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Zwanzigstes Kapitel.
Alte Feindschaft – neue Freundschaft

Engel ging abends zu den Trummers. Sie ging jetzt öfter diesen Gang; sie fühlte sich gar zu einsam, seit beide Schwestern aus Hamburg fort waren. Dort konnte sie von Zuhause sprechen, traf auch öfter Gerd von Hamm, der ebenso gern vom Möwenhof redete wie sie, obgleich er – wunderlicherweise – nicht dort gewesen war. Auch spürte sie, wie sie den beiden alten Leuten eine Freude machte mit ihrem Kommen. Sie elektrisierte den Geheimrat, der immer noch die Schwäche im Arm hatte, sie musizierte mit der Klosterdame, sang ihr altmodische, feine Lieder und spielte mit den beiden und dem Neffen bisweilen Whist, den sie ihr beibrachten. Es war solch ein vornehmes, stilles Haus, wie sie es gern hatte, und der große Gegensatz zum Krankenhaus mit seinem nie rastenden Getriebe und seinen nur auf das Praktische und Hygienische eingestellten Stuben war so wohltuend. Wie sie da ausruhte!

Daran hatte sie aber nie gedacht, daß dies Haus mehr für sie werden könnte als ein angenehmer Aufenthalt für ein paar Abendstunden. Doch drei Wochen nach Hansines Abfahrt – ihr eigener Urlaub stand vor der Tür, und daheim lockte die Taufe und die Elternliebe und alles, was lieb und wundervoll war – an diesem Abend fragte Fräulein von Trummer: »Sagen Sie doch, Schwester Engel, wollen Sie eigentlich immer in ihrer alten Karbolbaracke bleiben, ihr Leben lang?«

»O nein, um keinen Preis! Das käme mir vor wie ewige Gefangenschaft. Ich bin doch erst zweiundzwanzig Jahr geworden.«

»Und was wollen Sie dann anfangen, wenn Sie aus dem Krankenhaus fortgehen?«

»Ich – ich weiß noch nicht recht. Darum bin ich ja auch noch dort.«

»Soll ich Ihnen einmal etwas vorschlagen? Es geschieht zugleich im Namen meines Bruders. Kommen Sie ganz zu uns!«

Engel sah sie erstaunt an.

»Ja, ich meine es wirklich so. Als – wie wollen wir es nennen? Das Wort Haustochter ist zu sehr mißbraucht worden, ich möchte es nicht anwenden. Kommen Sie als unsre Nichte oder als Gesellschafterin! Nein, das ist auch nicht, was ich meine. Sehen Sie, wir brauchen beide ein bißchen Jugend um uns. Der gute Gerd kommt ja immer einmal und sieht sich nach uns alten Leuten um, aber die paar Stunden im Monat, was ist das! Und ich hab' mein Leben lang so gern Jugend um mich gehabt. In der Familie ist aber nichts Junges außer dem langen Gerd. – Wenn Sie bei uns leben wollen, sollen Sie es so gut haben, als wären Sie unser Kind, und heiraten Sie einmal, wir würden so viel Spaß daran haben, eine Tochter auszusteuern. Heiraten Sie aber nicht, für Ihre Zukunft soll gesorgt sein. – Nun?«

Engel sah still vor sich hin. Das blendete, gewiß, aber sie war kein Mensch, der sich blenden ließ; sie sah allen Dingen auf den Grund. Es würde ein taten- und arbeitsloses Leben werden. Sie aber war Schwester geworden, weil sie tüchtige Arbeit und frisches Tun brauchte wie das liebe Leben. »Sie meinen es so gut, gnädiges Fräulein. Ich weiß gar nicht, womit ich das verdient habe. Aber ich – bitte, mißverstehen Sie mich doch nicht! – ich brauche feste Tätigkeit; das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.« Sie verstummte.

Fräulein von Trummer saß und sann vor sich hin. Es war eine lange Stille, und Engel schlug das Herz. Sie hatte doch nicht kränken wollen.

Endlich sagte die alte Dame in ihrer bestimmten Art: »Sie haben sehr recht, liebes Kind. Ich verstehe, was Sie meinen. Ja, und Sie sind mir nur umso lieber. Aber sollte es sich nicht machen lassen, daß Sie auch so Ihre Befriedigung finden? Sie wissen, wir haben drei Güter. Eigentlich hat sie mein Bruder, aber wir nehmen das nicht so genau. Diese Güter sind verpachtet. Später fällt das eine an Gerd, die beiden andern, die Majorat sind, an einen entfernten Verwandten in Flensburg. Nun ist aber die Pacht von Fredenskoog, dem Gut, das einmal unser Neffe erbt, abgelaufen, und wir haben beschlossen, dorthin zu ziehen und den bisherigen Inspektor des Pächters selbständig wirtschaften zu lassen. Unter uns, er war schon lange der rechte Regent dort, der Pächter war kein großer Held als Landwirt. Wenn wir nun auf Fredenskoog leben, dann gibt es dort Arbeit genug für jemand, der sich auf Krankenpflege versteht. Es soll auch ein Kinderheim gegründet werden für kränkliche Großstadtkinder; man sieht in Hamburg so viel Elend, das zwingt förmlich zum Helfen. Ist es auch nur ein Tropfen im Meer, das Meer besteht eben aus Milliarden Tropfen. Eine Gemeindeschwester ist zwar im Nachbarort, aber die kann nichts Neues übernehmen. Es bliebe also für einen jungen und arbeitsfreudigen Menschen, der sich auf Krankenpflege versteht, so viel zu tun, daß er übergenug hat.«

Engels Augen leuchteten auf.

»Nun haben Sie etwa ein Bild von dem Leben, wie ich es meiner Pflegetochter zugedacht hätte: Arbeit und heitere Stunden in Abwechslung. Fredenskoog hat nämlich viele und gute Nachbarn, wir leben nicht als Eremiten dort. Wollen Sie es sich nun überlegen, liebe Engel?«

»Ich glaube, ich brauche nicht zu überlegen, was mich betrifft, aber ich möchte doch gern mit meinen Eltern darüber sprechen, ehe ich mich entscheide.«

»Das ist ja selbstverständlich. Vielleicht geben Ihre Eltern umso lieber die Einwilligung, wenn auch mein Bruder ein gutes Wort einlegt. Da kommt er ja gerade. – Aloisius, ich werbe hier um unsre Pflegetochter. Sie hatte erst Bedenken; das Leben schien ihr zu leicht. Ich habe ihr aber Fredenskoog als schwere Arbeitsstätte ausgemalt, nun sieht sie die Sache schon etwas anders an.«

Herr von Trummer setzte sich zu den Damen. »Darüber können wir in den nächsten Tagen auf dem Möwenhof – er soll ja jetzt wieder so heißen – eingehender sprechen. Ich stehe nämlich augenblicklich in Briefwechsel mit ihrem Herrn Vater – geschäftliche Angelegenheiten – und da Ihre Eltern so liebenswürdig waren, den Wunsch nach einer persönlichen Bekanntschaft zu äußern, werden wir, meine Schwester und ich, Sie zur Taufe des kleinen Brüderchens begleiten. Es ist Ihnen doch hoffentlich nicht unlieb?«

Eine vergnügte Gesellschaft hatte sich am Morgen des zweiten Septembers auf dem Bahnsteig zusammengefunden: die Trummers, Engel und Gerd von Hamm. Herr von Trummer hatte durch seinen Diener die Fahrkarten lösen lassen. So fuhr Engel zweiter Klasse, was ihre eigenen Finanzen ihr nicht gestattet hätten. Sie war so ausgelassen lustig in der Aussicht auf die Heimat und alles Glück, das sie dort erwartete, sie wußte sich gar nicht zu fassen.

