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Es ist um die fünfte Nachmittagsstunde. (Die amtliche Zeitangabe »17 Uhr« will in unserm Vorstellungs- und Sprechapparat nicht recht rutschen.) In die Straßen der Stadt fällt mit der Dämmerung der Spätherbstnebel ein und verkleidet Mauern und Dächer, Fahrzeuge und Menschen, Anlagen und Denkmäler mit dunstigem Schleier. Reizvoll ist es, um diese Zeit zu bummeln, wenn aus dem alltäglichen Bild, aus der gewohnten Realität ein geheimnisvolles Ungefähr wird und vertraute, biedere Giebel, Aufbauten und Kamine am Stadtrand wie düstere Festungen, ferne Burgen, drohende Bollwerke in das Grau steigen. Auto- und Radfahrlichter schweben mit schimmerndem Hof als große und kleine Monde durch die Luft, als dunkle Schatten gleiten die Menschen vorbei, die Trambahn klingelt – ein dunkles Riesentier mit farbigen Augen – aus dem Nebel uns entgegen, Autohupen machen sich wichtig und jedes Geräusch klingt heller an das wachsamere Ohr. Man geht durch das Grau fast wie mit einer Tarnkappe bedeckt, wie ein Märchenmantel ist das Nichtgesehenwerden um uns. Wunderbar wie eine funkelnde Zauberschlucht liegen die Straßen der innern Stadt mit ihren hunderten von waagrechten und senkrechten, weißen, roten, gelben, blauen, grünen Lichtreklamen, die im Nebel nicht mehr sachlicher Schrei nach dem Kunden sind, sondern zum Illusionstheater werden.
An der Straßenecke streut die Hängelampe ihr strahlendes Licht über den Obstkarren, daß die Fracht darin wie seltsames Edelgestein funkelt und leuchtet: das Zinnober- und Scharlachrot, das schmetternde Gelb der Äpfel, das mildere der Bananen und Feigen, grün und weiß die Karfiolköpfe, lichtblau das Papier, mit dem der Wagen ausgeschlagen ist, und ein bißchen rubinrot die Nasenspitze des Obstlers, dessen Hände bisweilen aus dem Dunkel ins Licht kommen, magisch bestrahlt wie das hübsche Mädchen, das noch eben blühend im Licht vor dem Wagen stand und jetzt schemenhaft im nebeligen Dämmer verschwindet.
Aus der Feuerung des niederen schwarzen öferls leuchtet im Hausgang die rote Glut. Der zarte, warme Duft der gebratenen Kastanien kitzelt die Nase. Hinter dem kleinen Herd thront, in dicke Wollschals eingemummt, die Maronibraterin. Vor undenklich langer Zeit ist sie von Italien gekommen. Jetzt spricht sie nur mehr Münchnerisch und hat ihre klangvolle Heimatsprache längst vergessen. Nur mehr ihr welscher Name, ein paar große goldene Ohrringe und vielleicht die schwarzen Augen erinnern noch an den Süden. Ein sprachenkundiger, bebrillter Herr, der eine Handvoll Maroni kauft, spricht sie mit wohlgesetzter italienischer Rede an. Sie schüttelt lächelnd den Kopf und sagt: »O mei Herr, da kapier i nix mehr. I bin scho vui z' lang weg, scho als a ganz kloaner Stutzl ...« Nun wäre es vielleicht gegeben, dem sprachenkundigen Herrn die Antwort zu übersetzen; denn besonders das Wort »Stutzl« hat ihn sichtbar stutzig gemacht. Er scheint kein Einheimischer zu sein, und vielleicht denkt er jetzt darüber nach, wie sonderbar das Italienische von alten Italienerinnen in München gesprochen wird. – Er wird daheim in Rostock oder Kiel ganz bestimmt in einem Dutzend Sprachbüchern nach diesem seltsamen Wort »Stutzl« fahnden.
Zwei Männer mit hochgeschlagenem Rockkragen stellen sich an das Öfchen. »Geld ham ma koans für Eahnere Maroni, Frau, aber a bißl aufwarma möcht'n ma uns.« – Die Maroni-Matrone nickt und schüttet noch ein Schäuferl Holzkohlen in die Glut. – »Ja, stellts euch halt a bißl an d' Seit'n hi. – So hundshäuterne Zeit'n hab i no net derlebt wie des Jahr. Da geh i do liaber im Sommer in d' Taubeer und d' Butzküah ...« Lingua toskana!
An der Haltestelle stehen die beiden: Mutter und Tochter, und die Tochter hebt ein ums andere Mal fröstelnd den dünnbestrumpften Fuß und zieht die Schultern hoch. – »Gell, friert's di jetzt, hab i dir's aber gleich g'sagt, mit dem damisch'n Jackerl, des gar net amal übern ... geht ... War a so a guats Stückl, der Pelzmantel von der Großmuatter, aber du muaßt 'n z'sammschneid'n lass'n zu so an Kaschberlfrack, wo hint und vorn net warm halt.«
Die Tochter mit verschnupftem Naschen sagt: »I ko aa net rumlaffa wia a Spitalerin. Hat d' Fanni aa so oans und d' Niedermaier-Anni und alle trag'n's jetzt ...«
»Und alle derfrearn si' d' Haxn mit deni Spenzerl, mit de damisch'n! Sund und Schad is um den schöna Pelz, d' Großmuatter drahat si im Grab um, wenn s' des wissat. Und überhaupts bei dem Wetter hätt's dei Wettermantel aa to, na waarst warm beinand. Bei Nacht und Nebi san alle Küah schwarz ...« Die Tochter: »Und wenn nachher der Nebi weg is – na steh i da mit so an Schwammerlbrocker-Mantel ...«
Wenn der Nebel weg ist! – Das Wort tut die Kluft zwischen zwei Generationen kund. – Wer nicht über den Nebel hinaus lebt, der wird es unbegreiflich finden, daß man so einen schönen Großmuttermantel zusammenschneiden kann. Die Mutter sagt nichts mehr. Sie mißt ihre Tochter und das Jackerl mit einem Blick, so von der Seite. Sie denkt resigniert: A so san s' – so san s' – de junga Leut' ...