bleibt nur noch übrig, die Situation zu akzeptieren und den politischen Gesetzen, die der Konvent machen wird, zu gehorchen. Er versteht nicht einmal den Mann des Volkes, der sagt, solange die Feudalrechte bestehen, solange die Ländereien den Gemeinden nicht zurückgegeben sind, solange in allen Fragen des Grundeigentums die Unentschiedenheit herrscht, solange der Arme die ganze Last des Krieges trägt, sei die Revolution nicht zu Ende, und nur die revolutionäre Aktion könne sie angesichts des gewaltigen Widerstandes, den das alte Regime in allen Stücken entscheidenden Maßnahmen entgegensetzt, zu Ende führen.

Der Girondist versteht ihn nicht einmal. Er kennt nur eine Kategorie von Unzufriedenen: die Bürger, die ›für ihr Vermögen oder für ihre Genüsse oder für ihr Leben fürchten‹ (S. 127). Alle anderen Kategorien von Unzufriedenen haben keine Existenzberechtigung. Und wenn man weiß, in welcher Unsicherheit die Gesetzgebende Versammlung alle Bodenfragen gelassen hatte, fragt man sich, wie eine solche Geistesverfassung möglich sein konnte? In welcher fiktiven Welt politischer Intrigen lebten diese Leute? Man könnte sie in der Tat nicht einmal verstehen, wenn man nicht ihresgleichen unter unsern Zeitgenossen sehr gut kennte.

Brissot zog in Übereinstimmung mit allen Girondisten den folgenden Schluß: Es bedarf eines Staatsstreichs, einer dritten Revolution, die ›die Anarchie niederschlagen‹ muß. Die Kommune von Paris und ihre Sektionen müssen aufgelöst, müssen vernichtet werden. Die Klubs, die die Unordnung und die Gleichheit predigen, müssen aufgelöst werden. Der Jakobinerklub muß geschlossen, seine Papiere müssen versiegelt werden.

Der ›tarpejische Fels‹, das heißt die Guillotine für das ›Triumvirat‹ (Robespierre, Danton und Marat) und für alle Gleichmacher, alle Anarchisten.

Es muß ein neuer Konvent gewählt werden, in dem keines der bisherigen Mitglieder mehr sitzen darf – das hätte den Triumph der Gegenrevolution bedeutet.

Eine starke Regierung – die Herstellung der Ordnung.

Das ist das Programm der Girondisten, seitdem der Sturz des Königs ihnen die Macht gegeben und ›die Ruhestörer unnötig gemacht‹ hat.

Was blieb also den Revolutionären anderes übrig, als den Kampf bis zum äußersten aufzunehmen?

Entweder mußte die Revolution völlig, so wie sie war, unvollendet zum Stillstand kommen, und dann hätte die Gegenrevolution des Thermidor fünfzehn Monate früher, schon im Frühling 1793 eingesetzt, vor der Abschaffung der Feudalrechte.

Oder man mußte die Girondisten, trotz der Dienste, die sie der Revolution geleistet hatten, solange es galt, das Königtum zu bekämpfen, aus dem Konvent verbannen. Diese Dienste konnten unmöglich verkannt werden. ›Ah! Ohne Zweifel‹, rief Robespierre in der berühmten Sitzung vom 10. April, ›sie haben gegen den Hof, gegen die Emigranten, gegen die Priester mit gewaltiger Hand gekämpft; aber wann war das? Als es für sie galt, die Macht zu erobern . . . Nachdem sie die Macht erlangt hatten, hat sich ihre Glut schnell abgekühlt. Wie eilig sie es hatten, ihrem Haß ein neues Ziel zu geben!‹

Die Revolution konnte nicht unvollendet innehalten. Sie mußte weitergehen, über sie weg. Daher herrschte in Paris und in den revolutionären Departements seit dem Februar 1793 eine Bewegung, die zum 31. Mai führt.


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