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Dieser Hirsch aus Zinkguß, der gern Bronze wäre, trägt mitten im Leib und mitten im kühnen Sprung eine kleine Uhr. In den neunziger Jahren war dieses Stück Kunstgewerbe einmal ein repräsentativer Schreibtischschmuck. Die Uhr schlug diesem Hirsch und seinem Besitzer wohl manche glückliche Stunde. Ganz sicher gehörte er einmal einem Weidmann, der ihn zu Weihnachten oder zum Geburtstag von seiner Braut oder Gattin erhielt, vielleicht hat ihn der treffsichere Jäger auch bei einem Preisschießen »herausgeschossen«, möglicherweise – aber das wäre leise zu bedauern – war der Besitzer gar kein Weidmann, sondern ein Irgendwer, der den Uhrhirsch (oder die Hirschuhr) im Glückshafen gewonnen hat. Und dann waren keine Erben da, oder die Erben haben den Uhrhirsch – stolz auf ihren Geschmack – der Zugehfrau beim Umzug geschenkt, wie dem auch sei, auf wieviel Wegen der Hirsch beim Tandler gelandet ist – jetzt steht er da in der Bude zwischen einer Büste von Richard Wagner und einem Spiritus-Rechaud und trägt noch immer an seinem Ur- und Grundproblem: ist er eigentlich ein Hirsch oder eigentlich eine Uhr? Diese Spaltung seines Wesens, durch keinen Psychotherapeuten heilbar, hat diese Plastik im Lauf der Zeit auch unmöglich gemacht; denn die harten und strengen Geschmacksrichter unserer Tage wollen entweder eine Uhr oder einen Hirsch. (Hirsche freilich haben, auch losgelöst von Uhren, wenig Gnade vor ihren Augen.) Ich sah einen aus ihrer Gilde beim Anblick des Uhrhirsches blaß werden, und hätte ihm seine Nachbarin nicht das Fläschchen gereicht – wer weiß, ob der Mann nicht ohnmächtig daniedergesunken wäre. So konnte er noch zitternd ein »Entsetzlich« stammeln.
Eine Frau aus dem Volke aber nahm den Uhrhirsch zärtlich in die Hände und sagte der Bewunderung voll: »Naa – so was Reizendes! – Geld wann i hätt – der Hirsch mit dera Uhr müassat mir g'hör'n.« – Und damit hatte sie nachtwandlerisch den Sinn der Väter in diesem Stück Tandlmarkt getroffen: nicht Uhrhirsch oder Hirschuhr. – Sondern Hirsch mit Uhr: Zierde und Zweck.
Sie ruht in einem sparsam mit violettem Plüsch ausgeschlagenen Kästchen. Eine Dreiviertel-Geige, das heißt also, das Instrument eines Kindes, eines Knaben. – Sollte es ein Wunderkind gewesen sein?
Warum nicht? Wunderkinder enden so manchmal auf dem Tandlmarkt. Es spräche nicht dagegen. Aber Wunderkinder spielen eine Amati oder Stradivari, kein Geigelchen, das um 12 Mark 50 zu haben ist. Diese Dreiviertel-Violine hat vielleicht einem Knaben gehört, in dem die strebsamen Eltern musikalische Talente wecken wollten. Und der Knabe hat so manchen Nachmittag, wenn draußen die Sonne im Blau stand, die Freunderln Fußball und Indianer spielten, mit heißem Kopf und mit Bitternis im Herzen vor einem Notenpult gestanden und Tonleitern und Dreiklänge geschabt und als kratziges Dessert: Sum sum sum, Bienchen summ herum ... Und die Nachbarn haben schimpfend die Fenster zugeschlagen, und der Hund ist mit eingekniffenem Schwanz in die Korridor-Ecke geflüchtet. Der Violinlehrer aber – ein stellungsloser Kaffeehausgeiger (einst spielt' er mit Szepter und Krone und Stern ...) – hat in finsterer Qual das Ende der 80-Pfennig-Stunde herbeigewartet und dazu gewissenhaft mit dem Fuß den Takt geklopft: eins, zwei – drei, vier ... Der geigende Knabe hat in den Spielpausen den Haarschopf aus der nassen Stirn gestrichen, in den Augenwinkeln standen Tränen, und auch unterm Naserl war's ein bißchen feucht, und dann schlug die Uhr für Lehrer und Schüler die erlösenden vier Schläge.