Fräulein von Trummer sah nachdenklich einmal sie und dann wieder den Neffen an; sollte da eine kleine Neigung im Spiel sein, die beiden die Augen so glänzen ließ? Das wäre ja reizend gewesen, obgleich sie dann auf die noch gar nicht sicher gewonnene Pflegetochter sofort wieder hätte verzichten müssen. Doch sie kam bald zu der Einsicht, daß Engel zu unbefangen harmlos war, denn auch nicht das leiseste Erröten bei den Neckereien des Vetters verriet mehr als ein ganz unschuldiges Gernhaben. –

Auf dem Duvenhof – die Leute in der Gegend konnten sich noch immer nicht an den neuen Namen gewöhnen, der doch nur der alte war – herrschte schon seit acht Tagen großes Leben. Hansine hatte der Mamsell fast das Zepter aus der Hand genommen, und Frau Sina durfte schon gar nicht in die Küche und den Keller kommen. Sobald sie sich sehen ließ, faßte eine der Töchter sie liebevoll um. »Schone dich, kleine Mama! Du brauchst deine Kräfte in den nächsten Tagen, wenn das ganze Haus voll Gäste ist. Lege dich unter die Blutbuche hinter dem Haus! Wir haben deinen Liegestuhl dahin gestellt. Mamsell und wir wissen genau Bescheid. – Ja, der Schlächter kommt morgen in aller Frühe. – Ja, Tauben sind so viele; der ganze Kuhstall sitzt voller Nester und der Taubenboden auch. – Ja, dem Kaufmann in Meldorf ist schon das Buch geschickt worden mit allen Bestellungen, die zum Backen noch in Frage kommen. – Und der Töpfer hat gestern den Backofen nachgesehen; er ist tadellos in Ordnung. – Ja, Dina sagt, Rosen seien noch reichlich da für den Tauftisch. Ja – da schreit der Stammhalter.« Hansine rannte aus der Küche und hinaus in den Garten, wo unter der Blutbuche der Wagen stand.

Der Stammhalter war unwirsch, denn eine Fliege setzte sich mit boshafter Ausdauer in sein kleines Gesicht, so oft auch die herumfuchtelnden Händchen sie für Sekunden wieder aufscheuchten. Zuletzt begann der junge Herr gewaltig zu schreien. Er war es nicht gewohnt, daß man ihn eine Viertelstunde allein ließ.

Die Schwester beugte sich über ihn und fing die summende Fliege, die sich unter dem Schirm des Wagens verfangen hatte. »Su su, was hat denn mein Kerlchen? Nun ist das böse Ding weg. Mein kleines Nickelchen, schrei doch nicht die halbe Marsch zusammen! Su su, die Fische gucken ja schon alle aus der See, was los sei.«

Sie ruckte leise am Wagen. Der Stammhalter schob die rosige Faust gegen die Lippen, und als er sie nicht hineinpressen konnte in das Mäulchen, begann er auf dem Daumen zu lutschen.

So fand ihn die Mutter. »Ihr werdet ihn noch schön verwöhnen, Hansi. Wenn ihr alle so lauft, sobald der kleine Erdenbürger nur die Stimme erhebt, könnt ihr einen netten Tyrannen aus ihm machen.«

»Ach, süße Mutter, wir sind ja nur so kurze Zeit hier! In der Zwischenzeit gewöhnst du ihm all die Untugenden wieder ab.«

»Das ist ja für mich eine recht angenehme Arbeit. Übrigens, Hans, warum gehst du denn so spät zu Bett?«

»Ich?«

»Ja, mach' nur nicht solch harmloses Gesicht! Ich hab' dich schon mehrmals noch nach Mitternacht oben gehen hören, und morgens hast du oft ganz rote Augen. Kannst du nicht schlafen?«

»Aber sicher, wie ein Murmeltier. Da hab' ich wohl mal nach der Lampe gesehen. Ich kann mich nicht dran gewöhnen, daß sie jetzt elektrisch ist. Immer denk' ich, man muß noch mal am Docht schrauben.« Sie lachte, sah aber dabei die Mutter nicht an.

»Du hast etwas, was du mir nicht sagen willst. Deine Augen lachen so verschmitzt. Na, es wird schon an den Tag kommen.«

»Das glaub' ich auch, liebste Maminka. Und nun will ich wieder in die Küche; es soll zu den Sandtorten Mehl gebeutelt werden. – Schlaf wohl, du kleiner süßer Molch!« Sie küßte den Bruder und lief in das Haus zurück.

Frau Sina sah sinnend in den blühenden Garten hinein. Heute mittag kamen die Trummers und Gerd von Hamm und ihr liebstes ältestes Mädchen. Zweiundzwanzig Jahre waren vergangen, seit sie so an Engels Kinderbettchen gesessen war. Wie lange schon hatten sie die Hoffnung auf einen Sohn aufgegeben und waren so glücklich gewesen mit ihrem Kleeblatt von Töchtern! Nur daß keine an den Hof denken mochte, das war ein bitterer Tropfen gewesen. Aber dann hatten sie sich gesagt: Alles kann man nicht haben; wir wollen dankbar sein für das, was wir besitzen. Sie dachte auch an schwere Stunden, von denen sie den Töchtern selten sprach, wo sie zweimal ein Töchterchen, kaum dem zartesten Alter entwachsen, dem Tod hatte lassen müssen, und daß in dem Herzen einer Mutter solch Leid nie vergeht, wenn auch das Leben weiter seinen Gang nimmt und Fremde die Lücke nicht spüren, die die Mutter in jedem Augenblick empfindet.

An der Kirche in Brarup, wo so viele Möwkes ruhten – mochten sie sich auch mit vielen fremden Namen geeint haben – dort an der Kirche, wo hart an der Mauer auch der junge Detlev Ludwig schlief, dem so früh das dunkle Los gefallen war, dort ruhten ihre zwei kleinen Töchter und wußten nichts von den großen Schwestern, die tapfer in das Leben hinausgingen, wußten nichts von der Mutter, deren Liebe immer noch ihrem kleinen Leben nachging, und wußten nicht, daß auch an diesem Morgen die Mutter bei ihrer Ruhestätte gewesen war und Rosen niedergelegt und geschnitten und gegossen und ihre Namen in Liebe genannt hatte.

Ja, das waren dunkle Tage in Sina Röders Leben gewesen. Und dann die mancherlei Sorgen, wenn harte Winter und schwere Eis- und Wassersnot die Saaten verdarben und die Wiesen mit Salzwasser überschwemmten, daß alle Siele und Brunnen voll Brackwasser gingen und Vieh und Menschen auf dem Hof krank wurden. Und der Herr sollte Rat schaffen, und die Frau sollte helfen.

