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Elftes Kapitel.
Schwesternpflichten

Hansine hatte sehr recht geraten: Engel war mit allen Gedanken daheim. In dem Saal des großen Kinderpavillons einer der ersten Hamburger Krankenanstalten hatte nachmittags ein Baum gebrannt. Väter und Mütter waren zwischen den weißen Bettchen herumgegangen und hatten gelächelt oder heimlich geweint, und in den Betten hatten kleine Gesellen gesessen und gelegen und zum Lichterbaum geschaut, dessen Kerzen unzählige Sterne in den braunen und blauen Augen entzündeten.

Dann hatten die Angehörigen gehen müssen. Der Baum war verlöscht, die Pflegerinnen, die tagsüber die Schwestern unterstützten, waren mit einem »Fröhliche Weihnachten!« gegangen, und nur die Oberschwester mit den drei jungen Dienstschwestern wanderte noch hin und her im Saal und in die Stuben am Flur, glättete die Bettchen, fütterte die kleinen Schreihälse und sah bisweilen auf ihre Helferinnen, die an diesem Abend alle so auffallend schweigsam waren. Als sie an Engel Möwke vorbeikam und fragte: »Schwester Engel, hat die Scholle ihre Flasche ausgetrunken?« bekam sie die überraschende Antwort: »Ja, mit Mandeln und Sukkade,« denn Engel war in Gedanken bei den braunen Pfefferkuchen zu Hause, die niemand an der ganzen Küste so wunderbar zu backen verstand wie ihre Mutter.

»Träumen Sie, Schwester Engel? Seit wann bekommt die Scholle Mandeln und Sukkade in die Flasche?«

Engel fuhr zusammen, lachte auf, und dann besann sie sich. »Ja, Oberschwester, sie hat ausgetrunken und wollte dann die Flasche entzweiwerfen; ich konnte gerade noch zugreifen.«

Vom Saalende kam ein zorniges Schreien. Marianne Scholle, ein fast dreijähriges Kind, in allen Dingen aber noch so weit zurück wie eins von neun Monaten, hatte sich am Bettrand in die Höhe gearbeitet, hing mit den Armen über die Lehne und gellte laute Schreie in den Saal. »Nun fängt sie wieder an,« sagte Engel verzweifelt. »Sie will den kleinen Hampelmann haben, den Lieschen Seidelmann von ihren Eltern bekommen hat. Immer angelt sie nach deren Bett hinüber.« Sie lief an das Saalende und packte das schreiende Kind unter die Decke. »Sei doch nicht solch ein Zornnickel, Marianne! So, nun schläft das Kind! Wenn die Beine jetzt noch länger strampeln, gibt es einen Klaps!« Aber die Scholle strampelte und schrie unentwegt, und Engel hatte ihre Not.

Nichts Anstrengenderes als dieser Kinderpavillon. Wenn Besucher kamen und durch die Glastüren in den Zimmern all die reizenden, weißen Korbständer mit den Mullvorhängen und den blauen und rosa Schleifchen sahen, in denen die Allerkleinsten lagen, und im Saal die vierzig schneeweißen Bettchen erblickten mit den etwas größeren Kindern und die weißlackierten Möbel und die Tische mit den Glasplatten und die Badewannen, die wie Silber funkelten, und die Rosensträuße oben an den Ecken der hellgestrichenen Wände, dann sagten sie begeistert zu den Schwestern: »O wie ist es hier entzückend! Ist es nicht wundervoll, hier zu wirken und zu pflegen? Nein, das muß ja ein Genuß sein, hier Schwester zu sein!«

Und die Schwestern lächelten ihr höflich-verbindliches Lächeln und sagten: »O ja, gewiß!« und die Besucher gingen mit dem Gefühl, beneidenswerte Geschöpfe zurückzulassen. Aber nur wer einmal sechs Monate in solchem Pavillon pflegte, wußte, was für Anforderungen an Geduld und Kraft gestellt wurden, wie die Nerven zuletzt rebellierten und doch nicht rebellieren durften.

Nun war es nach acht Uhr. Alle andern Schwestern waren auf ihren Stationen in den eigenen Zimmern oder im großen Schwesternhaus, wo ihrer zweihundert wohnten, und alle gähnten aus Herzensgrund und freuten sich, ausspannen zu dürfen bis zum andern Tag. Nur die Nachtwachen gingen in die Räume, wo sie die Nacht auf einem Brettstuhl sitzen mußten, immer munter und auf dem Posten. Aber die Säuglingschwestern dachten noch nicht an Schluß ihres Tagewerkes. Es konnte neun werden und zehn, bis die ganze Schar versorgt war. Da war der lahme Ernst, der immer gerade gegen Abend die häßlichen Krämpfe bekam, da war die kleine Hendritje, die alle zwei Stunden bis abends um zehn hin ihre drei Strich Schleimsuppe, auf den Grad genau gewärmt, bekommen mußte, weil der kleine Magen zurzeit nur so wenig aufnahm. Da war die arme Lisabeth, die einen häßlichen Juckausschlag hatte und leise wimmernd dalag ohne Schlaf. Da war noch so viel, so viel zu bedenken, und zuletzt war da die Scholle, die, wenn glücklich alles sich beruhigt hatte, plötzlich mit hellem Geschrei den ganzen Saal wieder munter machte.

