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Die Frau mit dem blauen Schurz und dem Kübel war auf den feinen Herrn mit den weißen Gamaschen nicht gut zu sprechen. Sie rückte sich ostentativ in ihrer Ecke zurecht und schmetterte die Wagentüre zu. Dann schickte sie dem Herrn ein paar finstere Blicke nach, die an den weißen Gamaschen wie mit Widerhaken hängen blieben.
Die Frau sagte grollend: »De Leut san in an Ziaglstadl aufg'wachs'n, de ham koa Tür net dahoam. Oder sie san si' z'guat, daß sie's in d' Hand nemma! Derfst grad schö' an Bortje macha ... Daß si' fei der a Boandl abbricht, wenn er d' Tür in d' Hand nimmt ...
Der feine Herr sah die grollende Anklägerin erstaunt an, ward sich dann seines Vergehens bewußt und verbarg sich hinter einer Zeitung; denn er spürte: mit weißen Gamaschen und einem Uhrarmband am Gelenk ist man in einer schwachen Position, wenn die Stimme des Volkes spricht.
Vielleicht hätte die Frau mit dem Kübel noch einiges Scharfe und Bemerkenswerte über Tür auf und Tür zu geäußert, sie war ihren Blicken nach anscheinend auch nicht abgeneigt, Erscheinung und Charakter des Gegners einer kritischen Begutachtung zu unterziehen. Aber da nahm die Aufmerksamkeit der Wagengäste ein kleiner Disput zwischen dem Schaffner und einem alten Frauerl ganz in Anspruch. Nämlich: ob ein Vogel mit der Trambahn fahren darf.
Nach Gesetz und Bestimmung eigentlich nicht. Der Schaffner sagte: »Wo kummat'n mir denn hi', wenn jeder mit sein' Vogel o'ruckat. Mir san doch koa' Vogelhäusl net.« Man hätte ja gar nichts gemerkt; denn der kleine Käfig auf dem Schoß der Frau war in Tücher eingeschlagen und konnte ebenso eine Eierkiste sein oder ein Seifenpaket. Und der Vogel war auch bis zur vorletzten Haltestelle musterhaft ruhig gewesen. Dann durch ein plötzliches ruckhaftes Anfahren erschreckt, hat der kleine Kerl in seiner Angst zwei Piepser getan, gerade laut genug, daß sie von der Umgebung und auch vom Schaffner gehört wurden.
Die Frau sah mit verlegenem, schuldbewußtem und schon leise bittendem Gesicht zur bemützten Macht empor. Sie sagte: »Krank is er! Schaug'n S' 'n nur o!« Und hob vorsichtig das Tuch vom Käfig hoch. – Da hockte der Kleine wie ein Federknäuel in der Ecke. Schnell und gejagt ging das Brüstchen auf und ab, und die angeschwollenen Füße versuchten in matter, schwerfälliger Flucht einen kleinen Hupfer.
Also der Schaffner: »Wo kummat'n mir denn hi' ...« Aber er sagte es schon voll Nachgiebigkeit, sozusagen nur zur Wahrung des Dienstgesichtes. Die Straßenbahn war gegen die Endhaltestelle zu nicht allzusehr besetzt, der Kontrolleur nicht zu erwarten. Außerdem: vielleicht ist es gar nicht so sehr gegen die Verkehrsordnung, einen kleinen Kanari mitfahren zu lassen, auch wenn er keinen Maulkorb hat. Gegen die Endhaltestelle zu wird der Schaffner immer ein bißchen Mensch zu Mensch, lockert den strengen Beamtenpanzer.
Er neigt sich zu dem Käfig und sagt: »Wo fehlt's eahm denn? Wissen S', i hob aa oan dahoam. Ham mir voriges Jahr vui G'frett g'habt. Bad'n S' eahm doch d'Fußerln mit Kamill'n!
Die Frau: »Alles hab' i scho probiert; aber er werd von Tag zu Tag weniger. Gel', Hansl, du kloaner Scheißer! Jetzt fahr i zu oan, den wo ma d'Nachbarin verrat'n hat. Der soi d'Vögel so guat wieder z'sammricht'n. A alter Musiker is'; an Vogldoktor hoaßn s' 'n.«
Die Frau mit dem Kübel gegenüber beugt sich vor, schaut um den Schaffner herum und sagt: »Ja, den kenn i, da genga S' nur mit mir, des is der alt' Morasch; der wohnt zwoa Häuser weit von uns. Den hab i scho vui lob'n hörn ... A so a netts Vögerl und ganz derdattert is er. Aber der Morasch bringt'n durch, wern S' sehng!«
»Fress'n wui er halt gar nimmer und a so trüabe Aug'n hat er.«
Der feine Herr in der Ecke hat seine Zeitung zusammengefaltet und rückt näher. Er fragt, wie alt der Vogel ist. Er hat einen Papagei daheim. Ob nicht vielleicht feines Öl gut ist. Die Frau mit dem Kübel schickt wieder einen Blick zu dem Herrn. Diesmal ist der Blick frei von Schärfe und Bitterkeit. Sie sagt: »Da kann der Herr scho' recht ham mit'n Öl.«
Der Schaffner: »Und nur koa' Zugluft net. Mit Leinwand soll ma' an Bod'n ausleg'n. Des is kühl und net so hart wia Blech. A so a Vieh ko' oan derbarma. Schaug'n tut's wia a Mensch.«
Ein kleiner Bub sagt zu seiner Mutter: »Mami, schau, da ist ein Vogerl.« Die Mutter: »Ja, der ist krank, Heini, guck' nur, wie er im Eckerl sitzt.« Der Bub: »Der weint aber gar net.« Und dann die Frage, ob Vögerl weinen, wenn ihnen was weh tut. Die Mutter lächelt und streicht dem Kleinen über den Schopf: »Man sieht's halt nicht, Heini.«
Ein Mann mit braunen, rußigen Händen und einer Monteurmütze angelt in der Hosentasche und bringt ein Zuckerstückl zum Vorschein. Das steckt er mit seinen harten Fingern vorsichtig zwischen die Stäbe und pfeift ein paarmal, so sanft es geht.
Die alte Frau deckt ihren Hansl wieder zu. Man merkt, die Teilnahme ringsum hat sie zuversichtlich gemacht. »Gang mir vui ab, wenn er hi werat«, sagt sie.
An der Endstation verläßt alles den Wagen. Der Schaffner hilft der Frau beim Aussteigen und reicht ihr den Käfig hinaus. »Also probier'n Sie 's amal mit Kamill'ntee.« Der Monteur sagt: »Kanari san zaach, de lass'n net so bald aus.« Der kleine Bub: »... aber gel, Mami, wenn des Vogerl wieder g'sund is, dann weint's nimmer ...« Der eine Herr gibt der Frau mit dem Käfig ein Zettelchen, da steht das Öl draufgeschrieben. Und er lupft höflich den Hut. Die Frau mit dem Kübel und die Frau mit dem Käfig gehen nebeneinander in der Richtung zum alten Morasch, dem Vogeldoktor. Und die Frau mit dem Kübel sieht sich nochmal nach den weißen Gamaschen um.
»Des muaß was Bessers sei«, sagt sie nicht ohne Anerkennung. »Des hab i' scho' oft g'hört, daß a Öl so guat sei soll. G'schdudierte Leut wissen allerhand. – Sehng S', des Haus mit dem Gartl, da wohnt der Morasch.«
Die Trambahn bimmelt wieder der Stadt zu, und der Schaffner hat sein ernstes verschlossenes Stadteinwärts-Gesicht, mit einem scharfen Auge für jede Verletzung der Verkehrsordnung.