Die Marschhöfe brachten wohl dem, der tüchtig war, oft großen Gewinn, aber sie brachten unendliche Arbeit und große Verantwortung. Und dann kamen die schweren Kriegsjahre, wo es hieß werken und schaffen und geben und immer geben und Kranke herbergen und Verwundete pflegen und nie erlahmen und den Kopf oben halten, wenn so viele in der Gemeinde verzagten. Denn alle sahen nach dem Duvenhof und sagten: »Die Möwkes – es nannte in der Gegend ja keiner die Familie anders – die Möwkes sind immer noch zuversichtlich. So schlimm kann es nicht werden, daß wir es nicht tragen können.«

Und dann der Zusammenbruch und die schreiende Not und das große Dunkel. Aber mitten im Dunkel junge Gesichter, die helle Augen hatten, und junge Stimmen, die sieghaften Klang trugen, und junge Herzen, die stark und freudig in das Leben schlugen und es bejahten. Nur eine Mutter weiß, was es heißt, durch den Tod gehen, wenn sie ihr eigen Fleisch und Blut hingeben muß; aber auch nur eine Mutter weiß, was es ist, eigenes Leben neu und hell neben sich aufwachsen zu sehen und so mitten im jungen Leben zu bleiben, mögen auch einmal die Haare grau werden und die Hände müde.

Und nun war es noch gekommen, das große Geschenk, das sie beide, Günter und sie, nicht mehr erwarteten: der Erbe des Hofes, der wieder einen sollte, was lange getrennt gewesen war.

Wie ahnungslos der kleine Kerl da schlummerte? Nichts wußte seine kleine träumende Seele vom Leben, nichts von den Hoffnungen, die Eltern und Schwestern an sein Dasein knüpften, nichts von den vielen Menschen, die morgen an seinem Ehrentag segnend neben ihm stehen würden. – Frau Sina waren die Lider über die Augen gesunken.

Der Herbst ist milde hier oben an der See. Er spendet Sonne und klare Luft und späte Rosen in Fülle, und er hat starke, breite Schwingen; mit denen wiegt er sich über dem weiten Land und der unendlichen See und schenkt goldene Tage, ehe die wilden Stürme über den Atlantik heranjagen und zum Kampf rufen.

Wie warm die Sonne auf den geschlossenen Augen lag! Wie das schimmerte hinter den Lidern! Lauter Gold und Rosenglut. Ach, es war herrlich, so in der Herbstsonne zu sitzen! Man fürchtete den Winter nicht, wenn so der Herbst kam.

Wie Frau Sina so saß, legte sich Wärme und Stille schwer auf die Augen; das Rot und Gold verdämmerte, der Schlaf kam. In der Nacht hatte der junge Herr des Hauses viel gelärmt, nun mußte die Mutter dafür büßen. Aber es war eine leichte Buße, hier an der Hauswand im Schatten des Baumes zu schlafen.

Längst war der Wagen nach Brarup gefahren, um die Gäste zu holen. Hansine lenkte die Pferde, Dina saß neben ihr; hinten war in dem leichten, offenen Fuhrwerk Platz für die vier Gäste, die erwartet wurden.

Ehe sie fuhren, hatte Ovedine aus der Hintertür in den Garten gespäht. »Mutter schläft, wir wollen sie nicht stören.« Und die fliegenden Räder jagten in das Land hinein.

Als sie zurückkamen, wurde Sina wach von dem Rollen des Wagens und dem Schlagen der Hufe auf der breiten Bohlenbrücke, die drunten an der Wurt den Graben überwölbte, der sich um jeden alten Hof zieht. Aber sie war so tief im Traum gewesen, daß sie minutenlang noch den schwebenden Bildern nachsann, die um sie gewesen waren. Wie war es doch? Was hatte sie gesehen? Sie fand den Zusammenhang nicht mehr. Nur daß ein großes Leuchten um sie gewesen war und singende Stimmen und das Rauschen der See.

Ein heller Ruf: »Mutter! Meine herzliebste, ach, meine liebe, süße, allerbeste Mutter!« Um ihren Hals lagen zwei zärtliche Arme; ein Paar strahlende Goldaugen waren über ihrem Gesicht. Engel küßte sie und drückte sich an sie und hatte vor lauter Glück wieder ein bißchen nahe ans Wasser gebaut. Plötzlich ließ sie die Mutter wieder los und rief: »O wie süß!«, obgleich sie noch gar nichts sah, hob den Vorhang zur Seite und erblickte tief in weißen Kissen ein kleines Kinderköpfchen. Sie hätte am liebsten den Bruder herausgerissen und stürmisch geherzt und geküßt, war aber doch als Schwester so gut erzogen, daß sie wußte: kleine Kinder müssen sanft angefaßt werden. In seliger Freude hielt sie den Atem an. »Mutter, ist er nicht eine Wonne? Ach, sag' mal, bist du schon einmal so glücklich gewesen wie über den kleinen Jungen?«

»Doch, Engel. Ich bin immer so glücklich gewesen, wenn mir ein junges Leben in den Arm gelegt wurde, und wohl am glücklichsten, als sie dich mir gaben, mein Herzenskind. Denn das erste Kind, das ist für ein Mutterherz ein so großes, so himmlisches Wunder; die Stunde kommt nur einmal im Leben.«

Engel schmiegte sich wieder an die Mutter. »Und dann werden die Kinder groß und gehen hinaus in die Welt und segeln auf eigenen Flügeln; undankbar sind sie.«

»Sie tun, was alle Jugend tun muß, wenn sie stark und tüchtig werden will. Und einmal kommt – nach Jahrzehnten – auch ihre Stunde, wo sie junges Leben in das große Leben hinausgeben müssen – eine endlose Kette von Geschlechtern. Aber daß diese Geschlechter nicht hingehen wie über eine öde, trübe Ebene, sondern daß sie weiter aufsteigen zu Höhen und Licht, das ist unsre Pflicht.«

Man hörte Stimmen von der großen Hausdiele her. Sina Möwke stand hastig auf. »Wir philosophieren hier, und drinnen sind die Gäste. Was müssen Trummers von mir denken, daß ich ihnen nicht entgegengekommen bin!«

»Laß nur! Man hat uns noch nicht vermißt. Der Vater war da und vertrat ganz ausgezeichnet die Familie.«

Sie gingen hinein, und es war, kaum daß die erste Begrüßung vorüber, als sei eine alte Bekanntschaft erneuert, nicht als sähen sich Fremde hier zum erstenmal im Leben. –

Als Sina Möwke an diesem Abend in ihr Schlafzimmer kam, lag auf ihrem Bett etwas Schimmerndes, Lichtes, und als sie genauer hinsah, war es ein wunderfeines Taufkleid aus Tüll und Spitzen mit eingestickten weißen Ährenbüscheln und Kornblumen. Daneben ein Zettelchen: Dies Kleid haben drei Schwestern gestiftet für den kleinen Bruder, und es soll künftig das Taufkleid aller kleinen Möwkes sein, die von Möwkenkindern stammen, auch wenn sie einen andern Namen tragen. – Darunter die Namen der drei Schwestern: Engel, Hans und Dina.

Da wußte Frau Sina, warum abends im Giebelzimmer noch nach Mitternacht Geräusch gewesen war. Dort hatten sie gesessen und gestickt, dies Kunstwerk zu schaffen.

Der kleine Hans Ove Angelus trug es am nächsten Tag bei der Taufe, mit den Knospen von Monatsrosen an den winzigen Ärmeln und an der Brust. Rosen und rotbunter Wein und dunkle Efeublätter schmückten den Tauftisch, und Rosen trugen die drei Schwestern zu ihren weißen Kleidern, als sie in den Kreis der Gäste traten, Engel, als die Älteste, den Täufling auf den Armen tragend.

Der Prediger aber sprach von der Not der Zeit und dem Dunkel, durch das wir gehen müssen, und wie mitten in der Dunkelheit junges Leben aufersteht wie helle Leuchten am Weg, Licht spendend, weil es selber von dem gesandt ist, der aller Welt Licht und Leben sein will.

