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Einsiedler auf hohen Bergen gehören zu den wenigen Leuten, die ohne ein bißchen Klatsch auskommen und auch das nur, solange sie keinen Besuch vom Tal kriegen. Uns, die wir zwei- oder mehrsiedeln, ist das Reden über den Nächsten notwendig wie Luft und Wasser – wobei nicht dem bösartigen und boshaften Ratsch und Tratsch das Wort geredet sei, sondern der unterhaltsam-freundlichen Teilnahme am Leben und Treiben unserer Zelt- und Zeitgenossen.
Die Lust und Liebe zum Klatsch (d. i. zum Mitteilen) ist sicher die Mutter der Künste. Der Ur-Mann, der seine Bilder in die Felsenwand ritzt, die Ur-Frau, die das erste Märchen erzählt – vielleicht sind sie zu ihrem Werk nur gelangt, weil es in ihrer Steinzeit noch keinen Stammtisch, kein Kaffeekränzchen gab und der nächste Nachbar zweitausend Meilen weit weg hauste.
Wenn heute Frau Monika Stanglhuber mit glänzenden Augen über ihrem Romanbüchl sitzt: »Rosen, die der Wind verweht« und voll Begierde ist, das Schicksal des schuftigen Grafen Harro und der edlen Komtesse Beatrice zu erfahren – es ist dieselbe Kraft, die Frau Stanglhuber so lang im Milchladen festhält, weil die Milchfrau so interessante Beobachtungen über Fräulein Maier vom dritten Stock mitteilt. Die bösen Grafen und edlen Komtessen des Buches sind uns ja nur kümmerlicher Ersatz, wenn uns Gelegenheit und Faden fehlt, über den Bürokollegen, die Freundin, den Flurnachbar ein Garn zu spinnen.
Man muß nicht nur über Personen reden. Man kann sich auch über Sachliches unterhalten: Reisen in Tirol oder Vorteile von Füllöfen, Nachteile von Gesangsabenden. Es ist dies sozusagen sachlicher Klatsch, der überhaupt keine moralische, höchstens eine Intelligenz-Wertung erfährt.
Dann ist da noch der unpersönlich-persönliche Klatsch, das heißt jene Geschichten und Anekdötchen, die wir uns über die Großen und Prominenten, über die Bemerkenswerten oder Aktuellen erzählen, über Leute, die wir persönlich nicht kennen: Über Napoleon und Josefine beispielsweise, über Goethe und die Frau von Stein (um vorsichtshalber bei der Vergangenheit zu bleiben).
Aber erzähle über Napoleon und Goethe die fesselndsten und interessantesten Geschichten und erzähle sie mit Engelszungen, wie anders leuchten die Augen auf, wenn jemand von unserm Freund Fritz, von unserer Tennispartnerin Else, von unserm Hausgenossen Adolf, von unserer Klubgenossin Inge was weiß. Das ist die dritte, genußreichste Form von Klatsch: ein bißchen Klatsch über Leute, die wir kennen, über Leute, mit denen wir verfeindet oder, um den genußreichsten Fall zu erwähnen, befreundet sind. Moralisten mögen jetzt den Kopf schütteln. Aber ein bißchen Klatsch – jenseits von bösartiger Absicht und dummer Indiskretion – ist hygienisch. Da haben wir was mit Fritz erlebt oder an Else beobachtet – eine kleine nette Kleinigkeit, eine Schwäche, wir sind vielleicht ein wenig amüsiert darüber oder, traf es uns, verärgert! Dieses bißchen Neuigkeit, oder was es immer sei, ist wie ein kleines Staubkörnchen im Auge, wie ein Steinchen im Schuh. Wenn wir's los haben, sind wir beglückt, und wir sind mit Fritz oder Else wieder ganz im reinen. Und Fritz oder Else machen es ebenso mit uns.
Wo Leute lang zusammenleben, Gemeinschaften, Freundschaften, Gesellschaften sind, muß hin und wieder der eine vom andern was »sagen« können. Eine wahre Sympathie, eine richtige Freundschaft wird darüber nicht in Brüche gehen. Aber nicht selten wird der kleine Klatscher nachher, angesichts von Fritz oder Else, das Gefühl haben, mit aller Herzenswärme wieder gut zu ihnen zu sein, weil er ein bißchen geklatscht hat. Denn über Leute, die uns ganz gleichgültig sind, reden wir überhaupt nicht.