So kann's gewesen sein. Aber auch so, daß zu diesem Geigelchen ein Kind mit heißen Wangen und leuchtenden Augen kam und für einen Buben das ganze große Glück eines Lebens aus dem violetten Kasten leuchtete, als er sich zum erstenmal auftat.
die schöne Kapitänsbraut von Stralsund, oder Treue bis zum Schafott. – Hier liegen, gebündelt in hundert Lieferungen, die Schicksale Wandas.
Es sind die »Romanheftln« vergangener Tage, als noch kein Film sich um die Wandas annehmen konnte. Drei Handbreit hoch ist der Stoß. An den Rändern ist das Papier ausgebleicht, vergilbt, grau. Auf dem obersten Titelblatt geht es schon bewegt und stürmisch mitten in die Handlung hinein: »Wagen Sie es nicht, sich mir zu nähern«, rief Wanda dem schurkischen Reeder zu ... Auf dem Blatt hebt eine märchenschöne Frau mit edler Gebärde einen Revolver gegen einen satanisch lächelnden, schwarzvollbärtigen Mann, dessen aggressive Absichten ein umgestürzter Stuhl versinnbildlicht.
Die Sonne hat das Papier gebleicht; denn dieser Roman ist oft auf einem Küchenbalkon liegengeblieben, unter schwelenden Petroleumlampen schwanden die Zeilen vor müden Augen. Könnte man in dem Roman blättern (aber er ist verschnürt), so fände man auf mancher Seite eingetrocknet noch die Tränenspuren empfindsamer Leserinnen. Die »Heftln« wurden zwischen Tür und Angel aus der Kolporteurhand entgegengenommen und an so einem Lieferungstag war dann meist die Suppe versalzen, der Rahmstrudel etwas angesengt, das Fleisch zersotten.
Kam die Hausfrau in die Küche, so verschwand etwas unter einer Anrichte, die Mali, Moni oder Kathi war barsch und mürrisch, hatte rote Augen, und die Hausfrau meinte mitleidig: ... Sie hat halt wieder einen Kummer. Ihr Josef scheint ein rechter Schlawiner zu sein ...
Aber es war nicht Josef, um den die Mali weinte (den Josef hielt sie schon fest am Bandl), sondern es war Egon Sturmfels, der wackere Kapitän, dem der schurkische Reeder den Tod der Geliebten ins weite einsame Weltmeer melden ließ. Fälschlicherweise natürlich.
Diese Heftln haben sich viel herumgetrieben, sie kamen wohl auch manchmal aus der Küche in den Salon, in die Schultasche des höheren Töchterchens mit dem Mozartzopf, in die Hausmeisterwohnung, in den Sonntagnachmittagsfrieden eines alten Mädchens, zuletzt gebündelt von irgendwem auf den Speicher, wo sie mit anderem Kram der Tandler abholte.
»Ob das noch gekauft wird«, fragt man. Der Tandler zieht an seinem Schmurgelpfeifchen: »Mei', des hat ma' heut lang lieg'n! – D'Leut mög'n nimmer les'n! Wissen S' scho' – Kino und 's Radio – da mag sie neambd mehr de Müah macha ... Waar'n schöne Romane, des – sehr spannend ... Aber wer liest heut no' was...!?« Und damit waren Stand und Aussichten der Literatur jenseits von Gut und Böse in schlichter Resignation, aber umfassend dargestellt.