Der kleine Hans Ove lag mit großen Augen, blickte der Schwester in das Gesicht, wandte den kleinen Kopf und sah ebenso aufmerksam in die Flamme der beiden hohen Silberleuchter, alter Stücke des Hauses, die rechts und links neben der Taufschale brannten. Der Widerschein des Lichts entzündete in seinen klaren Kinderaugen flimmernde Sterne.

An diesem Abend schrieb Sina Röder-Möwke, die bisweilen ihre Gedanken in Reime fügte, unter die Erinnerungen, die sie für ihre Töchter gesammelt, als Abschluß zwei kurze Verse:

Ein bißchen Lärm muß im Leben sein,
Ein bißchen Lachen und Sonnenschein,
Ein bißchen Jubel
Und lachende Augen und sieghafter Gang,
Und von jungen Kehlen klingender Sang
Und ein bißchen Getrubel.
Und hätt' ich die jungen Kinder nicht mehr,
Das Leben dünkt' mich schal und leer,
Tot wäre die Erde.
Wir Alten, wir müssen ins Dunkel gehn,
Aber sie sind das leuchtende Auferstehn,
Das ewige Werde.

Als die Familie am andern Morgen früh beim Kaffee zusammensaß – Herr von Trummer und das Stiftsfräulein schliefen noch, nur Gerd von Hamm war schon ebenso früh munter – sagte der Vater: »Unser Junge hat in seiner kleinen Hand dem Hof eine große Gabe mitgebracht. Oder hat Engel sie uns geschenkt? Nun, das geht wohl zusammen, wir wollen es nicht messen und wägen.«

Die Mutter lächelte, sie wußte, was das hieß; die jungen Leute sahen ihn erwartungsvoll an. »Nach einigen vorausgegangenen Briefen hat mir Herr von Trummer gestern eine Schenkungsurkunde überreicht, durch welche die Deichwiesen schon jetzt an unsern Hof zurückfallen. Er meint, er wolle das lieber erleben und sich mit uns freuen, als wissen, daß jemand auf seinen Tod warte. Davon wissen wir uns wohl alle frei, aber daß eure Mutter und ich seine Gabe mit großer Freude und Dankbarkeit annahmen, das brauche ich wohl nicht erst zu sagen.«

»Onkel kann die Wiesen leicht entbehren,« sagte Hamm. »Seine Einkünfte sind mehr, als er und Tante je verbrauchen, und wenn er sich dadurch die Freundschaft im Hause erwirbt, und wenn Engel …«

»Was hat Engel mit den Deichwiesen zu tun?« rief Hansine lebhaft.

»Ich gehe zum November, eher kann ich nicht kündigen, von Sankt Georg ab und zu Fräulein von Trummer.«

»Du? Als Gesellschafterin? Oder als was sonst? Das glaub' ich nicht.«

»Sie nennt es Pflegetochter. Ich soll auf ihrem Gut Fredenskoog zugleich die Kranken- und Kinderpflege übernehmen. Es wird da ein Heim für schwache Stadtkinder gegründet. Das wird mir schon Arbeit geben.«

»Und das alles hinter meinem Rücken? Und Gerd weiß davon und ich nicht? O du heuchlerisches Krokodil! Und so was nennt sich treue Schwesterliebe!«

»Du warst ja nicht in Hamburg, und Herr von Hamm hat es gar nicht von mir, sondern von seiner Tante, und …«

»Sag' gar nichts mehr! Du hättest hier längst reden können; gestern abend war so viel Zeit. Ich halte mich künftig nur noch zu Dina, die ist besser.« Dann fiel sie dem Vater um den Hals. »Pap, bist du nun sehr glücklich? Nun ist der Möwenhof erst wirklich wieder der Möwenhof. Nun kommen die alten Zeiten wieder.«

»Möchtest du das, Hans? Die alten Zeiten hatten auch sehr ihre Schattenseiten. Schwere Arbeit und sehr viel Wassersnot und Durchbrüche und Gewalten; und von einer töchterlichen Freiheit, sich das Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten, war damals noch keine Rede.«

»Na ja, also behalten wir lieber die Gegenwart. – Warum hißt denn Jochen draußen die Fahne auf dem Hof? Heute ist doch keine Taufe mehr. Was in aller Welt soll denn das bedeuten?«

»Sollen wir es nicht feiern und in die Welt hinausleuchten lassen, daß der alte Möwenhof wieder neu erstanden ist?«

»Ja, ich bin wieder mal dumm.«

»Und redselig,« sagte Engel und zog sie am Kleiderrock zurück auf ihren Stuhl. »Nun laß andre Leute auch mal zu Wort kommen!«

»Ich sag' ja kein Wort mehr.«

Aber weil die Unruhe ihr in allen Blutstropfen saß, sprang sie gleich wieder hoch, lief in das Haus, kam nach drei Minuten wieder, schob den Kinderwagen und lachte mit dem kleinen Bruder, der noch wenig Verständnis dafür bezeigte.

Sie fuhr ihn durch die Gartenwege, auf denen die helle Morgensonne lag, und als Hamm zu ihr trat, wurde er sehr gnädig empfangen, bis er gedankenvoll sagte: »Zu denken, daß man auch einmal solch entzückendes kleines Menschenkind gewesen ist!«

Da flammte Hansine empor und war ganz der kurz angebundene Hans. »Aber das muß schon sehr lange her sein.«

Am Frühstückstisch hörten sie das Lachen Hamms, wie es schmetternd über den Rasen kam: »Ach Hans, wann werden Sie eigentlich Hansine?«

»Nie!« kam es zurück.

Am nächsten Tag, als Hamm heimreiste nach Hamburg, schüttelte sie ihm kameradschaftlich die Hand, aber wenn der Vetter sich von diesem Besuch mehr versprochen hatte als Kameradschaft, so war es eine Täuschung gewesen. Doch er ließ sich nichts merken und versprach nur etwas zögernd, am Weihnachtsfest wieder als Gast zu erscheinen, damit man Engel dann nicht zu sehr vermisse; denn Engel, wenn sie einmal auf Fredenskoog eingewurzelt war, werde zum Fest dort ihre Pflichten haben und höchstens zu Neujahr kommen können. Dann fuhr er allein nach Hamburg zurück.

Trummers blieben noch eine Woche auf dem Möwenhof. Sie wollten das Land gründlich kennenlernen, dessen Leben seit so langen Zeiten mit ihrer Familie verbunden gewesen war, und das sie doch nie betreten hatten. Die Wiesen waren seit Jahrzehnten einem Hamburger Viehzüchter verpachtet gewesen, die hatten keine Aufsicht verlangt. Und was hätte sie sonst in die stille Marsch führen sollen? Nun mußten ihnen die Schwestern alles zeigen, was den Brarupern eigentümlich war: die alten Höfe mit den massigen Wohnhäusern und Scheunen, die reichen Viehherden, die fetten Weiden, die Wasserläufe und ihre Schleusen, und vor allem immer wieder die See.

Das Wattenmeer hatte seine schönste Zeit, das heißt die schönste Zeit für die, die Sturm und Flut nicht lieben. Es lag Tag für Tag in der reinen Herbstsonne wie eine wundervolle Schale von Perlmutter, jeden Sonnenglanz spiegelnd, jede Spur des Abendlichtes in seinen seidenen Falten als weiches Leuchten zurückwerfend, zauberhaft schön und nur leise atmend im spielenden Winde. Acht Tage lang tat es so harmlos und gut, bis zum letzten Abend.

