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Das dickleibige Päckchen von Tagen – dreihundert schwarze und über ein halbes Hundert rote –, der Abreißkalender, ist zusammengeschrumpft bis auf ein letztes Blättchen vor dem leeren Fleck. Die Hand der ordentlichen Hausfrau, seltener die des Hausherrn, hat jeden Morgen einen Tag ausgemerzt, in den Papierkorb versenkt samt den auferbaulichen Ratschlägen für Leib, Seele und Geist: Mittagessen – Nudelsuppe, Rindfleisch mit Petersilienkartoffeln, – »Das Leben ist der Güter höchstes nicht« (F. v. Schiller). – Turnvater Jahn geboren. – Jetzt stehen die eingepreßten Hasen und Rehe auf dem Karton wie verloren vor dem sozusagen abgegrasten Zeitfleckchen. Sie haben nur mehr einen einzigen, letzten Tag zu fressen.
Abreißkalender werden unterschiedlich behandelt. Sie sind ein kleiner Spiegel ihrer Besitzer. Die Sorgfältigen, Zuverlässigen entfernen jeden Tag zur selben Minute, kurz nach dem Aufstehen (oder Betreten des Büros) das abgelaufene Datum. Die Leichtsinnigen, die Bummler lassen einmal drei, vier, ja acht Tage zusammenkommen und zupfen dann in einem Hui die Zeit aus Vater Chronos Bart. Die ganz Wurstigen aber haben an Silvester noch den größten Teil der Blättchen, wenn nicht gar den ganzen Block hängen.
Sie lassen sich von der Zeit nichts vorschreiben. Zwei Gründe kann es für diese Kalenderignoranten geben: entweder sie sind so ungeheuer beschäftigt, daß nicht einmal der Augenblick für das Kalenderblättchen bleibt. Oder sie haben so wenig zu tun, daß ihnen auch das Abreißen des Datums zu viel ist. Der letztere Fall kommt häufiger vor, denn bekanntlich hat der Unbeschäftigte am wenigsten Zeit übrig. Indes, zur Ehre der Zeitgenossen sei's gesagt: die meisten Abreißkalender werden doch ihrer Bestimmung zugeführt. Ritsch-ratsch, das letzte Blatt, Silvester, schwebt erdenwärts. Mit dem leeren Pappendeckel spielen die Kinder noch ein Weilchen. Dann gehen Hasen und Rehe darauf durchs Herdfeuer ein ins Nirwana, allwo es keine Zeit mehr gibt.
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Wenn schon von Kalenderrezepten die Rede ist, so seien hier für Kalendermacher – und das sind wir manchmal alle in verträumten Stunden – ein paar kleine Anweisungen für die Silvesterküche gegeben.
Kleiner Silvesterstollen. Man nehme zwei Pfund feingeschabte Prophezeiungen und übergieße sie langsam mit einem Teelöffel voll herzlicher Neujahrswünsche. Dazu gebe man das Gelbe von sieben Kleeblättern, das Schwarze von einem Kaminkehrer sowie kleingeriebenes Hufeisen. Das Ganze rühre man in einer Schwitze von Neujahrsgedichten an und lasse es in blauem Dunst ziehen.
Gebeizter Neujahrsbräutigam. Man nehme einen gut erhaltenen, tunlichst unbescholtenen jüngeren Mann in sicherer Stellung und schabe mit einem scharfen Messer vorsichtig die Junggesellenschale ab. Dann lasse man ihn einige Zeit in einer scharfen Beize von Ledigensteuer liegen und gebe dazu eine knusprig garnierte Haustochter. Beide lasse man in der eigenen Temperatur gut warm werden, dazu vielleicht einen Löffel Schmalz von einigen Grammophonplatten. Mit einer ausgiebigen Portion Segen übergössen und mit vielen kleinen Zärtlichkeiten angerichtet, wird das Gericht an Silvester auf den Tisch des Hauses gebracht.
Und nun allseits guten Appetit!