Was die Nerven aber am meisten angriff, war die Hitze im Raum, denn es waren immer sechzehn bis siebzehn Grad, und das will etwas heißen für Menschen, die dauernd in Bewegung sind. Und dann, wenn die Nächte kamen, wo man Nachtwache tun mußte, wo die Augen brannten vor Müdigkeit und der Rücken schmerzte und die Füße nicht stillstehen wollten, sondern immer unruhiger wurden, je weiter die Nacht vorschritt …

Ja, Schwester sein ist kein leichter Beruf. Die schimmernde Vergoldung, die ihn für junge Gemüter wie ein Heiligenschein umgibt, die schwindet schnell genug im harten Tagewerk, und was bleibt, das ist Arbeit, Mühe, ungeduldige Kranke, scheltende Oberschwestern, Ärzte, die annehmen, daß das Wort Müdigkeit im Sprachschatz einer Schwester nicht verzeichnet ist, und – ja, trotz allem eine große innere Befriedigung, wenn es einmal gelungen ist, im Kampf von Leben und Tod dem Leben zum Siege zu verhelfen.

Es war halb zehn Uhr, als Engel Möwke, ein dickes graues Tuch um die Schultern geschlagen, mit schnellen Schritten durch die Wege des großen Parks zum Schwesternhaus lief. Unten in der Halle brannten noch die Bäume, und ein Dutzend Schwestern saß lesend und Briefe schreibend an den Tischen und um den Kamin. Die meisten waren auf ihr Zimmer gegangen, packten aus, was von daheim gekommen war, und träumten von ferner Kinderzeit, als sie noch nichts wußten von all dem Elend, das ihnen jetzt täglich Brot war.

»Sie kommen spät, Schwester Engel,« sagte Lene Bröker, stand auf und ging mit Engel zur Treppe und hinauf in das gemeinsame Zimmerchen. »Es ist Post für Sie gekommen, eine große Kiste. Ich hab' schon ein Stemmeisen besorgt, damit Sie schnell öffnen können.«

»Sie sind ein guter Geist, Lene. Ja, bei uns war große Unruhe. Der brennende Baum und die vielen Besucher und die Geschenke, das hatte die kleine Gesellschaft ganz wild gemacht. Meine Hendritje lag da wie ein Weihnachtsengelein, so süß und still, aber die Scholle machte Lärm für sieben. Ach, Lene, ich muß immer denken, ist das nun das rechte, daß wir solch ein kleines Jammerwesen, körperlich und geistig gleich wenig entwicklungsfähig, dabei schon boshaft und eigenwillig, daß wir das lebensfähig machen mit unendlicher Liebe und Aufopferung? Nur zu einem Leben der Not machen wir es fähig, nur zu einer Last für andre, nur zu einer Qual für die Geschwister; denn die Mutter ist tot und der Vater trinkt. – Wie das Kind vor fünf Wochen kam, dachten wir, es käme, um bei uns in Frieden zu sterben; jetzt lebt es und wird leben. Wozu?«

»Wir dürfen nicht fragen, wozu, Schwester Engel. Wir sind nur Schwestern und haben zu tun, was die Ärzte und Vorgesetzten für richtig halten, was unser Beruf uns vorschreibt; das dürfen Sie nie vergessen.«

»Was wir zu tun haben, weiß ich, Lene. Aber das Denken, das kann keiner vorschreiben. Das kommt und geht.«

»Ich will Ihnen was sagen, liebe Engel. Sie fragten mich einmal, warum ich Schwester geworden sei, und waren entsetzt, daß ich sagte: ›Ja, ich habe zu nichts recht Talent, und das ist ein Brot so gut wie ein andres.‹ Und Sie sagten damals so vor sich hin – ich hab' es nicht vergessen können: ›Ich bin aus Liebe Schwester geworden.‹ Das ist mir immer nachgegangen. Etwas davon habe ich – ich kann sagen: Gott sei dafür gedankt! – jetzt auch in mir, und ich hoffe, es soll immer mehr werden. Und aus Liebe haben Sie das Jammerwurm gepflegt und erhalten, das sollte Ihnen doch genügen.«

»Wenn aber meine Liebe ihm später nur Not schafft, ihm und andern? Ist es dann nicht eine falsche Liebe?«

Lene Bröker sah nachdenklich vor sich hin. »Liebe, das ist wie Sonne. Die Sonne weckt auch zum Leben und fragt nicht, was aus den Blüten und Wesen wird. Und wir danken ihr doch alle. – Sie müssen nicht so viel grübeln, Schwester Engel.«

Sie standen, während sie sprachen, auf dem Absatz der breiten Treppe, die sich in zwei auseinanderstrebenden und wieder vereinigenden Stufenreihen bis zum vierten Stock des großen Hauses hob. Draußen fiel das Licht einer Bogenlampe in den Park, und weiß von Reif schimmerten die langen Alleen. Aus den niedrigen Krankenpavillonen fiel gedämpftes Licht. Fernher klang dumpfes Brausen, der nie endende Lärm der großen Stadt.

»Kommen Sie!« sagte Lene Bröker und faßte die Gefährtin um; »es wird Zeit, Ihre Kiste zu öffnen. Sie sieht so aus, als wenn viel Liebe drin verborgen wäre. Ein bißchen Engelhaar hängt sogar zwischen Deckel und Kistenrand hervor. Die Kiste hat sicher eine Mutterhand gepackt.«

Sie gingen in ihr Stübchen, und schwankend zwischen Lachen und Schluchzen kramte das Kind vom Duvenhof seine Weihnachtsgaben aus.


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