Am nächsten Morgen wollten Trummers fahren. Da schoben sich gegen Abend dunkle Wolken im Nordwesten empor. Der Wind wachte auf, warf sich aus den finstern Heerzügen droben nieder auf das Wasser und schlug es mit harten Ruten. Die Flut murrte auf. Aber der Wind ließ sich nicht beirren. Schärfer wurden seine Streiche und immer schärfer. Und als die Wogen aufrauschten, ihren Geifer versprühten und gegen den Strand zu rennen begannen, da faßte er mit beiden Händen hinein in ihre Tiefen, riß sie auseinander, schleuderte Woge gegen Woge, warf die kreisenden Möwen durch die Luft, daß sie taumelten und kreischten, stürmte gegen den Deich, als wollte er ihn in einem Ruck durchbrechen, machte aus der schimmernden Perlmutterschale, die in allen Himmels- und Rosenfarben geglüht, einen grauen, kochenden Hexenkessel und lachte, als Harm und Teten an den Strand gerannt kamen und ihr Boot hoch hinaufzogen am Deich. Er lachte noch viel mehr, als die dicke »Nikoline« durch die stürzenden Wasserberge heranrollte, auf und ab, auf und ab, mit stöhnenden Flanken, mit krachendem Kiel, bis sie endlich am Steg von Lilebüll, wo der Deich die große Biegung macht, in Schutz kam und Dampf schnaubend stillag.

Droben im Giebelzimmer der Schwestern stand das Stiftsfräulein noch im sinkenden Abend und sah durch das Fernglas auf die tosende Wasserhexe. Bisweilen fuhr sie ein bißchen zusammen, wenn eine Riesenwoge so gegen den Strand heranbrach, daß es war, als müßte sie in das Zimmer stürzen. »Ja,« sagte sie zu Engel, die bei ihr war, »das ist eine andre Sache als die Tage vorher. Man sollte wirklich nicht glauben, daß es dasselbe Gewässer ist.«

Sie rief nach ihrem Bruder. Aber der Herr Geheimrat hatte keine große Begeisterung für solch Unwetter; er saß lieber in der Stube des Hausherrn und studierte die Eintragungen in der alten Bibel.

Als sie am andern Morgen abfuhren, heulte der Wind um das Haus, es krachte von zufliegenden Scheunentoren, Stroh flog, losgerissen von der Miete hinter dem Kuhstall, den Menschen um die Köpfe, Sand in die Augen, und Herr von Trummer sagte: »Es hat doch auch seine Schattenseiten, hier zu wohnen, wenn solche Stürme kommen.«

»Stürme!« entgegnete Röder lachend. »Das ist im Leben kein Sturm, Herr Geheimrat; das ist nur eine Mütze voll frischen Winds.«

Da hatte der Geheimrat keine Worte mehr. Er kletterte eilig auf den leichten Wagen und war froh, als er in Brarup in den Zug steigen konnte. Der Mensch muß nicht von allem haben. See und Sturm waren nicht seine Liebhaberei.

Vierzehn Tage später fuhren auch Engel und Hansine, Engel nur noch auf einen Monat, um dann nach Fredenskoog zu gehen.

Inzwischen bereiteten Trummers ihren Umzug aus Hamburg nach dem Gute vor. Das große Hamburger Haus wurde in seinen unteren Räumen vermietet, sie behielten nur fünf Zimmer als Wohnung zu kurzem Aufenthalt in der Stadt. »Wie mir das einsam sein wird!« sagte Hans, als sie sich mit dem Zuge der großen Stadt näherten. »Dina ist selig, daß sie wieder bei Mutter bleiben kann und den Jungen betreuen. Es ist ein Jammer um ihre Gabe, aber wenn sie nun einmal solche fliegende Angst vor dem Publikum hat, was soll man da machen? Ich hab' genug gebeten und gescholten; unsre Lüttje, so sanft sie scheint, tut doch nur, was sie will.«

»Aber sie will nur, was sie für richtig hält,« fügte Engel hinzu. »Laß nur! Dina schlägt nach den ruhigen, verständigen Röders, und wir sind Möwkes. Ich glaub', der Jung' wird auch einer. Er hat schon so was in der Stimme, wenn er schreit; der geht auch noch mal mit dem Kopf durch die Wand.«

»Wenn er nur einen heilen Kopf dabei behält. Laß ihn!« »Und ein heiles Herz,« sagte Engel.

»Warum siehst du mich so nachdenklich dabei an? Ich kann dir versichern, mein Herz ist in einer durchaus tadellosen Verfassung.«

»Desto besser.«

Der Zug pfiff gellend, sie fuhren in die Halle des Hauptbahnhofes ein. Zu langen Unterhaltungen war keine Zeit mehr. Jede ergriff ihr Köfferchen, und dann ging es im drängenden Schwarm die breite Treppe hoch, durch die Sperre und hinaus.

»Also laß dich bald mal sehen, Hans! Abends nach acht bin ich immer für dich zu sprechen. Ich werde wohl so bald keinen freien Nachmittag haben, besonders wenn ich nun kündige. Da wird man die letzte Zeit noch ordentlich hochgenommen.«

»Wiedersehen, mein Engel! Ja, ich komme vielleicht morgen mal einen Augenblick heran. Laß dir's gut gehen!«

Sie nickten sich zu, und jede ging wieder hinein in ihr Tagewerk.

Doch es war wunderlich, es wollte Hansine gar nicht schmecken. »Ferien sollten nicht sein,« sagte sie zu den Gefährtinnen in der Schule. »Man schmeckt dann erst wieder, wie schön die Heimat und die Freiheit ist.«

Die Nachbarin aber, die keinen Möwenhof zur Heimat hatte, sondern in Hamburg bleiben mußte in einer engen, heißen Wohnung, antwortete: »Ich bin ganz zufrieden, daß wir wieder anfangen. Man versäumt nur Zeit, und Zeit ist Geld für mich. Jeder Tag vorwärts zur Prüfung ist ein Gewinn. Meinen Eltern wird mein Studium sauer. Ich muß voran, daß ich es ihnen einmal vergelten kann.«

Sine seufzte, etwas, was ihr selten geschah. Sie war mehr für einen ehrlichen Zorn als für einen schmachtenden Seufzer.

»Wenn ich Sie wäre,« sagte die Nachbarin, »ich säße überhaupt nicht hier. Sie haben es doch nicht nötig.«

»Ich hab' es sehr nötig. Weiß ich, wie mein Lebensweg mal läuft? Selbst wenn ich mich alle Tage in Samt und Seide wickeln könnte, ich brauche Arbeit und Vorwärtsschaffen und einen Sporn. Sonst werden mir die Tage wie ein dicker, träger Sumpf.«

»Na ja, es muß auch solche Käuze geben.« Sie vertieften sich in ihre Zeichnungen.

Aber die Öde, wenn man in die Pension kam! O wie Dinas süßes Gesichtchen fehlte und ihr weiches Kinderlachen und ihr Geigenspiel! Nie war sie übellaunig gewesen, mochte Hans auch brummen und schelten. Wie nett das gewesen war, wenn sie fragte: »Na, mein alter Bär, was murrst du denn? Haben sie dich geärgert? Knurr' dich nur aus! Sonst bekommt dir das ganze Abendbrot nicht. Sieh mal, ich hab' dir auch 'ne saure Gurke geholt; sauer macht lustig.«

Jetzt sorgte keiner mehr für so kleine Freuden des Daseins, und wenn man sich selbst etwas Saures holte und es in der Einsamkeit aufknabberte, so wurde man doch nicht lustig davon.

Engel aber hatte so wenig Zeit, und diese wenige Zeit brachte sie noch zum großen Teil bei den Trummers zu, denn der Umzug verlangte viel Überlegen, und das Stiftsfräulein wollte die künftige Pflegetochter schon möglichst in alles einweihen, was künftig geschehen sollte.

Und der abscheuliche Vetter Gerd, der ja zwar keiner war, aber sich doch selber dazu ernannt hatte unter der Einwilligung der Eltern, der ließ sich auch nur einmal in der Woche sehen und begnügte sich im übrigen mit gelegentlichen Telephongesprächen.

Hansine fand den Herbst gar nicht angenehm, besonders als noch das bekannte Hamburger Matschwetter einsetzte, alle Dächer trieften, alle Leute mit Regenschirmen liefen, Gummischuhe eine unbedingte Notwendigkeit wurden – wie haßte sie Gummischuhe! – und es in den Zimmern feucht und kalt war. Alle Gegenstände rochen nach Moder, und der Mantel wollte von einem Tag zum andern nicht trocknen. Die gute Sagebiel redete zwar von Heizen, aber Hansine hatte mal wieder zuviel Geld für einen Seidenstoff ausgegeben, den sie nach japanischer Art mit Gold und Seide besticken wollte – es mußte ganz etwas Herrliches werden – und dieser Seidenstoff samt Gold und Seide hatte das Kohlengeld gefressen. Doch wenn Engel da in dies gräßlich reiche Haus kam, sollte sie auch was für ihr Zimmer haben, was sich mit den Trummerschen Herrlichkeiten messen konnte.

Hansine saß die Abende bis tief in die Nacht hinein und stickte, sehr zum Schaden ihrer Augen, die müde und rot wurden. Wenn sie sich aber einmal etwas vorgenommen hatte, dann mußte es ausgeführt werden. Als Engel nach fünf Wochen Abschied nahm, lag in ihrem Koffer die schimmernde, goldfarbene Seide mit den steifbeinigen, silbergrauen Reihern zwischen hohen Schilfstengeln, die goldene Kolben trugen. Sie war so erschüttert von dem Geschenk, daß sie schnell ein paar Tränen zerdrücken mußte. Dicht drückte sie sich an ihren Hans, so daß die trocken sagte: »Ja, nun zum Abschied, nun tust du so, als hättest du mich lieb. Vergiß mich nur nicht zwischen all deinen ländlichen Herrlichkeiten!«

»Ach, mein Hans, mein alter, liebster, bester Hans, du bist doch mein Aller-Allerbestes! Ach Hans, wir sollten doch lieber immer zusammenbleiben!«

Die schluckte mühsam die eigene Rührung hinunter. »Dazu ist es nun zu spät. Laß es dir gut gehen, mein Engel, und komm zu Neujahr wenigstens auf den Möwenhof! Lieber Himmel, bis dahin sind noch fast zwei Monate! Wie halt' ich die aus!« –

Ja, sie mußten ausgehalten werden. Der Vetter hatte auch ein Einsehen und kam einmal mit einer Theaterkarte zu Tannhäuser, ein andermal mit der Aufforderung, sich den Nibelungenfilm anzusehen. An einem Sonntag machten sie eine lange Wanderung, landeten bei Hagenbeck und sahen sich die Eisbären im Schneetreiben an, das diese sehr viel angenehmer empfanden als die Zuschauer. So vergingen die Wochen, und Weihnachten stand vor der Tür.

»Ich weiß nicht,« meinte Hansine, als die beiden sich auf dem Bahnhof trafen, »ich denke, Sie sind Weihnachten immer bei Ihren Verwandten gewesen.«

»Ja, gewesen, immer zwischen den furchtbar guten, aber furchtbar alten Leuten. Nun aber, wo die jemand anders haben, nun möchte ich auch einmal das Fest mit Jugend verleben.«

»Das ist ja ein gräßlich egoistischer Standpunkt.«

»Ich bin auch ein gräßlicher Egoist. – Da kommt der Zug, wir können einsteigen.« Er öffnete ein Abteil zweiter Klasse.

»Auf Wiedersehen!« sagte Hansine, als er eben eingestiegen war, um zwei Plätze zu sichern. »Ich fahre nämlich am andern Ende des Zugs.« Und ehe er sich recht umsehen konnte, war sie in der Menschenflut untergetaucht und strebte zur vierten Klasse, denn die Weihnachtsgeschenke und dann noch Zeichenbrett und Farben für den Schlackerjochen – zuletzt hatte sie noch zwei farbige Zeichnungen von Alt-Hamburg gesehen, die der Vater durchaus haben mußte – da blieb nur die vierte Klasse übrig.

Es war ein Drängen und Schieben an diesem Tage. Zwei Tage vor dem Fest, die Schulen eben geschlossen – was wollte da alles mit! Mit vieler Mühe ergatterte sie noch einen Stehplatz und stand da in ihrer ganzen Schlankheit mit blanken, vergnügten Augen, denn sie stellte sich Hamms Gesicht vor, wenn er sie auf einmal nicht mehr sah.

Hansine war schon so manchesmal vierter Klasse gefahren, wenn die Moneten versagten, aber so üble Reisegesellschaft wie diesmal hatte sie noch nicht getroffen. Und es waren drei Stunden bis Brarup. Sie wünschte auf einmal, sie hätte den Vetter nicht so hinterlistig verlassen. Doch zum Glück stieg die Gesellschaft in Altona aus, so daß sie einen Sitzplatz bekam. Dafür drängten Bauersfrauen mit Kiepen und Körben in den Wagen, daß es zum Ersticken eng und dunstig wurde. Ja, so zwei Tage vor Heiligabend und noch dazu an einem Sonnabend, das war eine eigene Sache. Von Hamm hatte Hansine auf dem Altonaer Bahnhof nichts gemerkt. Warum nahm sie auch an, daß er sie suche? Er saß auf seinem Platz in der zweiten Klasse und sie auf dem ihren in der vierten, und so konnte es bis Brarup weitergehen.

Sie verbiß sich in einen gelinden Zorn gegen den Vetter, zu dem kein Grund vorhanden war. Wie aber in Pinneberg wieder ein großer Personenwechsel eintrat, sagte jemand: »Na, da sind Sie ja, Hans!« und neben sie setzte sich der Vetter.

»Aber was tun Sie hier in der Vierten?«

»Genau das gleiche wie Sie, ich lege die Reise nach Brarup zurück. Es war mir da vorn zu langweilig so allein. Wissen Sie übrigens, daß es möglicherweise große Schneeverwehungen gibt? Ja, in Hamburg haben wir es nicht so gemerkt, aber im Lande soll es massenhaft Schnee gegeben haben, und nun noch der scharfe Wind. Hinter Wilster werden wir wohl irgendwo stecken bleiben.«

»Ich nicht, ich will heute abend zu Hause sein.«

»Es dürfte unter Umständen einmal nicht nach Ihrem Willen gehen.«

»Das würde Sie freuen, wie?«

»Aber, aber! Wer wird denn zwei Tage vor Weihnachten so streitlustig sein!«

»Wenn mir jemand meine Weihnachtsfreude stören will, werde ich zur Löwin.«

Sie lachten sich an, und Hansine freute sich im stillen, daß der Vetter sich zu ihr in die Vierte gesetzt hatte. Als gute Freunde kamen sie bis Wilster, da aber gab es Hindernisse. Nicht nur der Schnee, der seit einer Stunde wieder in dicken Wolken niederging, auch das Wasser machte Schwierigkeiten. Seit Wochen hatte Westwind geherrscht, und die überfüllten Gräben und Siele hatten die steigende Flut nicht aus dem Lande hinaus in die See schaffen können.

Weithin war alles Land unter der dunklen, langsam steigenden Flut begraben, nur Straßen und Dörfer lagen noch trocken. Nun hatte mit dem Schneefall seit gestern Sturm eingesetzt, der die Wasser an verschiedenen Stellen gegen den Bahndamm warf. Waren es auch keine hohen Wellen, die er in der zwei bis drei Fuß hohen Wassermasse hervorrufen konnte, so genügte doch das unaufhörliche Platschen und Spülen, die weichen Erdmassen zu unterwühlen. Der leichte Frost, der seit der Nacht eingetreten war, hatte noch keine Kraft, eine Decke über die Flut zu schlagen, er hinderte nur die niedergehenden Schneemassen am Schmelzen. Eine halbe Stunde hinter der Station war eine gefürchtete Stelle beim Winterverkehr. Dort schoben sich einige Bodenwellen in den sonst tellerglatten Boden. Sie waren beim Bahnbau durchstochen worden, aber nun setzte sich der Schnee bei solchem Wetter und Wind zwischen ihre drei Meter hohen Wände, und die Lokomotiven fuhren sich fest. Zwar die Eilzüge, die im Sommer zu den reichen Nordseebädern hinausfuhren, die hatten neumodische Riesenlokomotiven, denen das Hindernis nicht viel zu schaffen gemacht hätte, aber im Winter fuhren sie nicht, und der Ajax, der vor dem Braruper Zug pfiff und dampfte, war kein Recke an Kraft.

Der Stationsvorsteher war sehr geneigt, den Zug liegen zu lassen, bis aus Glückstadt eine von den großen Dampfschwestern herantelephoniert war. Darüber konnten immerhin zwei Stunden vergehen, denn das Anheizen und Dampfaufbringen wollte seine Zeit haben. Doch ein Teil der Reisenden wollte von dieser Verzögerung nichts wissen; man kam dann erst in sinkender Nacht am Ziel an. In Brarup zum Beispiel würde der Wagen längst fort sein; man würde denken; die Tochter sei über Nacht in Glückstadt geblieben.

»Ich will und muß heute noch nach Hause,« sagte Hansine erregt.

Die meisten Reisenden waren aus dem Zug gestiegen und standen in lebhaft redenden Gruppen auf dem Bahnsteig. Nach einer Viertelstunde wurde bekanntgemacht, der Zug gehe weiter, aber er könne nur langsam fahren, und wer in Wilster bleibe, der tue wahrscheinlich klüger daran. Doch der größte Teil der Fahrgäste stieg wieder ein; man war solche Fahrten hier an der Küste gewohnt.

Die erste Viertelstunde ging es ganz gut. Ajax keuchte und schnob und überwand mit einigen Anläufen, was sich an Schneewehen entgegenstellte. Dann aber begann er zu kriechen wie eine Schnecke, und wenn man aus dem Fenster sah, wurde die Ursache ohne weiteres klar. Rechts und links vom Damm blänkerte durch den fallenden Schnee das schwarze Wasser, kräuselte sich im Wind und spülte am Damm. Bisweilen stand es so hoch, daß es aussah, als fahre der Zug mitten in der dunklen Flut. Dann begann der Damm zu steigen, das Wasser lag nicht mehr hart an den Schienen, es wurde zu harmlosen Landseen, aus denen Bäume, Dörfer, alte Deiche – jetzt als Straßen dienend – hervorsahen, und wo das Schwarz des Wassers nicht war, da lag dicker, schlohweißer Schnee. Die Strohdächer hatten Pelzkappen auf, die Bäume trugen Winterpelz, nur die krächzenden Krähen brachten Tintenflecke in das reine Weiß.

Aber die Lokomotive schnaufte von Minute zu Minute heftiger. Sie saß jetzt in dem langen Paß zwischen den Bodenwellen, und der Schnee hatte sich hier hineingeflüchtet vor dem treibenden Winde, als sollte er alles, was nach Höhe und Tiefe aussah, zum ebenen Gleichmaß einglätten. Ein gellender Schrei der Dampfpfeife, noch einer – da stand sie.

»So,« sagte Hamm, »das kann heiter werden.«

Ein Rucken, Ajax versuchte sich rückwärts zu bewegen, dreißig Meter, vierzig Meter. Er nahm neuen Anlauf. Dann wieder ein Pfeifen, und wieder ein Festsitzen.

Schaffner kletterten an den Wagen hin. »Die Reisenden müssen schippen helfen.«

Schaufeln waren von der Station aus mitgenommen worden. Die Reisenden schippten, daß ihnen der Schweiß über die Stirn lief. Der Zug rollte ein Ende zurück und stürmte wieder gegen den Schneewall. Nun saß die Lokomotive so tief drin in der Schneewehe, daß sie auch nicht wieder rückwärts konnte. Was nun?

Es blieb nichts übrig, als auszusteigen, den Damm an der Seite zu erklimmen und zu versuchen, das nächste Dorf zu gewinnen. Obgleich es erst halb vier Uhr war, so fiel doch die Dunkelheit herein, unterstützt von den tiefgehenden Schneewolken. Zum Glück lag das Dorf nicht weit, und schneebedeckt, mit Flocken im Haar und in den Wimpern, mit Füßen, bleischwer von den anhaftenden Schneeklumpen, mit Hüten und Mützen, die wie kleine, weiße Hügel waren, aber im ganzen doch sehr vergnügt kam die ganze Zugmannschaft in Sankt Elisabeth an. Nur ein kleiner Teil der Reisenden hatte es vorgezogen, im Zug zu bleiben.

Das einzige Wirtshaus war zum Glück im Sommer ein beliebter Ausflugsort; so hatte es eine große Gaststube. Man drückte sich hinein, so gut es ging, und der Wirt sorgte für Schinkenbrot, Kaffee und Teepunsch. Die erste Not war vorüber.

Hamm sorgte für seine Dame wie ein Ritter. Hansine fühlte sich in dem Winkel, wo er ihr dicht am Ofen ein Plätzchen verschafft hatte, sehr behaglich und dachte im stillen: »Doch gut, wenn mal ein andrer für einen sorgt! Aber wann kommen wir hier weiter?«

Ausgesandte Botschafter kamen wieder und berichteten, vor dem andern Morgen sei kein Gedanke an Weiterfahrt, vorausgesetzt, daß dann eine Hilfslokomotive eingetroffen sei, die, rückwärts angespannt, den Zug zunächst einmal aus seiner Not herauszuziehen hatte. Dann müsse man weiter sehen.

Die ganze Nacht hier in dem überfüllten Wirtshaus? Gab es Gastzimmer? Kein einziges. Es waren zwar zwei vorhanden, aber in denen waren für den Winter die Schwiegereltern des Wirts untergebracht. Und in den Bauernhäusern des Dorfs? Nein, die Leute ließen sich auf so etwas nicht ein, waren auch gar nicht darauf eingerichtet.

»Wir müssen sehen, daß wir hier irgendwie herauskommen,« sagte Hamm. »Wollen Sie sich mir nun einmal ganz ruhig und verständig überlassen, Hans?«

»Es wird mir wohl nichts andres übrig bleiben.«

»Dann warten Sie hier still auf mich, und wenn Sie können, schlafen Sie ein wenig in Ihrer Ecke! Ich will versuchen, einen Schlitten zu bekommen. Auf Wiedersehen!«

»Einen Schlitten? Wohin denn?« Aber Hansine war müde von all der Unruhe und dem Wind und der Kälte, sie druselte wirklich ein bißchen. Plötzlich fuhr sie zusammen, Hamm stand wieder vor ihr. »Ach! Ich hab' nur drei Minuten …«

Seine Augen lachten. »Ich fürchtete schon, Sie würden sehr ungeduldig werden; ich war dreiviertel Stunden fort. Aber wenn Sie nun kommen wollen, der Schlitten steht vor der Tür, allerdings nur ein derber Bauernschlitten, aber umso haltbarer ist er. Decken sind auch drin und ein Wagenmantel von der Frau Wirtin. Wenn es Ihnen also gefällig ist …«

Es war Hansine gefällig, obgleich sie noch gar nicht wußte, wohin denn die Fahrt gehen sollte. Sie hatte aber das unbedingte Vertrauen zu Hamm, daß er irgendwo ein Nachtquartier wissen und sie irgendwie dahin bringen werde. So ließ sie sich den dicken Wagenmantel anziehen, Decken umwickeln, die Füße in einen Fußsack verstauen, und als nur noch ihre Nasenspitze aus all den Hüllen sah, fragte sie vergnügt: »Und wohin reisen wir nun?«

»Zunächst mit dem Schlitten nach Wilster zurück. Da sind wir, wie der Kutscher meint, in einer kleinen Stunde. Von da geht um halb acht ein Zug nach Itzehoe und von Itzehoe um neun einer nach Neumünster. In Neumünster wartet ein andrer Schlitten, denn ich habe mit Fredenskoog telephoniert, und dieser zweite Schlitten fährt Sie just in die Arme Ihrer Schwester. Es wird zwar Mitternacht werden, ehe Sie in Ihr Bett kommen; dafür steht das dann aber auch in einem warmen Zimmer, und Sie sollen alles so behaglich wie möglich haben.«

»Ach!« sagte Hansine nur, aber in der kleinen Silbe lag so viel Zufriedenheit, daß Gerds Herz einen kleinen Tanz vollführte.

Eine Weile flogen sie, ohne zu sprechen, durch das schweigende Land, und nur der Wind hatte das Wort. Wurde es ihm zu langweilig? Er ließ nach in seiner Wut, heulte wohl noch um die Ecken der Häuser und die Mauern der Kirchen, aber er brüllte nicht mehr wie ein rasend gewordenes Ungeheuer; als sei ihm endlich auch das Heulen zuwider, ließ er die Flügel sinken, murrte nur noch, griff einmal wieder empor in die Wolken, riß ein paar Schneewehen herab, stieß dann die Wolken weg und legte sich zum Schlafen auf die Flut. Droben wurde der junge Mond sichtbar, stand wie eine zarte Silberschale im tiefen Blau des Nachthimmels und ließ klingenden Frost niedersinken auf die Erde. Der Frost ging mit seinen glatten Sohlen über die schwarzen Wasser. Da vergaßen die das Kräuseln und Wogen, lagen wie ein Spiegel und spürten eine Erstarrung sich auf sie legen wie ein Stahlgewand.

Hansine steckte die Nasenspitze ein bißchen weiter aus ihren Hüllen und sagte vor sich hin: »Aber die Eltern, was denken die?«

»Ich habe versucht, auch nach Brarup und dem Möwenhof Anschluß zu bekommen, aber der Sturm mußte dort noch wilder sein als bei uns; er raste so in den Drähten, daß kein Wort zu verstehen war. Sie werden aber in Brarup auf der Station, sobald Verbindung möglich ist, erfahren, daß unser Zug im Schnee steckt, und da Ihre Eltern wissen, daß ich bei Ihnen bin, werden sie sich nicht sorgen.«

Hansine lachte hellauf. »Sie nehmen also an, daß meine Eltern großes Vertrauen zu Ihnen haben?«

»Ich nehme es nicht nur an, ich weiß, Ihre Eltern sind überzeugt, daß ich mich lieber in Stücke reißen lassen würde, als Ihnen ein Leid geschehen zu lassen. Ihre Eltern wissen auch, daß es Sie nur ein Wort kostet, dann haben sie – ich meine wieder Ihre Eltern – zu dem kleinen Sohn noch einen großen. Wollen Sie das kleine Wort nicht sprechen, Hansine?«

»Ja, nun sitz' ich hier fest eingeschnürt, nun bin ich hilflos wie ein Wickelkind, und …«

»Ja, nun müssen Sie mich geduldig anhören, nur fünf Minuten lang. Sehen Sie, damals auf der alten ›Nikoline‹ da gefielen Sie mir schon so sehr gut, wie Sie bei all dem Ungemach nicht jammerten und klagten wie andre Frauen, sondern lachten und das ganze Unbehagen als guten Spaß nahmen. Solch einen Kameraden wünschte ich mir schon immer. In Hamburg führte ich darum das Wiedersehen im Gewerbemuseum mit voller Absicht herbei. Ihre Selbständigkeit konnte mich nicht erschrecken, denn ich bin kein Mensch, der für das Weiche und Hilflose ist. Ich will einmal in meiner Frau nicht nur ein Hätschelpüppchen, sondern meinen ersten und besten Freund; neben mir soll sie stehen, nicht unter mir. Hand in Hand und Schulter an Schulter wollen wir den Lebenskampf bestehen.« Er schwieg für einen Augenblick. Wartete er auf eine Antwort?

Hansine saß und rührte sich nicht, nur das Läuten der Schlittenglocken klang durch die Dunkelheit. Aber die läuteten so lustig und hell, daß Hamm heiter wieder begann: »Und wie Sie wissen, war ich einmal nach Brarup gefahren zu Ihren Eltern, und die hatten mir gestattet, Ihnen und Ihren Schwestern in der großen Stadt als Vetter nahezustehen. Das hab' ich Ihnen damals gesagt, die Hauptsache habe ich aber verschwiegen; ich wagte vorläufig noch nicht, sie auszusprechen. Ihre Eltern hatten mir auch erlaubt, mich um Sie zu bewerben, Hansine. Sie wollten mich als Sohn annehmen, wenn es Ihnen einmal gefallen würde, nur ein ganz klein wenig von Ihrer Selbstherrlichkeit fallen zu lassen und einen andern Menschen neben sich zu dulden.«

»Ich soll wohl dulden, da ich so eingepackt bin?«

»Und wenn Sie wieder ausgepackt sind? Wir sind gleich wieder in Wilster, Hans, man sieht schon die Lichter. Wollen Sie nun immer der Hans bleiben, oder willst du meine geliebte Hansine werden?«

»Ach, Hans bleiben! Sie haben sich da auf dem Möwenhof ja schon einen neuen kleinen Hans hingesetzt.«

»Also …«

Die Lichter von Wilster kamen förmlich herangeflogen, und es blieb Hansine nicht viel Zeit zur Antwort. »Nein« hatte sie aber sicher nicht gelautet, denn als Hamm sie vor dem Bahnhof aus ihren Decken und Mänteln wickelte, strahlte sein Gesicht so, daß sie fragte: »Du hast wohl schon heute deine Weihnachten bekommen?«

»Die schönsten und besten in meinem ganzen Leben.«


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